Brauchen wir
überhaupt noch Regeln?
Regeln gibt es überall und für alles Mögliche. Jetzt gibt es offensichtlich so viele Regeln, die sich dann Vorschriften, Gesetze, Verordnungen oder noch anders nennen, und diese dann in einer solchen Zahl, dass sich Wirtschaftskreise immer mehr über ausufernden Bürokratismus beschweren. Natürlich muss es Regeln geben, sonst funktioniert manches nicht. Auch in der Wirtschaft sollte es welche geben. Forderungen nach Deregulierung, also Abschaffung oder zumindest Verminderung der Regelungen, werden immer wieder von bestimmten Wirtschaftsbereichen und deren politischen Vertretern gestellt. „Der Markt wird es schon richten“, so die Devise. Bis es dann im Jahre 2008 zur großen Finanzkrise kam, weil eben der Börsenmarkt ziemlich stark dereguliert war.
Wir, aber, liebe Leserinnen und Leser, bewegen uns hier in einer Rubrik, in der es um unsere deutsche Sprache gehen soll. Da gibt es auch Regeln. Regeln zur Rechtschreibung und Zeichensetzung.
Rechtschreibung bedeutet Richtigschreibung. Kurios ist, dass es keine Regeln dafür gibt, wie ein einzelnes Wort geschrieben werden soll. Ich schreibe ‚Vater‘ mit dem Buchstaben ‚V‘, spreche dieses ‚v‘ aber so aus wie den Buchstaben ‚f‘ in dem Wort ‚fahren‘. ‚Wir fahren Boot‘; hier klingt dieses ‚Boot‘ genau wie ‚bot‘ in dem Satz ‚Er bot mir für das Auto 5.000 Euro‘. Wir könnten noch viele andere Beispiele bringen, die bezeugen, dass es tatsächlich keine logischen Regeln für die Richtigschreibung von Wörtern gibt. Weil dies so ist und auch vor über 150 Jahren so war, unternahm der Gymnasiallehrer Konrad Duden 1872 den ersten Versuch, möglichst viele Wörter zu sammeln und ihnen mit einem Kunstgriff eine Schreibweise aufzuerlegen, die dann für alle deutschsprachigen Menschen verbindlich sein sollte. Damit wollte er eine einheitliche Schreibweise in dem neuentstandenen deutschen Kaiserreich schaffen, denn bisher hatte jedes kleine Fürstentum in dem bisher nicht geeinten Deutschland seine so ziemlich eigene Rechtschreibung der Wörter. In weiteren Reformschritten wurde dann diese Schreibung in einem Wörterbuch, genannt der Duden, festgeschrieben und als verbindlich für die staatlichen Behörden und auch für die Schulen erklärt. Grundprinzip dabei schien zu sein, dass nicht die Aussprache eines Wortes entscheidend ist, sondern dass die Wörter sich in ihrer Schreibung voneinander unterscheiden. Und dieses Prinzip, so hat es jetzt, in unserer Gegenwart, den Anschein, wird aufgeweicht, es kommt immer wieder und immer mehr zu Abweichungen von den ursprünglich festgesetzten verbindlichen Rechtschreibungen der Wörter. Ganz abgesehen davon, dass die Schülerinnen und Schüler in den Grundschulklassen sich he-rumschlagen müssen, sich diese Rechtschreibung zu eigen zu machen. Und es scheint – leider –, dass der Erfolg, diese Rechtschreibung einigermaßen zu beherrschen, doch zum Teil ausbleibt. Und – wieder leider – sich mitunter auch später nicht einstellt.
Viele von uns haben einen Duden zu Hause oder auf der Arbeitsstelle. Den Duden als Sammlung von Wörtern, die eben so und nicht anders geschrieben werden sollen. Damit ist eine ganz wichtige Regel vorgegeben: So und nicht anders sollst du dieses oder jenes Wort schreiben. Also ganz klare Sache, ganz einfach. Aber wie ist es mit Getrennt- und Zusammenschreibung, wie ist es mit Groß- und Kleinschreibung? Doch nicht so einfach, doch nicht so klar. Wobei es in jedem Duden ausführliche Erläuterungen dazu gibt. Wenn Sie noch einen Duden aus DDR-Zeiten haben, dann finden Sie darin einen „Leitfaden der deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung mit Hinweisen auf grammatische Schwierigkeiten“, der rund hundert Seiten umfasst. In der letzten Duden-Ausgabe des wiedervereinten Deutschland (28. Auflage, Jahr 2020) gibt es einen Abriss der Regeln zur Rechtschreibung und Zeichensetzung, der als allgemein verständliche Darstellung der amtlichen Regeln tituliert wird und ebenfalls rund einhundert Seiten aufweist. Es ist aber ein Irrglauben, nun zu schlussfolgern, dass mit solchen Erläuterungen zur Rechtschreibung alle Probleme gelöst seien. Und seien Sie ehrlich, liebe Leserinnen und Leser, nutzen Sie diese rund einhundert Seiten mit den Hinweisen zur Rechtschreibung und Zeichensetzung? Und verstehen Sie alles, was da geschrieben steht? Und erscheint Ihnen manches dort widersprüchlich zu sein? Ein Problem ist, dass eine lebende Sprache beschrieben werden soll, die ständigen Einflüssen unterliegt. Hinzukommt, dass die Nutzer dieser Sprache auch nicht immer die elementaren Regeln für Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschen. Im dritten Bericht zur Lage der Deutschen Sprache von 2021, herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, steht geschrieben, dass sich der Fehlerquotient bei den Schülerinnen und Schülern von 1972 bis 2012 bei der Großschreibung verdreifacht hat. Die Rechtschreibreformen von 1996 und 2006 haben gezeigt, dass Regeln veränderlich sind, aber sie führten im Bewusstsein mancher Menschen dazu, dass jetzt mehr Willkür herrsche. Die Regeln zur Kommasetzung (Zeichensetzung) werden häufig so interpretiert, dass man das Komma so setzen könne, wie man möchte.
Ein anderer Grund könnte der Deutschunterricht in den Schulen sein. Gibt es nach der 4. Grundschulklasse noch so etwas wie Erklärungen und Erläuterungen zu Wortarten, Satzbau, Subjekt und Prädikat, adverbialen Bestimmungen usw.? Oder stehen inhaltliche und soziale Aspekte von gelesenen Texten im Vordergrund? Die Rechtschreibung hat eine wichtige Funktion für das Lesen. Durch sie lassen sich Texte besser und schneller verstehen. Gleichzeitig zeigen sich auch Probleme, wenn verschiedene Schreibweisen zugelassen sind. Je mehr Variation im Gebrauch herumschwirrt, also je uneinheitlicher ein Wort geschrieben wird, desto länger brauchen wir, um es zu lesen, um es zu erkennen.
Im Jahr 2004 wurde der Rat für deutsche Rechtschreibung gegründet, um die begonnenen Reformen von 1996 abzuschließen. Er setzt sich aus 41 Menschen aus sieben deutschsprachigen Ländern und Regionen zusammen. Der Rat gibt Empfehlungen für die amtliche Rechtschreibung und orientiert sich dabei zum einen an der Forschung, zum anderen aber auch am Sprachgebrauch. Ziel ist es, die Regeln zu vereinfachen, also einprägsamer zu gestalten.
Es scheint aber allgemein an Bewusstheit für den Gebrauch der Sprache zu fehlen; zumindest drängt sich der Eindruck auf, dass die Rechtschreibung mehr und mehr vernachlässigt wird. In ihrem Sprechen und Schreiben gehen Menschen häufig von Mustern und Modellen aus. So auch in der Sprache und damit natürlich auch in der Rechtschreibung: Was ich gehört oder gelesen habe, dem ahme ich in meinem eigenen Sprechen und Schreiben nach. Und da gibt es leider immer weniger gute Vorbilder. Nehmen Sie nur die Werbung für Produkte und Dienstleistungen – können Sie die in manchen Fällen noch als gutes und vorbildhaftes Deutsch bezeichnen? Auch das Fernsehen trägt mit manchen Bezeichnungen von Sendungen und fehlerhaften Videotexten dazu bei, dass sich der gewünschte Vorbildcharakter gar nicht einstellt.
Aber betrachten wir die Sprache auch unter dem Aspekt, wie in der kapitalistischen Welt die Wirtschaft gesehen wird – als sich selbstregulierendes System. Der Begriff Selbstregulation bezeichnet allgemein Prozesse, bei denen ein System seine Funktion selbst anpasst, um diese Funktion aufrechtzuerhalten oder das System an neue Bedingungen unterzuordnen. Im Gegensatz zur Steuerung beschreibt der Begriff Regulierung lernfähige Systeme, die durch Rückkopplung (Feedback) veränderte Rahmenbedingungen berücksichtigen und trotz sogenannter Störungen (Soll-Ist-Abweichungen) ihr selbst gesetztes Ziel erreichen können. Sind wir zu einer solchen Phase in der Entwicklung unserer deutschen Sprache gekommen? Auf jeden Fall hat man manchmal diesen Eindruck. Ich gebe eine Äußerung von mir, der andere wird das schon verstehen. Aber verstehen wir wirklich immer alles? Und wie geht es weiter, wenn wir Sprache als selbstregulierendes System auffassen? Wo sind die Grenzen? Die Sprache ist eine Konvention, also eine Übereinkunft. Sind wir nun auf dem Wege, diese Konvention zu zerstören? Kann es aufgrund zahlreicher Verstöße gegen diese bisherige Konvention zu einem Kollaps der Sprache kommen? Und welche Rolle spielen die digitalen Medien?
Eine umfassende und schlüssige Antwort auf diese Fragen können wir nicht geben.
Auch im Internet werden solche Fragen diskutiert. Ein Nutzer schlägt fünf konkrete Schritte zur Vereinfachung der Rechtschreibung vor. Lesen Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier den fünften Schritt: „fünfter srit: wegfal fon ä, ö und ü: ales uberflusige ist iest ausgemertst, di ortografi wider slikt und einfak, naturlik benotigt es einige seit, bis dise fereinfakung uberal riktik ferdaut ist, fileikt sasungsweise ein bis swei iare. anslisend durfte als nakstes sil di fereinfakung der nok swirigeren und unsinigeren gramatik anfisirt werden.“ Na dann, prost malseit!
Dieter Mengwasser
Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer
Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online unter www.kompakt.media bestellt werden.
Nr. 261 vom 6. August 2024, Seite 34
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