Der abkippende falsche Neuner
Nicht nur bei der derzeitigen Europameisterschaft zu beobachten: Es hat sich längst eine eigene Sprache des Fußballs herausgebildet. Aber ihre Auswüchse stoßen bei weitem nicht überall auf Begeisterung.
Von Rudi Bartlitz
Irgendwann vor ein paar Jahren war es plötzlich hipp, als Fußball-Kenner von einer „diametral abkippenden Acht“ zu philosophieren. Bei einer Sachdebatte am Tresen dieses linguistische Meisterstück scheinbar cool eingeworfen, hieß nichts anderes als: Der Mann hat richtig Ahnung. Ein Insider. Ein Kenner, zweifellos.
Berichte über Fußball stellen, in diesen Tagen der Europameisterschaft wieder einmal besonders gut zu beobachten, ohnehin etwas Spezielles dar. Das Reporter-Regal ist reichlich bestückt. Versatzstücke, wohin man blickt. Nur einige zur Verfügung stehende Begriffe: Zielspieler (bekannt auch als Wandspieler), Schienenspieler, invasive Außen, flache Fünfer, diametrale Sechser, falsche Neuner, abkippende Zehner, hängende Spitzen. Auf Taktiktafeln werden sie wie Schachfiguren hin und her geschoben. Zu diesem Zickzack aus Zahlen war Leon Goretzka in der „Süddeutschen Zeitung“ für den FC Bayern ein „Box-to-Box-Achter“, Thomas Müller ein „Acht-Ein-Halber.“
Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Zum Beispiel bei Ex-Bayern-Coach Thomas Tuchel. Unvergessen, wie der Trainer vergangene Saison in seinem Fazit zu einer Niederlage des FC Bayern in Bochum für Verwirrung sorgte: Im Fernsehen bewertete er das 2:3 mit Hinweisen auf „Murphy’s Law“, „Expected Goals“ und einem „xG-Wert von 3,4”. Was das zu bedeuten hatte für die Pleite seiner Elf, das verstanden außer Tuchel nur wenige. Genauso wenig wie den von ihm aus dem Englischen herübergeholten Begriff der „Holding six“. Da wurde sogar Macht-Zampano Uli Hoeneß ganz schwindelig. „Was mich nervt, ist, dass heutzutage jeder über Systeme spricht“, klagte er, „früher bin ich zum Fußball gegangen und habe geschaut, wer gewonnen hat. Heute quatscht jeder mit, über die flache Vier, die Doppel-Sechs, die Raute. Die meisten, die so klug daherreden, würden sich die Hände brechen, wenn sie taktische Systeme aufzeichnen müssten.”
Auf die Spitze trieb es wohl der ehemalige Nürnberger Trainer Robert Klauß nach einer Niederlage gegen St. Pauli. „Die Antwort fällt mir jetzt schwer, weil ich den Matchplan erkannt habe“, hatten ihn die „Nürnberger Nachrichten“ zitiert. „Wir sind mit einem 4-2-2-2 auf Pressing eins gegen eins angelaufen und wollten nach Ballgewinn über den ballfernen Zehner umschalten. Wir sind dann im Ballbesitz in eine Dreier-Kette abgekippt mit dem asymmetrischen Linksverteidiger und dem breitziehenden linken Zehner, so dass wir 3-4-3 respektive 3-1-5-1 – je nachdem, wo sich Nikola Dovedan aufgehalten hat – gekippt sind. Erkennbar war’s. Aber wir haben das einfach schlecht umgesetzt”: Macht nichts, jetzt kann es Klauß bei Rapid Wien ja besser machen. Dort läuft das dann vielleicht unter Wiener Schmäh.
Es ließe sich ja zuweilen noch über so manche verbalen Querschläger hinwegsehen, handelte es sich um Fachdebatten, ausgetragen in Fachzeitschriften. Oder um einen Diskurs auf Trainer-Tagungen. Worum es hier aber geht: All dies wird heute einer (staunenden, oft verwirrten) Öffentlichkeit mit größter Selbstverständlichkeit vorgetragen. In Abwandlung einer alten Marx-These über den Sozialismus könnte man meinen, es komme nicht nur darauf an, einfach schönen Fußball zu spielen, sondern ihn auch wie eine Wissenschaft zu betreiben.
„Da werden Leitsätze zu Leid-Sätzen“, merkte Autor Wolfgang Uhrig jüngst im Fachorgan „Sportjournalist“ gerade an, „wenn auf Lehren die Leere folgt: kastrierte Sätze, Stammel-Deutsch wie ,Neu-er hat Rücken´, ,Kimmich muss Holding Six´, ,Laimer gibt den rechten Verteidiger´. Oder kurz und knapp in BILD zur Bedeutung eines Überfliegers: ,Klopp, der Alleiner´“. Eine Sprache der verlorenen Worte – für die Publizistin Elvira Grözinger eine „Verhunzung des Deutschen, das kommt für mich fast einer Körperverletzung gleich”. Und als der Humorist Vicco von Bülow zum „Sprachwahrer des Jahres 2011” ausgerufen worden war, meinte der Loriot-Erfinder in seiner Dankesrede: „Wir sind auf dem Weg, unser wichtigstes Kommunikationsmittel so zu vereinfachen, wonach es in einigen Generationen genügen wird, sich grunzend zu verständigen.“
Seit Jahren bemühen sich Verteidiger der deutschen Sprache, diesem, aus ihrer Sicht, Irrweg ein Ende zu setzen. Wie es scheint, mit minimalem Erfolg. Was wir hingegen sehen ist ein Spiel im Wandel der Worte. Denn genauso wie sich das Geschehen auf dem Rasen im Laufe der Jahrzehnte radikal veränderte (Stichworte: Tempo, Technik, Taktik) – wer´s partout nicht glauben will, schaue sich einmal das WM-Endspiel 1954 zwischen Deutschland und Ungarn in voller Länge an – so veränderte sich auch die Fußballsprache. Ob zu ihrem Vorteil, sei einmal dahingestellt. Richtiggehend wohltuend erscheinen heute Sprüche aus der Kicker-Urzeit, die längst ins deutsche Kulturgut eingegangen sind wie: „Der Ball ist rund und das Spiel dauert immer 90 Minuten“, „Das nächste Spiel ist das schwerste“, „Elf Freunde müsst ihr sein“ (alle Alt-Bundestrainer Sepp Herberger), „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“ (Adi Preißler) oder „Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister!“ (Radioreporter Herbert Zimmermann).
Seit langem hat sich auch die Linguistik der Sache angenommen. Einer der führenden Köpfe hierzulande ist Prof. Simon Meier-Vierecker von der Uni Dresden. Sein Forschungsfeld umfasst weit mehr als „Schwalben” und „Blutgrätschen”. Er beschäftigt sich mit der Veränderung unserer Sprache insgesamt und stellt sich Fragen wie: „Ist das schon Sprachwandel oder einfach nur falsch?”, „Grinsen uns Emojis die Sprache weg?” oder „Wie wird mit Sprache Politik gemacht?“
Material für die Forschung gibt es genug: Rund 10 Prozent der Texte in deutschen Tageszeitungen, fanden Statistiker heraus, beschäftigen sich mit Fußball. „Über 180 verschiedene Verben allein für das Schießen konnten bereits in Fußball-Livetickern ausfindig gemacht werden. Und es kommen immer neue dazu“, sagt Meier-Vierecker. Über keine Sportart werde so ausführlich geschrieben und gesprochen. Längst habe sich eine eigene Fußballsprache herausgebildet. Darin finde man neben Fachterminologie auch Ausdrücke, die im Fußball-Kontext eine ganz eigene Bedeutung haben, zum Beispiel die Schwalbe – also der Versuch, ein Foul vorzutäuschen.
Aber es sind ja nicht nur die Print-Journalisten, die sich seit Jahr und Tag das Lächeln oder gar den Zorn der Sprach-Erzieher zuziehen. Die Fernsehsender und ihre Reporter hauen häufig in dieselbe Kerbe. Und besser wird es scheinbar auch nicht, wenn die TV-Anstalten bei ihren Experten in regional angehauchte Slangs wechseln. So wie bei Bastian Schweinsteiger. Der in Bayern beheimatete ARD-Experte sei, witzelte „Welt“-Humorist Hans Zippert dieser Tage, „extrem schwer zu verstehen, seine Äußerungen klingen rein akustisch schon ziemlich dumpf, es wäre sicher kein Fehler, ihn zu untertiteln. Andererseits wüsste man dann genau, was er redet und das wäre fatal. Es macht ja gerade den Charme von Schweinsteiger aus, dass man zwar ahnt, dass er über Fußball spricht, aber gleichzeitig vermittelt er einem das Gefühl, man müsse ihm nicht unbedingt zuhören, er selber tut es ja auch nicht.“
Da Stillstand in der Medienwelt allemal ein Fremdwort ist, wird vor allem auf den Fernsehkanälen seit einiger Zeit eine Weiterentwicklung zelebriert. Da geht es nicht mehr so sehr um einzelne Worte, flapsige Formulierungen oder originelle Sprachbilder. Es kommt eine neue Erzählebene hinzu. „Die Inszenierung hat sich geändert“, schrieb dazu der „Spiegel“. Das tritt besonders bei Expertenrunden zu tage, mittlerweile unverzichtbarer Bestandteil nahezu jeder Übertragung. Aus dem rein aufs sportliche Geschehen begrenzten „eloquenten Kammerspiel“, wie es einst das Duo Netzer und Delling aufführte, sei eine Inszenierung geworden, die eine „auffällige Offenheit und Durchlässigkeit“ kennzeichne. Anders gesagt: Das Private, das Unterhaltsame gewinnt in den Gesprächen immer mehr Raum. So wie in der ARD bei Esther Sedlaczek und Schweinsteiger. Sie gestalten, befand das Magazin, ihre „Auftritte dezidiert als Performance“. Einige Beobachter wollen sogar ein erotisches Knistern zwischen beiden wahrgenommen haben. Aber mit diesem Thema wären Sprachforscher sicher überfordert.
Nr. 259 vom 10. Juli 2024, Seite 22/23
Veranstaltungen im mach|werk
be-swingt trifft auf LIVIN’ BLUE
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Sari Schorr – Unbreakable Tour
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Kopf & Kragen mit Hans-Eckardt Wenzel (ausverkauft)
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Indijana & The Bandits
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Die Ukrainiens – Eastern Speedfolk on Tour
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Schwarze Grütze: „Endstation Pfanne – was bleibt ist eine Gänsehaut!“
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Zwischen den Fronten: Eine Friedenslesung
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
KOMPAKT Salon mit Ralf Schuler: Meinungsmacht und Medien
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
No Sugar Mamas
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg











