Stadtmensch, die letzte Kolumne
Lars Johansen über das Verschwinden
Vor kurzem ist mir noch einmal die Vergänglichkeit von redaktionellen Inhalten drastisch bewusst geworden. Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, dass Paramount, eigentlich eine Filmproduktionsgesellschaft, die Rechte an MTV, dem ehemals großen Musiksender, erworben hatte. Ich bin nicht mit MTV groß geworden, aber der Sender hat zusammen mit VH1 mein popkulturelles Gedächtnis mitgeprägt. Und nun hat Paramount die gesamten redaktionellen Beiträge von MTV einfach gelöscht. Die Internetseiten, auf denen diese Inhalte zu finden waren, sind komplett verschwunden. Interviews und Berichte über Musik, die natürlich eine Bedeutung für die Popmusikgeschichte der letzten 40 Jahre haben, sind damit nicht mehr verfügbar. Die Autoren und ehemaligen Redakteure haben, als sie davon erfuhren, natürlich protestiert, aber da war es eben schon zu spät. Wenn es nicht irgendjemand damals aufgezeichnet hat, ist das alles unwiederbringlich verloren.
Ist das wirklich so schlimm oder gar existenziell, werden Sie jetzt möglicherweise fragen. Und die Antwort fällt zwiespältig aus, denn die Frage ist schwer zu beantworten. Möglicherweise ist dieser Vorgang tatsächlich nebensächlich und die Inhalte mögen auf den ersten Blick nicht relevant erscheinen. Aber das ist nur die eine Seite. Zerbrochene Steintafeln mit eingeritzten Schriftzeichen darauf, bei denen es um den Handel mit Schafen vor dreitausend Jahren geht, mögen über keine aktuelle Relevanz verfügen, aber als Dokumente unserer Geschichte sind sie tatsächlich unersetzlich, denn sie haben uns etwas zu erzählen. Und das gilt in gleichem Maße für Interviews mit Prince oder Madonna, welche für die zukünftige Forschung über bestimmte Abschnitte der zeitgenössischen Musikgeschichte eine ähnliche Bedeutung haben könnten. Sie müssen sie nicht haben, aber es ist nicht an uns, das zu bestimmen.
Rettungslos verloren
Noch weniger ist es an den Mitarbeitern von Paramount, die, ohne weitere Expertisen einzuholen, einfach so eine weitreichende Entscheidung getroffen haben. Es wirft aber auch ein Licht auf den allgemeinen Umgang mit zeitgenössischer Kultur. Diese ist manchmal ziemlich schnelllebig und wird auf Medien aufgezeichnet, die vergänglich sind. Steintafeln oder Höhlenmalereien mögen hunderttausende von Jahren überleben, Filme, Fernsehsendungen oder Videoclips werden das nicht. Schon jetzt ist ein großer Teil der deutschen Filmgeschichte rettungslos verloren. Die Filmdosen mit Nitratfilm sind verrottet, weil kein Geld da ist, sie zu retten. Was vor 100 Jahren im Kino zu sehen war, ist heute nur in wenigen Restmengen noch verfügbar, die Lücken sind größer als die Bestände. Werbefilme aus der Zeit zum Beispiel sind fast vollständig fort. Ist das ein echter Verlust? Ja, denn gerade diese geben Auskunft über den Alltag unserer Vorfahren. Um die Literatur der Goethezeit wirklich zu verstehen, muss man nicht nur den „Faust“ gelesen haben, sondern auch den damals populäreren „Rinaldo Rinaldini“, welchen Goethes Schwager Vulpius verfasst hatte. Erst dann kann man erfassen, was von mehr Menschen gelesen wurde und daher möglicherweise bei den Zeitgenossen größeren Einfluss hatte. Und nur dann versteht man Geschichte wirklich.
Speichern kostet
Wir gehen davon aus, dass alles, was zurzeit digital verfügbar ist, auch in Zukunft verfügbar sein wird. Das Beispiel mit MTV zeigt, dass dem nicht so ist. Denn wer die digitalen Inhalte besitzt, kann mit ihnen tun, was ihm beliebt, wenn er nicht gegen geltendes Recht verstößt. Das bedeutet, dass es keine Garantien für einen sicheren Erhalt digitaler Inhalte gibt. Ein Film, den Sie bei einem Streamingdienst kaufen, gehört Ihnen, obwohl Sie für ihn bezahlt haben, nur so lange, solange der Dienst die Rechte daran hält. Ändern sich die Gegebenheiten, erlischt Ihr Anspruch. Fernsehsendungen der 60er und 70er-Jahre sind jetzt schon nur noch in Teilen verfügbar. Speichern verursacht Unkosten, vor allem weil die Speichermedien wechseln und permanent umkopiert werden müssen. Videokassetten sind heute kaum noch abspielbar. Und Systeme, die damals neben VHS bestanden, wie beispielsweise Betamax, können überhaupt nicht mehr wiedergegeben werden, weil es nur noch eine verschwindend kleine Anzahl funktionierender Abspielgeräte gibt.
Wer vermag zu sagen, ob die verlorenen Inhalte wirklich relevant sind? War es den Menschen vor 3.000 Jahren klar, dass ihre in Stein geritzten Abrechnungen einmal in Museen landen würden und Grundlagen für die Forschung über ihre Zeit darstellen? Natürlich nicht, denn erst in der Rückschau lässt sich sagen, was wirklich von Bedeutung ist. Und so stellt jegliches Verschwinden kultureller Äußerungen von Menschen einen unersetzlichen Verlust dar. Unsere Zeit kann dann in der Zukunft weniger gut verstanden werden. Vielleicht ist sie es auch nicht wert, erinnert zu werden. Aber das können wir nicht entscheiden. Und darum müssen wir achtsamer mit unserer Alltagskultur umgehen. Und das Urteil über sie zukünftigen Generationen überlassen.
Abschied vom Stadtmensch
Und was das Verschwinden betrifft: Vor fünf Jahren habe ich begonnen, den „Stadtmenschen“ hier regelmäßig zu schreiben, und ich hätte nie gedacht, dass es einmal über einhundert Kolumnen werden würden. Diese sind es nun und es ist an der Zeit, sich an anderen Dingen zu probieren. Die Welt hat sich verändert und das ist weder an mir noch an dieser Zeitung spurlos vorbeigegangen. Es war mir eine Freude, hier dabei gewesen zu sein, aber es wurde zuletzt zeitlich immer schwerer, meine diversen Aktivitäten zu koordinieren. Und so schreibe ich jetzt schweren Herzens und zugleich auch ein wenig erleichtert noch einmal meine kleine Kolumne, bevor sie verschwindet. In diesem Sinne: Tschüss.
Nr. 260 vom 23. Juli 2024, Seite 7
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