Imagination der Realität

Politische Debatten und manche gesellschaftliche Entwicklung zeigen uns inzwischen wie weit sich Vorstellungen von der Realität entfernt haben. Der Versuch einer theoretischen Analyse über die Entfremdung vom tatsächlichen Geschehen.

Von Thomas Wischnewski

Bundeskanzler Olaf Scholz ist als Regierungschef verantwortlich für die politischen Leitlinien. In den vergangenen Jahren verkürzte sich die Politik der Regierung auf immer neue superlative Begriffe. Von „Bazooka“, „Doppel-Wumms“ und „Wachstumsturbo“ war da die Rede. Blickt man auf die Fakten, die seine Sprech-akte und Schulden als deklarierte Sondervermögen hervorbrachten, fällt die Bilanz düster aus. Die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr ist weit entfernt von den Versprechungen. Beispielsweise gibt es technische Probleme mit neuen Aufklärungssatelliten. Deren vollständiger Betrieb ist seit Monaten nicht möglich. Andere Ausrüstung fehlt oder kommt nur schleppend. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen erreichte in Deutschland das höchste Niveau seit fast zehn Jahren. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform registrierte für das erste Halbjahr rund 11.000 Unternehmensinsolvenzen, was einem Anstieg von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Der Scholzsche „Wachstumsturbo“ scheitert offenbar an der Energiepolitik und einseitig, teils ideologisch orientierter Förderung. Zudem sinkt das Sicherheitsgefühl unter den Deutschen, weil sich tödliche und lebensbedrohliche Angriffe durch sogenannte Gefährder in den vergangenen Wochen häuften.

 

 

„Wir schaffen das“ theoretisch

 

Warum driften politische Verkündigungen und reale Entwicklungen so oft auseinander? Nehmen wir das Sicherheitsgefühl. Als 2015 Menschen nach Deutschland strömten, begegnete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Geschehen mit dem Satz: „Wir schaffen das!“ Drei Worte erklären natürlich gar nichts über’s Schaffen. Vielleicht steckte das Kalkül hinter der Aussage, dass die Migration wieder auf ein geordnetes Maß zurückgehen würde. Der Zustrom blieb jedoch hoch. Die Konflikte im arabischen und afrikanischen Raum blieben jedoch ohne Lösung und Deutschland schaffte Anreize aufgrund seiner hohen sozialen Standards. Dann kam der Krieg in die Ukraine und noch einmal kamen rund eine Million Menschen. „Wir schaffen das“ inkarniert nicht nur, dass all diese Menschen Geld für den Lebensunterhalt benötigen, sie brauchen außerdem Wohnraum, Beschulung von Kindern, Betreuungsangebote, Sprachkurse und letztlich Arbeit, um sich tatsächlich auf einen Weg in die Integration zu machen. Nicht zu vergessen ist der Bedarf an Personal für die Sachbearbeitung für Bürgergeld, Aufenthalts- und Asylanspruchsprüfung. Als fiele das alles vom Himmel, wenn Angela Merkel die Schaffenskraft der deutschen Gesellschaft beschworen hatte. Letztlich beanspruchen die Erwerbstätigen jedoch mehr Freizeit, mehr Teilzeitarbeitsmodelle und Homeoffice-Arbeitsmodelle. Woher ein zusätzliches Schaffen hätte kommen können, bleibt das Geheimnis politischer Vorstellungskraft.

 

Politische Reden sind zunächst nur Sprechakte über Annahmen. In der Regel werden die Grundlagen für Manuskripte, die in Parlamenten oder bei anderen Gelegenheiten verlesen werden, durch sogenannte wissenschaftliche Mitarbeiter oder Fachreferenten erzeugt. Diese Klientel ist häufig jung, kommt ziemlich frisch aus der akademischen Ausbildung – wobei heute oftmals nur ein dreijähriges Bachelor-Studium vorliegt – und sammelt die Einsichten auf vorliegenden statistischen Daten bzw. Theoriekonzepten. Die Annahme über die „gute“ politische Botschaft fußt auf kaum praktische Erfahrung und hauptsächlich auf angeeigneten Überzeugungen.

 

Diese Mechanismen wirken jedoch an vielen Stellen der Gesellschaft. Der deutsche Bürokratieapparat wächst. Immer mehr exekutive Schreibtischarbeit, die auf allgemeine Normen baut, steuert individuelle Lebenswirklichkeit. Der Überbau – wie Karl Marx das über der Basis stehende Steuerungskonstrukt nannte – ist derart erdrückend, dass die praktischen Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft weiter gelähmt werden. Wenn politisch die Spaltung der Gesellschaft beklagt wird, muss dieser wachsende Aspekt theoretischer Lebenssteuerung einbezogen werden. Und die Apparate, die politischen, die bürokratischen, die Forschungsinstitute, die ihr sozialwissenschaftliches Stethoskop an den Puls des Landes halten und die Interpretationskraft aller Akteure, inklusive des Universitäts- und Hochschulpersonals, zusammengenommen, schafft eine noch nie dagewesene theoretische Blase, die sich über die Wirklichkeit legt. Die Aushandlung dieser Imagination der Welt wird außerdem durch die Virtualität und die Massenverbreitung von Kommunikationsverkürzung im Internet befeuert.

 

„Nach wie vor verbringen die Deutschen viel Zeit im Internet: Durchschnittlich sind sie 69 Stunden pro Woche online. Obwohl dies einen leichten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr (71 Stunden) darstellt, sind es immer noch der zweithöchste Wert seit Beginn der Erhebung und etwa 13 Stunden mehr als im Corona-Jahr 2020. Digital Natives surfen sogar durchschnittlich 85 Stunden pro Woche, während Digital Immigrants (Personen ab 40) das Internet etwa 62 Stunden pro Woche nutzen.“ Diese Erhebung veröffentlichte jüngst die Plattform „ingenieur.de“, die vom VDI Verlag unterhalten wird. Eine Woche hat gerade einmal 168 Stunden. Es ist also zu vermuten, dass unsere Vorstellungen von der Lebensrealität mehr und mehr in verkürzten Debattenräumen stattfinden. Überhaupt regt sich auf den Social-Media-Kanälen nichts anderes als Sprachaustausch. Die Realität, die daraus erwächst, mündet vorrangiger in Energiebedarf als in soziales Handeln füreinander. Entsprechend bedeutungslos sind die Debatten, die online geführt werden. Zurück zur Zuwanderungsproblematik: Es begegnen sich landauf landab theoretische Vorstellungen über gelingende Migration mit deren Gegnerschaft. Beide Seiten verengen die Argumentation und reduzieren letztlich jede Aushandlung darüber in gegenseitige Ablehnung. Wieviel Zeit könnten alle Akteure in Begegnung mit Migranten, in Zeit für tatsächliche Integrationsmomente investieren, wenn sie sich nicht ständig nur theoretisch fetzen würden. Selbst die Vertreter einer geglaubten leichtfüßig gelingenden Eingliederung anderer kultureller Vorstellungen verhindern diese selbst, weil sie vorrangig an ihren Bildschirmen kleben.

 

 

Körper sind keine Sprechakte

 

Eine weitere Entwicklung schürt möglicherweise die Entfernung von Vorstellung und Wirklichkeit: Vielfalt bzw. Diversität sind die Schlagworte der Stunde. Der deutsche Philosoph Philipp Hübl bezeichnet, was hier passiert, als „Moralspektakel“. „Ein solches liege immer dann vor, ‚wenn es in der moralischen Auseinandersetzung nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht. Der Philosoph und Publizist glaubt, dass dies in den vergangenen Jahren immer häufiger der Fall gewesen ist‘, heißt es dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Die individuellen Interessen driften derart auseinander, dass gesellschaftliche Vorstellungen von Gemeinschaft leiden. Was als positive Erscheinung angesehen wird, birgt Spaltungstendenzen. Jede Seite, die einer anderen ihre Konzepte und Unterstützungen vorhält, definiert die ablehnende Haltung als Gegnerschaft. Körperlichkeit ist zum reinen Sprechakt mutiert. Dass dahinter ein nach wie vor nicht vollständig verstandener komplexer Prozess im Zusammenwirken von biologischen Voraussetzungen, Plastizitätspotenzialen des Hirns unter vielschichtiger Wechselwirkung mit Sexualität und Umwelteinflüssen steht, wird gern ausgeblendet. Die Aushandlungen politischer Ansprüche von Minderheiten bauen vorrangig auf ein theoretisches Konstrukt. Allein, dass sich eine Person im „falschen“ Körper befinden würde, ist ein Hinweis darauf, dass der Geist etwas in sein biologisches Fundament illusionieren kann. Das soll hier gar nicht kritisiert werden. Denn dies ist zunächst ein Beleg dafür, zu welchen fantastischen Möglichkeiten der Mensch fähig ist. Aber diese geistige Leistungsfähigkeit trifft dennoch permanent auf die Lebenswirklichkeit vieler anderer. Weil eine Selbsterfahrung auf der Seite Letzterer fehlt, kann man sie nicht durch politische, ideologische oder gar wissenschaftlich untersetzte herbeidozieren.

 

Wer eine Radikalisierung der Gesellschaft beklagt, muss auch den Anteil des Wirkens angeblicher fortschrittlicher, positiver Vorstellung in die Betrachtung einbeziehen. So wie individuell sexuelle Vorstellungen nicht aus dem Nichts entstehen, finden Ablehnung derer bzw. sogenannte populistische Bewegungen ihren Nährboden in den Proklamationen einer angeblichen Moralerhöhung. Auch hier bleibt letztlich alles nur Argumentation, die gegenseitig wenig mit dem Leben der jeweils anderen zu tun hat.

 

Inzwischen greifen Künstliche Intelligenz (KI) und deren mathematische Sprachmodelle in die Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft ein. Die Anzahl der Individuen, die solche technischen Leistungen nutzen werden, wird in kurzer Zeit zunehmen. Andreas Mundt, Chef des Bundeskartellamts sendet Warnsignal in Richtung der großen Tech-Konzerne aus: „Bislang habe es für die Verbraucher in der Onlinewelt noch ‚Gatekeeper‘ gegeben. Große Techkonzerne agierten zwar ‚Torwächter‘ – ‚doch es gab immerhin noch ein Tor, durch das Sie gehen konnten‘, sagte Mundt. Damit meint er zum Beispiel, dass eine Google-Suche weiterführende Links zu einer Information liefert, mit deren Hilfe Nutzer im zweiten Schritt selbst die Information überprüfen können. ‚In der KI-Welt gibt es nur noch ein in sich geschlossenes System, keinen Gatekeeper mehr.‘ Deshalb bezeichnete Mundt KI als ‚Brandbeschleuniger‘, den man sich sehr genau ansehen müsse“ (FAZ vom 22. Juni 2024).

 

Welche Auswirkungen ein verstärkter Einsatz digitaler Endgeräte hat, kann man inzwischen an Bildungsergebnissen in Schulen oder an verminderten Fähigkeiten bei Kindern, selbst zu musizieren, zu singen oder sich vielseitig sportlich zu betätigen, ablesen. Dennoch bleiben Forderungen nach fortschreitender Digitalisierung im Lernbetrieb Schule bestehen. Wir benutzen heute Geräte wie das Smartphone, ohne nur die geringste Ahnung davon zu haben, wie es im Innern und in seiner Wechselwirkung mit Mobilfunk, Internet, Cloud-Systemen und sonstigen Anwendungen funktioniert. Geschweige denn, dass nur verschwindend wenige Fachleute in der Lage wären, einen solchen Apparat zu reparieren oder zu bauen.

 

Der Blick auf die Bilderwelt, der sich Menschen heute auf ihren Computerendgeräten aussetzen, entfernt sie von wirklichen Eindrücken. Die Mehrzahl jeder digitalen Veröffentlichung ist eine Inszenierung, die Realität ausblendet, Zusammenhänge abschneidet und am Ende gar nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Die wachsende Nutzung von Virtualität ist wiederum ein Hinweis, welche informelle Saugkraft für Reize unser Gehirn aufbringen kann. Es verführt uns dazu, permanent ein Geschehen zu beobachten, das mit einer Verknüpfung zur eigenen Lebensrealität nichts gemein hat. Aber das Hirn kann offenbar aufgrund seines energetischen Informationshungers nicht anders und macht uns glauben, wir könnten etwas verpassen. Unter diesem enormen Potenzial der Verbindungen zwischen künstlich erzeugter und weniger realen Welt entsagen Menschen zunehmend ihrer unmittelbaren Alltagswirklichkeit. Als Fazit lässt sich – auch das ist wiederum nur graue Theorie – ableiten, dass wir in noch intensivere theoretische Aushandlungsaktionen verfallen. Und egal, welche Technologie diesen wachsenden virtuellen Theorieraum für uns ordnen oder überschaubar machen sollte, unter dem Strich bleibt nichts anderes als eine Entfernung von der Wirklichkeit, und das ist bitterer Ernst.

Nr. 259 vom 10. Juli 2024, Seite 4/5

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