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Wenn der Sommer
die Seuche brachte

Kein Pilz hat so viele Facetten wie das Mutterkorn. Als unerkannte Ursache war er die Geisel der Armen und zugleich auch Geburtshelfer. Er löste Hexenprogrome aus und wurde zur Muse von Künstlern.

 

Von Prof. Dr. Peter Schönfeld

 

Gemessen an den heutigen Verhältnissen war die Lebenserwartung der Menschen im Mittelalter mit 35 bis 40 Jahren kurz. Erst nach dem Beginn der Industrialisierung in Europa am Ende des 18. Jhdt. begannen die Menschen allmählich länger zu leben. Ursachen für das kurze Leben gab es viele, wie die mangelnde öffentlich Hygiene, unausgewogene Ernährung, Hungersnöte, die unterentwickelte ärztlicher Heilkunst, das Ausgeliefertsein gegenüber marodierenden Landsknechten und die hohe Kindersterblichkeit. Zusätzlich verkürzten Seuchen, wie Pest und Cholera, das Leben. Mit der durch Kolumbus angestoßenen frühen Globalisierung kamen fremde Krankheitserreger nach Europa, gegen die das Immunsystem keine Waffen hatte. Die einzige Antwort auf die Attacken der Erreger war die Quarantäne, eine Schutzmaßnahme, deren Name seine Wurzel im italienischen quaranta hat. Um sicher zu gehen, dass kein Infizierter zum Landgang kam, wurden von Übersee kommende Schiffsmannschaften und Handelsleute für 40 Tage in eigens dafür errichtete Lazarette untergebracht.


An einer Seuche, die Antoniusfeuer genannt wurde und eine Massenvergiftung war, hatte jedoch nur das Wetter Schuld. Zu dieser kam es immer dann, wenn das Jahr mit einem feuchten Frühjahr begann. Dann wurde das Getreide, besonders der Roggen, von der schwarzen, schlauchähnlichen Dauerform (Sklerotium) des Mutterkornpilzes (Claviceps purpurea) infiziert. Für den Namen des Pilzes gibt es zwei Deutungen. Die Kornmutter ist in der nordeuropäischen Mythologie der Schutzdämon des Getreides und einer guten Ernte. Wenn die Menschen das Wogen der Kornfelder sahen und zusätzlich in den Ähren die schwarzen Körner entdeckten, dann war das für sie das Zeichen für die Anwesenheit der Kornmutter. Der Name Mutterkorn könnte aber auch von seiner Wirkung als Geburtshelfer stammen, denn mittelalterliche Hebammen benutzten es um schwache Wehen zu verstärkten.  

 

Gift im Mehl

 

Ausgelöst wurde das Antoniusfeuer, wenn das Roggenmehl stark mit Mutterkorn kontaminiert war. Zu dieser Einsicht gelangten französische Ärzte aber erst im 17. Jhdt. Überraschenderweise ist von den Schriften über das Römische Weltreich keine derartige Seuche bekannt. Die gab es möglicherweise nicht, weil die Römer aus Weizen hergestelltes weißes Brot bevorzugten. Die Seuche trat auf, nachdem der Roggen seinen Weg vom Nahen Osten nach Westeuropa gefunden hatte. Slawen schätzten den Roggen wegen seiner Toleranz gegenüber Nässe, Trockenheit, Kälte und seines Wachstums auf minderwertigen Böden. Nach dem Einfall der Hunnen in Osteuropa flohen die Slawen nach Westen und von dort sind gut dokumentierte Berichte über das Antoniusfeuer vom Ende des ersten Jahrtausends n. Chr. überliefert. Im Jahre 994 kam es zu einer solchen auf dem heutigen Gebiet von Frankreich mit mindesten 40000 Todesopfern. Meistens waren die Opfer die Armen. Im Verständnis der Menschen des Mittelalters waren Arme größere Sünder als die Wohlhabenden, die als „bessere“ Menschen galten. Deshalb sah man in der Seuche auch eine Strafe Gottes. Die „Nichtsünder“ wurden aber aus einem sehr irdischen Grund verschont.  Roggenbrot war für die Armen das Hauptnahrungsmittel, wogegen die Wohlhabenden überwiegend von teurem Weizenbrot und Fleisch lebten.


Noch im letzten Jahrhundert kam es zu Massenvergiftungen in der Sowjetunion (1926/1927) sowie in Indien und Äthiopien (1975/1978/2001). Heute wird der Getreidebefall durch Mutterkorn mit dem Einsatz von Fungiziden und verschiedenen feldhygienischen Maßnahmen vermindert. Außerdem trennen die in den Getreidemühlen eingesetzten Farbscanner die dunklen Mutterkörner fast vollständig ab. Trotzdem verbleibt ein Restgefahrenpotenzial und deswegen wurden am 1. Juli 2024 die Grenzwerte für den Sklerotiengehalt im Getreide nochmals abgesenkt. Anders verhält es sich bei der Weidetierhaltung, denn der Pilz lebt auch in einer symbiotischen Gemeinschaft mit Futtergräsern, wodurch es zu Tiervergiftungen kommen kann.

 

Das Antoniusfeuer

 

Die Vergiftung wird durch Inhaltsstoffe des Mutterkorns, die Alkaloiden, ausgelöst. Das sind stickstoffhaltige Stoffe (wie das Ergotamin), die mit dem Wasser, ähnlich den Alkalimetallen, eine alkalische Reaktion eingehen und dabei den pH-Wert erhöhen. Das ist aber nicht die Ursache für die Giftigkeit. Es ist vielmehr die fatale Vorliebe der Alkaloide sich an zelluläre Rezeptoren für körpereigene Botenstoffe anzuheften und so ähnliche physiologische Wirkungen auszulösen. Serotonin ist ein solcher Botenstoff und ein Glückshormon zugleich, denn es schützt uns vor dem Abgleiten in die Depression.


Serotonin verdankt sein Vorkommen im Körper der Biochemie einer Aminosäure (Tryptophan) und zum großen Teil bestimmten Bakterien im Dickdarm. Es wurde nach seinem Auffindungsort im Blutserum und seiner zuerst entdeckten Wirkung, den Spannungszustand (Tonus) der Blutgefäße zu erhöhen, benannt. Immer dann, wenn wir uns verletzen, versammeln sich Blutplättchen an der Wunde und setzen dort Serotonin aus ihrem Inneren frei. Dieses erzwingt dann, dass sich die glatten Muskelzellen auf der Oberfläche des Blutgefäßes verkürzen und so den Blutfluss vermindern, womit die Blutstillung eingeleitet wird. Ergotamin hat die gleiche Wirkung, ist aber nicht in Zellen eingesperrt und entfaltet seine Wirkung ohne einen Anlass. Es blockiert die Durchblutung der Gewebe und bringt so diesen den nekrotischen Tod.


Eine schwere Vergiftung mit mutterkorn-kontaminiertem Mehl hat verheerende Folgen für den Betroffenen. Ähnlich dem an römischen Torbögen oft zu sehenden zweigesichtigen Januskopf, tritt die Vergiftung als Brandseuche und Krampfseuche (Kriebelkrankheit) auf. Bei der brandigen Vergiftung (Gangrän) stirbt das Gewebe ab. Finger, Hände oder Füße verfärben sich dunkel und fallen dann oft von allein ab. Wenn der Betroffene Glück hatte, lebte er als Krüppel weiter. Einen Eindruck von diesem Leiden hat uns vor 500 Jahren Matthias Grünewald mit dem Isenheimer Altar (der im Museum Unterlinden in Colmar zu sehen ist) überliefert. Dort ist ein Erkrankter abgebildet, dessen Körper vom brandigen Gangrän gezeichnet ist. (im Bild unten links)


Heute wird das Antoniusfeuer wegen der Giftwirkung der im Mutterkorn enthaltenen Ergotalkaloide als Ergotismus bezeichnet. Wie kam es aber zu dem ursprünglichen Namen der Seuche, Antoniusfeuer? Naheliegend ist, dass die (brand) schwarzen Glieder und die brennenden Schmerzen an Feuerverletzungen erinnert haben. Außerdem erbaten die Menschen Hilfe vom heiligen Antonius für die bestraften Sünder. Dieser 251 n. Chr. (?) in Ägypten geborene, eremitisch-lebende Wüstenheilige sollte im Besitz von speziellen Kräften gegen Feuer, Infektionen und Epilepsie sein. Aufgrund dieser Expertise wurde ein mit seinem Namen benannter Spitalorden gegründet. Die Antonitermönche betreuten ausschließlich die Leidenden. Im 15. Jhdt. geschah das europaweit in rund 370 Spitälern. Behandelt wurden Kranke mit einem aus entzündungshemmenden und wundheilenden Heilkräutern hergestellten Balsam. Außerdem erhielten sie den Antoniuswein, Schweinefleisch und Weizenbrot. Nach dem Verständnis eines heutigen, renommierten Kenners des Ordens war der Wein das wichtigste Heilmittel, weil er harntreibende, gefäßerweiternde und schmerzstillende Essenzen enthielt. Zur Entfaltung seiner heilenden Wirkung musste der Wein allerdings noch mit einem Armknochen vom Skelett des Antonius in Berührung kommen.

 

Hexenwahn durch Halluzinationen

 

Bei der Krampfseuche werden die Nerven angegriffen. Krampfattacken, Tobsuchtsanfälle und Ameisenkribbeln in den Gliedern sind dann die Folge (Ergotismus convulsivus). Zusätzlich werden die Gehirne zu Halluzinationen und Wahnvorstellungen verführt. Da wird dann von einem auf den anderen Tag aus der doch immer so freundlich erlebten Nachbarin eine bösartige Hexe. So kam es auch zu Hexenprogromen, wie es in dem Film „Die Hexen von Salem“ thematisiert wurde. Das Drehbuch basiert auf einer Anklage in Massachusetts (1692), die 172 Menschen der Hexerei beschuldigte und in deren Verlauf 19 von diesen hingerichtet wurden. Arthur Miller, herausragender amerikanischer Dramatiker im letzten Jahrhundert und dritter Ehemann von Marylin Monroe, nahm das Geschehen zum Anlass, mit dem Theaterstück „Hexenjagd“ die nach dem Zweiten Weltkrieg von dem republikanischen Senator McCarthy losgetretene Jagd auf amerikanische Kommunisten zu kritisieren. Für den direkten Zusammenhang zwischen den Hexenverfolgungen und Brotvergiftungen spricht, dass erstere oft in den Jahren ausbrachen, in denen das Wetter den Befall des Getreides mit Mutterkorn begünstigte. Auch plötzlich auftretende Revolten scheinen so erklärbar zu sein. In Frankreich kam es 1789 kurz nach dem relativ harmlos verlaufenen Sturm auf das Pariser Stadtgefängnis (Bastille) zu einem mehrwöchigen, spontanen Aufruhr in der Bauerschaft im ganzen Land (Grande Peur). Auslöser für die Große Angst war ein Gerücht, wonach der Landadel mit angeworbenen räuberischen Banden die Revolution ersticken wollte. Die Opfer des bäuerlichen Aufbegehrens waren viele Schlösser von Landadeligen. Heute löst kein Mutterkorn mehr den Hexenwahn aus, aber trotzdem gibt’s es den wieder. Die neuen Hexen sind die Methoden der „Grünen Gentechnik“, allerdings nur in den reichen Ländern mit dem Lebensmittelüberfluss.

 

Mutterkorn als Muse der Kunst

 

In den 1960er Jahren führte ein chemisch-veränderter Baustein des Mutterkorns zu enormen Impulsen in der Kunst, besonders in der Malerei, aber auch in der nordamerikanischen Gesellschaft insgesamt. Wie kam es dazu? Es war bekannt, dass die Inhaltsstoffe des Mutterkorns unterschiedliche Wirkungen auf körpereigene Schaltzentralen besitzen. Mit verschiedenen Arzneistoffen wurden Blutungen, niedriger Blutdruck, Migräne und gynäkologische Erkrankungen erfolgreich behandelt. Diese pharmakologischen Eigenschaften der Mutterkornalkaloide hatten bei den Chemikern das Interesse an deren Strukturen und danach am Nachbau im Reagenzglas geweckt. Mit einem modifizierten Inhaltsstoff, dem Bromocriptin, wurde sogar Arzneistoffgeschichte geschrieben. Als „Doppelgänger“ des Signalstoffs Dopamin, oder weniger blumig ausgedrückt, als Agonist seiner D2-Rezeptoren kann dieser als Mittel gegen Parkinson, Akromegalie oder zur Hemmung der Sekretion des Prolactins eingesetzt werden.


Ein Mitarbeiter des Schweizer Sandoz-Unternehmens, Albert Hofmann, der vor wenigen Jahren als 102-Jähriger gestorben ist, hatte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg das „Muttermolekül“ der Mutterkorn-Alkaloide, die Lysergsäure, isoliert. Von dieser war ein synthetisches „Kind“ das Lysergsäurediäthylamid, welches in der weltweiten Drogenszene unter dem Kürzel LSD bald große Popularität erlangen sollte. Ein Selbstversuch mit LSD löste bei Hoffman langandauernde Halluzinationen aus. Das Erlebte muss man sich nach seiner Niederschrift etwa so vorstellen: Man guckt in ein Kaleidoskop und sieht grellfarbene, bizarre Bilder, die einander jagen. Eine solche Wirkung auf die menschliche Psyche hat das Interesse an einer psychiatrischen Verwendung des LSD für die Behandlung von schweren Depressionen und posttraumatischen Verletzungen neu entfacht. Aber auch Künstler versprachen sich neue Impulse vom LSD. So wurde es zum Wegbereiter der psychedelischen Kunst, einer Stilrichtung, deren Kunstwerke unter dem Einfluss von bewusstseinserweiternden Drogen (Psychedelika) geschaffen werden. Wegen dieser Wirkung wurde LSD von der Hippie-Kultur schnell vereinnahmt. Die Geisteshaltung dieser in den 1960er Jahren in den USA entstandenen Jugendbewegung lässt sich mit Naturverbundenheit, Konsumkritik und Widerspruch gegen die vorherrschenden Lebens- und Moralvorstellungen beschreiben. Hippies (abgeleitet vom englischen „hip“ = angesagt oder zeitgemäß) hatten sich das Ziel gesetzt, eine friedlichere und humanere Welt zu gestalten. Die Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg war ein besonders verdienstvoller Höhepunkt der Hippie-Bewegung. Folgerichtig propagierte diese: „Make love, not war“. Später zerfaserte die Hippie-Bewegung. Aus ihr gingen u. a. die Punks (punk = wertloses, wie faulendes Holz) hervor.


Wenn heute der Beatles-Hit, „Lucy in the sky with diamonds“ angespielt wird, dann werden wir eingeladen zu einer Kurzreise in das Lebensgefühl dieser Zeit. 

Nr. 260 vom 23. Juli 2024, Seite 16

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