Zerbricht die NATO,
wird nuklear gerüstet
Der Präsidentschaftskandidat Donald Trump macht kein Hehl daraus, dass US-Schutzgarantien, wie sie seit Gründung der NATO existieren, automatisch fortbestehen würden. „America first“ heißt für ihn, gemeinsame westliche Interessen gibt es nur, wenn das auch amerikanische sind. Sicherheitspolitisch verändert sich die Welt ohnehin. Ein nukleares Wettrüsten könnte künftig von mehreren Staaten angefacht werden.
Von Prof. Dr. Markus Karp
Seit Atomwaffen existieren, träumen Menschen von ihrer Ächtung und ihrem letztlichen Verschwinden. Das beschränkt sich nicht auf machtferne Idealisten oder Kommunalpolitiker, die in einem alljährlichen Ritual als „Mayors for peace“ die Fahne für eine atomwaffenfreie Welt hissen. Der Wunsch wird sogar von jenen formuliert, deren militärisches Rückgrat die atomare Bewaffnung ist. Barack Obama, welcher als US-Präsident über das zweitgrößte und modernste Kernwaffenarsenal der Welt gebieten konnte, strebte zumindest rhetorisch das Ziel von „Global Zero“, einem Planeten ganz ohne diese schrecklichste aller Waffen, an.
So befinden wir uns in einer paradoxen Situation: Eine Höllenmaschine, von welcher fast jeder politische Akteur beteuert, es solle sie am besten gar nicht geben, findet sich in immer mehr Arsenalen. In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem die internationalen Parias, die nach Atomwaffen gestrebt haben. Irak, Iran, Libyen, Nordkorea, Syrien sind dafür Beispiele. Das liegt nicht daran, dass dies nun einmal Dinge sind, die Schurkenstaaten eben tun. Vielmehr ist die Bombe Risikolebensversicherung jener Staaten, die sich bedroht fühlen müssen und, ob nun selbstverschuldet oder nicht, über kein verlässliches Bündnissystem verfügen. Sie ist die latente Drohung, den Gegner, gegen den man keine Aussicht auf einen konventionellen militärischen Sieg hat, zwar nicht besiegen, aber mit in den Untergang reißen zu können.
Die Schutzgarantien der USA
So wird die Atombombe die Alternative zum demokratischen Frieden. Die Formulierung und Beobachtung des sogenannten demokratischen Friedens, welche auf eine lange geistesgeschichtliche Linie zurückblicken kann, trägt der Tatsache Rechnung, dass Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen. Das bedeutet aber auch: Wo sich nicht zwei Demokratien gegenüberstehen, hilft nur militärische Abschreckung. Die gelingt am stärksten mit Atomwaffen, was aber nicht zwingend mit dem Besitz eigener Atomwaffen gleichzusetzen ist. Denn die demokratischen Nuklearmächte, allen voran der militärische Gigant USA, haben den ganzen Westen unter ihren Schutzschirm genommen. Der war ein ganzes goldenes, transatlantisches Zeitalter hindurch verlässlich: Selbst in Zeiten, als sich USA und Europa in einem regelrechten Handelskrieg befanden, gab es in der NATO keinen Zweifel an den Schutzgarantien der Vereinigten Staaten. So kam es auf dem Gipfel des kalten Krieges zum „Chicken War“, in welchem sich die transatlantischen Partner unter anderem mit Schutzzöllen für Brathähnchen und Pick Ups überzogen. Trotzdem führte das nicht zu Zweifeln an der Beistandsklausel der NATO. Selbst beim epischen Streit um den NATO-Doppelbeschluss ging es im Kern um die Frage, wie viele amerikanische Nuklearwaffen in Deutschland höchstens vorhanden sein sollten. Heute erscheint das als ein geradezu unwirklicher politischer Luxus.
Die bedrohten Staaten Ost- und Mitteleuropas hoffen inständig auf eine größtmögliche amerikanische Präsenz und zittern vor einem isolationistischen Rückzug der USA. Was aber wird die Folge sein, wenn der Glaube an das Schutzversprechen der USA bei Freund und Feind im Schwinden begriffen ist? Dann blieben allein eigene Atomwaffen als Absicherung gegen aggressive autoritäre Regime, die der regelbasierten Ordnung der internationalen Beziehungen eine Absage erteilen und auf brutale Machtpolitik alten Zuschnitts setzen.
Ein Mehr an Unsicherheit
Dass die Furcht vor einem solchen Überfall keine irrationale Angst ist, beweist die Ukraine. Das gebeutelte Land hatte Anfang der 90er gewaltige Mengen von Atomsprengköpfen in ihrem Rüstungsarsenal. Deren Freischaltcodes lagen zwar in Moskau. Es darf aber bezweifelt werden, dass sich keine Möglichkeiten gefunden hätten, diese Waffen in irgendeiner Weise nutzbar zu machen. Die Ukraine entschied sich aber für einen anderen Weg. Die Abgabe aller Kernwaffen gegen Sicherheitsgarantien von Groß- und Supermächten. Einen konsequenten Beistand der Garantiemächte hat es aber nicht gegeben, als die Ukraine zwei Jahrzehnte später überfallen wurde, weil eine alte Vormacht sich davon provoziert fühlte, dass das Land politisch eigene Wege gehen wollte. Die damit verbundene fatale Botschaft: Der Verzicht auf Atomwaffen bedeutet auch den Verzicht auf die völkerrechtlich zugesicherte Souveränität.
Die Folge eines erodierenden Glaubens an die Verlässlichkeit amerikanischer Schutzgarantien wird dementsprechend die Proliferation von Kernwaffen sein. Dass die Welt jedoch ein besserer Ort würde, wenn 30, 40 Staaten nuklear gerüstet wären, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Das Mehr an Sicherheit für den einzelnen Staat wird zu einem Mehr an Unsicherheit für die ganze Staatengemeinschaft. Denn dann sind die unvermeidlich eintretenden politische Krisen aller Art mit ungeheuren Eskalationsrisiken verbunden.
Handhabe gegen die Stärkeren
Was also kann getan werden? Die beste Variante wäre, bestehende Bündnissysteme zu retten, die zweitbeste, neue zu etablieren. Mit Hoffen auf günstige Wahlergebnisse in Übersee ist es jedenfalls nicht getan. Zum einen müssen sich die Europäer, allen voran die Bundespolitik, auch auf die amerikanische Sicht einlassen, selbst wenn diese noch so schrill und empörend vorgetragen wird. Der Vorwurf der Trittbrettfahrerei ist gerechtfertigt. Wer unter einen Schutzschirm möchte, darf sich bei dessen Aufspannen nicht drücken. Deutschland muss bereit sein, sich im gleichen Maße für die kollektive militärische Sicherheit zu engagieren, wie jene, von denen es Unterstützung erwartet. Im Grunde eine Binse, doch von allen deutschen Regierungen der letzten zwanzig Jahre kategorisch abgelehnt. Es geht auch nicht an, dass sich die Bundesrepublik von anderen Demokratien auf deren Kosten vor Regimen beschützen lassen will, denen sie selbst aus handelspolitischem Opportunismus den roten Teppich ausrollt. So würden Mehrausgaben für konventionelle Rüstung sowie der Verzicht darauf, dem Export andere außenpolitische Belange unterzuordnen, zu aktivem Einsatz zugunsten der Nichtverbreitung von Atomwaffen führen. Zum anderen gilt es, Europas eigene verteidigungspolitischen Strukturen zu verstärken. Dies ist bislang oft an nationalen Befindlichkeiten gescheitert. Auch Deutschland ist hier nicht unbedingt ein Musterknabe: Es kann zwar einerseits zurecht darauf verwiesen werden, dass beispielsweise die vormalige polnische Regierung alles dafür getan hat, eine verteidigungspolitische Zusammenarbeit zu hintertreiben. Andererseits aber hat sich im Berliner Politikbetrieb niemand bemüßigt gefühlt, ernsthaft die ausgestreckte Hand Macrons zu ergreifen, als dieser in seinem politischen Zenit stand. Weitreichende europäische Fortschritte wurden hier mutwillig, aus kleinlichen innenpolitischen Erwägungen heraus, verpasst. Das Militär war damals noch etwas, mit dem das politische Berlin besser nichts zu tun haben wollte. Dementsprechend unattraktiv war und ist Deutschland auf diesem Feld als europäischer Partner.
Gelingt es nicht, die bewährten Bündnissysteme zu bewahren, zu vertiefen und außerdem einen tragfähigen Ansatz im Umgang mit einer möglichen Trump-Vance-Administration zu finden, wird die Proliferation von Atomwaffen Fahrt aufnehmen. Denn wenn das transatlantische Bündnis zerfällt, werden viele nuklear rüsten, weil es in einer regellosen Welt keine andere Handhabe gegen das Recht des Stärkeren gibt. Bedrohte Länder werden sich in dieser Situation auf eigene Faust schützen wollen. Was ist dann eigentlich mit Deutschland?
Der Autor Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a. D.
Nr. 261 vom 6. August 2024, Seite 4
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