KOMPAKT ZEITUNG: Großes Aufatmen, dass die Fußball-Europameisterschaft endlich vorüber ist? Dass sich der Blick nun auf Olympia richtet, das hierzulande in den zurückliegenden Wochen in der großen Öffentlichkeit kaum jemand so richtig auf dem Zettel hatte?
Helmut Kurrat: Ja, medial habe ich das jedenfalls in den zurückliegenden Tagen so wahrgenommen, dass jetzt ein Blickwechsel stattfindet, nun ein anderes Großereignis in Europa vor uns steht. Wenn natürlich bei uns im Olympiastützpunkt Paris jederzeit im Vordergrund der Arbeit stand.
Zumal es diesmal Spiele sind, die nicht, wie 2021 in Tokio, von Corona überschattet waren und fast ausschließlich vor leeren Rängen stattfanden.
Es freut mich vor allem für die sogenannten Randsportarten, die hochverdient im Fokus der medialen Öffentlichkeit stehen werden. Auch solche mit einem exotischen Charakter wie beispielsweise Bogenschießen. Oder auch traditionelle Sportarten wie Ringen und Boxen, die sonst im Verlaufe eines Jahres kaum auftauchen. Oder Kanu-Rennsport, wie wird der denn wahrgenommen? Es handelt sich nach wie vor um die erfolgreichste olympische Sportart in Deutschland. Sie hat selten eine mediale Aufmerksamkeit – außer eben bei Olympia. Ich freue mich darauf, dass der Zuschauer dabei mit den modernsten technischen Mitteln, wie beispielsweise Drohnen, die Spannung und Dynamik dieser Wettkämpfe miterleben kann.
Vor gut einem halben Jahr hatten sie die Prognose geäußert, dass Sachsen-Anhalt in Paris durch zwölf bis 15 Athleten vertreten sein könnte. Jetzt, nach der Nominierung, zeigt sich, dass sie gar nicht so schlecht lagen.
Ich freue mich sehr darüber, dass es am Ende sogar 18 Sportler sind, die sich für das deutsche Olympiateam qualifiziert haben. Insgesamt sind wir in neun Sportarten vertreten. Hinzu kommen noch vier Aktive, die sich für die nach Olympia stattfindenden Paralympics durchgesetzt haben. Bei den Paris-Fahrern muss man vielleicht zusätzlich erklären, die Gruppe setzt sich aus 14 Männern und Frauen zusammen, die für Vereine in Sachsen-Anhalt starten. Zusätzlich gehört auch Basketballerin Romy Bär dazu, die ab der Saison 2024/25 das Trikot der MBC/Gisa Lions Halle trägt. Hinzu kommen drei Athleten, die an einem Stützpunkt in unserem Bundesland trainieren.
Um wen handelt es sich bei Letzteren?
Um Turner Lukas Dauser (TSV Unterhaching), Schwimmerin Nina Holt (SG Mönchengladbach) und Schwimmer Oliver Klemet (SG Frankfurt). Andererseits trainieren wiederum Ringer Erik Thiele (KAV Mansfeld), Judoka Miriam Butgereit (SV Halle) und Ruderer Max Appel (SC Magdeburg) an Bundesstützpunkten in Frankfurt/Oder, Hannover und Hamburg/Ratzeburg.
Gewissensfrage: Wäre, was die reine Zahl der Paris-Starter betrifft, mehr möglich gewesen? Zumal in den einstigen Sachsen-Anhalt-Paradesportarten wie Kanu – niemand qualifiziert – und Leichtathletik – nur Diskuswerfer Henrik Janssen konnte sich durchsetzen – mehr hätte möglich sein müssen.
Natürlich hatten wir die Erwartung, dass beispielsweise Kanu nach einer langen Durststrecke wieder liefert. Aber zuletzt lagen die Hoffnungen nur noch auf Moritz Florstedt, der zwar zur erweiterten deutschen Spitze zählt, aber zur absoluten Weltspitze fehlt es noch. Enttäuschend auch das Abschneiden der Leichtathletik, wo nur ein Athlet in Paris dabei ist. Unsere Erwartungen lagen höher.
Haben Sie schon Gründe dafür ermittelt?
Ein Grund bei den Leichtathleten liegt beispielsweise darin, dass die Kandidatenbreite einfach nicht sehr groß war. Meist reduziert es sich auf eine Kandidatin oder einen Kandidaten, auf die oder den sich dann alle Hoffnungen konzentrieren. Bei sieben oder acht Sportlern sähe es schon ganz anders aus, einer würde dann sicher stechen.
Dem gegenüber stehen die Schwimmer, die in Paris allein mit vier Sportlern vom SCM (Florian Wellbrock, Lukas Märtens, Isabel Gose, Leonie Märtens) und einer Athletin vom SV Halle (Laura Riedemann) vertreten sind.
Sie liefern überdurchschnittlich durch die überaus starke Trainingsgruppe um Bernd Berkhahn. Sieht man es rein rational, bringen sie es von unseren vier Schwerpunktsportarten Kanu, Rudern, Leichtathletik und eben Schwimmen auf sieben Paris-Starter, die anderen mit Janssen und Ruderer Max Appel zusammen nur auf zwei.
Vielleicht noch ein Wort zu den Handballern.
Es freut mich als früherer Handballer natürlich sehr, dass es mit Lukas Mertens und Tim Hornke zwei vom SCM ins Team geschafft haben. Sehr respektabel. Das ist mehr, als ursprünglich eventuell zu erwarten war. Sie haben sich ihre Nominierung mit konstanten Leistungen verdient.
Ein Blick auf die olympischen Sportarten zeigt, dass sich die Konkurrenzsituation international immer mehr zuspitzt und das deutsche Team, das zuletzt nur noch auf Rang neun der Medaillenwertung gelandet war, es in Paris schwer haben wird, seine Position zu verbessern.
Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es wahrscheinlich schwer wird, das Tokio-Ergebnis noch einmal zu erreichen. Optimistisch gesehen könnte es ein Konsolidierungsjahr werden. Auch im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) geht man davon aus, dass es frühestens 2032 in Brisbane wieder einen spürbaren Aufschwung geben könnte. Heute ist es doch so, dass beispielweise im Rudern und Kanu für die Medaillen 25 bis 30 Nationen in Frage kommen. Früher waren es in diesen Sportarten höchstens zehn bis 14.
Was machen denn jene Länder besser, die vor uns liegen. Beispielsweise Großbritannien, Frankreich und die Niederlande?
Ich werfe jetzt einmal zwei Begriffe in die Debatte: Sie haben es geschafft, in ihren Schwerpunktdisziplinen Nachhaltigkeit hineinzubekommen, und sie setzen auf einen hohen Konzentrationsprozess. Diese Dinge sind bei uns noch nicht in der nötigen Balance. Wir versuchen eben noch, mit dem föderalen System das Optimum herauszuholen.
Wo liegen weitere Reserven im deutschen Sport?
Zum einen das Stützpunktsystem zu qualifizieren. Die größte Herausforderung sehe ich jedoch darin, dem deutschen Sport eine gesunde Basis für die Herausbildung von qualifiziertem Trainernachwuchs zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen endlich die gesellschaftliche und sozialversicherungstechnische Anerkennung des Trainerberufs in Deutschland. Und was wir ebenso dringend brauchen, ist eine Experten-Hochschule oder Universität, wo die für den Hochleistungssport nötige Forschung und Lehre gebündelt sind.
Wir möchten Sie ungern aus dem Interview entlassen, ohne nach ihrem Medaillentipp für Sachsen-Anhalt gefragt zu haben.
Na gut, wenn es denn sein soll. Ich setze auf zwei bis drei Medaillen.
Und wo?
Da kommen in erster Linie natürlich die Schwimmer in Frage; bei Namen will ich mich nicht festlegen. Auf ihnen ruhen einfach unsere größten Hoffnungen. Und vielleicht, wenn er seine Verletzung voll auskuriert hat, auf Barren-Weltmeister Lukas Dauser.
Fragen: Rudi Bartlitz