Aktenzeichen XY gelöst

Knock-out-Sieg per Chromosomenvorteil. Aus der Welt des Frauenboxens erreichen uns aufregende Nachrichten, die bei der ohnehin schon vom Genderstreit genervten Öffentlichkeit die Gefühle hochkochen lassen. Hier wird eine möglichst sachliche und unaufgeregte Analyse versucht.

 

Von Prof. Dr. Reinhard Szibor

 

Um Olympia in Paris gibt es große Aufregung. Als eine der Zuspitzungen der kritischen Bewertung der Olympiade kursieren im Internet Bilder mit einem Grabstein, auf dem der Tod der Olympischen Spiele verkündet wird: Im Jahre 2024 getötet vom Woke-Virus. Es ging schon los mit der Eröffnungsfeier. Bei der Zeremonie hatten Dragqueens mit Tänzern und Performern auf einer Brücke über der Seine eine an das letzte Abendmahl Christi erinnernde Szene dargestellt. Ein Haufen Drag-Acts versammelte sich um eine adipöse Frau, die mit einer Heiligenscheinkrone geschmückt war. Das stieß international auf Kritik, vor allem bei Kirchenvertretern. Der Veranstalter erklärte später, dass es sich bei der gespielten Szene nicht um eine Darstellung des Abendmahls, sondern um eine Szene aus der griechischen Mythologie gehandelt habe. Aber dennoch erkannten sowohl Sympathisanten als auch die Kritiker des Regisseurs Thomas Jolly darin eine Verballhornung des da Vinci-Gemäldes von der Eucharistie. Es ging Jolly wohl darum, dem Publikum das Thema „Queere Welt“ näher zu bringen. Dabei ist nicht klar, ob dies ein untauglicher Versuch war, Sympathie für Transgender-Menschen zu erzeugen, oder ob man nur die konservativen Christen provozieren wollte. Letzteres ist eingetreten.


Um Genderstreit geht es auch bei dem Aufregerthema „Frauenwettkämpfe im Boxen“. Dabei kursieren in Medien zutreffende Berichte über kritikwürdige Zustände, Halbwahrheiten und Falschmeldungen. Zu letzteren gehört die Schlagzeile, in Paris hätten Männer gegen Frauen geboxt. Imane Khelif sei als Knabe geboren, kämpfte jetzt aber als Transfrau gegen die Italienerin Angela Carini, die unbestritten eine echte Frau ist. Ich selbst hatte zu einem Zeitpunkt, als ich mich damit noch nicht beschäftigt hatte, einen solchen Post auf Facebook geteilt. Aber diese Behauptung erfordert einen Faktencheck und eine sorgfältige Analyse. Am Freitagabend stieg die zweite vermeintlich „männliche“ Boxerin ins olympische Geschehen ein. Lin Yu-ting gewann ihren ersten Kampf nach Punkten. Im weiteren Verlauf der Wettkämpfe besiegten beide Sportlerinnen all ihre biologisch unauffälligen weiblichen Gegnerinnen und wurden jeweils mit der Goldmedaille belohnt.

 

Boxen hier Mann gegen Frau?

 

Aus Presse und offiziellen Verlautbarungen lässt sich entnehmen, dass Imane Khelif als Mädchen geboren und als solches aufgewachsen ist. Also ist sie keine Transfrau. Sie wurde für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris 2024 zugelassen, nachdem das Internationale Olympische Komitee (IOC) sie nach medizinischen Bewertungen als geeignet befunden hatte, heißt es. Bei den Box-Weltmeisterschaften 2023 wurde sie aufgrund der Ergebnisse medizinischer Tests disqualifiziert. Ich zitiere die Erklärung der IBA (aus dem Englischen übersetzt): „Wie bereits erwähnt, hält es die International Boxing Association (IBA) in dieser Zeit für angemessen, sich mit den jüngsten Medienaussagen über die Athletinnen Lin Yu-ting und Imane Khelif zu befassen, insbesondere in Bezug auf ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen 2024 in Paris. In diesem Zusammenhang möchten wir auf folgende Punkte hinweisen: Am 24. März 2023 disqualifizierte die IBA die Athletinnen Lin Yu-ting und Imane Khelif von den IBA-Boxweltmeisterschaften der Frauen in Neu-Delhi 2023. Diese Disqualifikation war das Ergebnis der Nichterfüllung der Zulassungskriterien für die Teilnahme am Frauenwettbewerb, wie sie in den IBA-Vorschriften festgelegt sind. Diese Entscheidung, die nach einer sorgfältigen Prüfung getroffen wurde, war äußerst wichtig und notwendig, um das Niveau der Fairness und die größtmögliche Integrität des Wettbewerbs aufrechtzuerhalten. Zu beachten ist, dass sich die Athletinnen keiner Testosteronuntersuchung unterzogen haben, sondern einem separaten und anerkannten Test unterzogen wurden, wobei die Einzelheiten vertraulich bleiben. Dieser Test zeigte eindeutig, dass beide Athletinnen die erforderlichen Zulassungskriterien nicht erfüllten und Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen weiblichen Wettkämpferinnen hatten.“


Aus meiner Kenntnis als Humangenetiker kommen als „separater und anerkannter Test“ nur eine zytogenetische Untersuchung (Chromosomenanalyse oder ein vereinfachter Test zur Darstellung der Geschlechtschromosomen X und Y) oder eine DNA-Analyse in Frage. Das viel zitierte „Redaktionsnetzwerk“ zieht das Ganze in Zweifel und schreibt, dass die beiden „bei der WM im vergangenen Jahr in Delhi durch einen „umstrittenen Geschlechtstest (Sex-Test)“ gefallen waren. „Umstritten“ ist der Test nur dann, wenn man das Geschlecht nicht als biologisch determiniert anerkennt, sondern als gesellschaftliches Konstrukt bezeichnet und es als „frei wählbar“ deklariert. Das ist eine Absurdität, die in unserer wissenschaftsfeindlichen Gesellschaft Anhänger findet. Zum Vergleich: Umstritten in diesem Sinne wäre auch die Evolutionstheorie von Darwin, für deren Richtigkeit es tausendfache Beweise gibt. Weil es jedoch fundamentalistische Glaubensrichtungen gibt, die behaupten, dass die Schöpfungsgeschichte der Bibel eins zu eins zuträfe, kann man auch die Evolutionstheorie als „umstritten“ bezeichnen, ebenso wie den Sex-Test. Beim Gebrauch der Bewertung „umstritten“ ist stets von Belang, auf welches Niveau man sich begibt.

 

Was trifft nun wirklich zu?

 

Aus der Nachrichtenlage kann man schlussfolgern, dass die beiden Boxerinnen Lin Yu-ting und Imane Khelif offenbar Frauen sind, die das männliche Kerngeschlecht XY besitzen. Nur das wäre eine Begründung, warum es im Ergebnis des „separaten und anerkannten Tests“ zu einer Sperrung der Athletinnen kommen kann. Es ist aber erklärbar, warum die Chromosomenkonstellation der Boxerinnen nicht mitgeteilt werden, womit ja alle Spekulationen überflüssig wären. Diese Veröffentlichung wäre eine schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Frauen und ein grober Verstoß gegen den Datenschutz und somit eine schwere Straftat. Auch wenn man die Athletinnen drängen würde, ihre persönlichen Daten selbst preiszugeben, wäre das eine Nötigung, also wiederum strafbar. Es wird keine offizielle Mitteilung zu diesem Sachverhalt geben. Dennoch hatte Umar Nasarowitsch Kremlew, Präsident der IBA, behauptet, dass DNA-Tests bewiesen hätten, dass Khelif über XY-Chromosomen verfüge. Das zeigt, dass der regierungstreue Russe es mit den Persönlichkeitsrechten der Athletinnen nicht so genau nimmt. Zusätzlich ist seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Der Verband, dessen Funktionär Kremlew ist, wurde wegen Korruption vom IOC ausgeschlossen. Das spielt aber keine Rolle, denn seine Aussage deckt sich praktisch mit dem, was die IBA offiziell sagt. Aber hier durch die Blume und in einer Form, die nicht offen gegen den Datenschutz verstößt: Kerngeschlecht XY.

 

Zur Biologie


Normalerweise sind bei Knaben und Männern alle Körperzellen mit einem X-Chromosom und einem Y-Chromosom ausgestattet. Das Y-Chromosom bewirkt die embryonale Entwicklung hin zum männlichen Geschlecht. Frauen haben typischerweise zwei X-Chromosomen und kein Y-Chromosom. Es kommt aber vor, dass das Gen für den Androgenrezeptor eine Mutation trägt. Dann kann das männliche Geschlechtshormon nicht mehr wirken und der Embryo entwickelt sich trotz der männlichen Chromosomenausstattung in weibliche Richtung. Die Botschaft des Y-Chromosoms findet keinen Empfänger. Diese Störung trägt den Namen „Androgen Insensitivity Syndrome (AIS)“.  Der Spiegel des androgenen Hormons Testosteron ist bei den betroffenen Personen höher als bei Frauen mit der normalen Chromosomenausstattung XX, und da dieses Hormon den Muskelaufbau stimuliert, verfügen Frauen mit dem AIS über Muskeln, die stärker ausgebildet sind als bei Frauen ohne genetische Besonderheiten.  Wenn solche Personen gegen XX-Frauen antreten, haben Letztere einen Wettbewerbsnachteil, den sie nur mit Hormondoping ausgleichen könnten, was aber zu Recht verboten ist. Frauen mit dem AIS sind richtige Frauen und haben Anspruch darauf, als solche behandelt zu werden. Die in mehreren Presseorganen und im Netz verbreitete Behauptung: „Männer kämpfen gegen Frauen“ ist grob falsch und ehrverletzend. Diese Personen wurden als Mädchen geboren, sind als solche aufgewachsen und sozialisiert. Sie sind aus männlicher Sicht oft sogar sehr attraktive Frauen mit Sexappeal und mit frauentypischem Sexualverhalten. Sie weisen allerdings einige Besonderheiten auf und können nicht schwanger werden, weil ihnen die inneren Sexualorgane wie Eierstöcke und Uterus fehlen.

 

Die Biologie ist nicht gerecht!

 

Das IOC kann nur entscheiden, welche Ungerechtigkeit es bevorzugt. Lässt es Frauen mit dem AIS in Frauenwettkämpfen zu, benachteiligt sie die Mehrzahl der Sportlerinnen mit normaler Chromosomenkonstitution. Schließt sie solche Frauen vom Wettkampf aus, ist das diesen Personen gegenüber eine Härte. Trotzdem wäre es gerecht, Frauen mit dem AIS nicht zur Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen in Frauendisziplinen zuzulassen, wie es bei den Box-Weltmeisterschaften 2023 geschehen ist.


Auf allen Sportgebieten, die nicht so ideologisch aufgeladen sind wie die Genderfrage, hat unsere Gesellschaft längst akzeptiert, dass sportliche Betätigung und Wettkampferfolg weitestgehend durch biologische Gegebenheiten bestimmt werden. So hat z. B. ein Mann mit einer normalen Körpergröße von 175 cm keinen Anspruch darauf, für eine Basketballmannschaft in Betracht gezogen zu werden und ein 2-Meter-Mann ist als Jockey auszuschließen. Somit kann man auch von einer Frau mit der Chromosomenkonstellation XY die Einsicht verlangen, dass sie für den Hochleistungssport in Frauenwettkämpfen nicht in Frage kommt. Auf anderen Gebieten ist es ebenso, dass die Biologie unseren Möglichkeiten Grenzen setzt. Nehmen wir die Schauspielerei: Die von mir hochgeschätzte Schauspielerin Helga Feddersen hätte nie die Möglichkeit gehabt, die Kaiserin von Österreich Sissi, zu spielen. Das blieb der bildhübschen Romy Schneider vorbehalten. Für alle Menschen ist ein Rezept glücklich zu sein, sich in einem Rahmen einzurichten und zu entwickeln, den die Biologie vorgibt. Für Frauen mit dem AIS sollte der Hochleistungssport in Disziplinen, in denen Muskelkraft ausschlaggebend ist, außerhalb des Rahmens liegen.

 

Persönliche Erfahrung

 

Als ich nach dem Studium im Jahre 1970 in der Abteilung Humangenetik der Medizinischen Akademie Magdeburg meine Tätigkeit aufnahm, war es zunächst meine Aufgabe, die Geschlechtschromosomen X und Y in Abstrichen der Mundschleimhaut nachzuweisen. Das war damals noch ganz neu. Meine erste wissenschaftliche Publikation 1971 war die Modifizierung des Nachweises des Y-Chromosoms mit Fluoreszenzfarbstoffen. Wir hatten damals die Aufgabe, die Konstellation der Geschlechtschromosomen bei einer großen Anzahl von Mädchen zu bestimmen, die für eine Sportkarriere vorgesehen waren. Das sollte Situationen vorbeugen, wie wir sie jetzt im Frauenboxsport haben. Mädchen mit männlichem Kerngeschlecht sollten gar nicht erst zu Leistungssportlerinnen trainiert werden, um ihnen später die Enttäuschung einer Disqualifikation zu ersparen. Wäre es auch heute so, dass alle Sportlerinnen vor dem Beginn ihrer Karriere diesbezüglich getestet würden, könnte man viel Leid ersparen. Die wenigen Betroffenen könnte man über ihre Besonderheit frühzeitig und in diskreter Weise aufklären. Ungerechtigkeit, wie sie der unterlegenen Boxerin Angela Carini widerfahren ist, könnte man verhindern. Vor allem wäre aber die erniedrigende öffentliche Diskussion (mit vielen Anfeindungen) um das Geschlecht von Imane Khelif und Lin Yu-ting vermieden worden. Die Causae der beiden Sportlerinnen könnten den Sportfunktionären als Lehrbeispiel  dienen, wenn sie denn bereit wären, etwas dazuzulernen:  Wenn man es versäumt, den genetischen Status von Sportlerinnen vor der Karriere zu klären und Mädchen mit problematischer Konstitution von einem Engagement im Hochleistungssport abzubringen, gibt es für die später berühmt gewordenen Athletinnen keine Möglichkeit mehr, sich aus den gegenüber den schwächeren Gegnerinnen ungerechten Wettkämpfen zurückzuziehen, ohne der entwürdigenden Diskussion um ihr Geschlecht entgehen zu können. Vernünftig wäre es, wenn man sicher sein könnte, dass alle Athletinnen, die in hochkarätigen Wettkämpfen antreten, hinsichtlich des Geschlechtes der weiblichen Norm entsprechen. Aber den diskreten Test unter Einhaltung des Persönlichkeitsrechts meint unsere von Wokeness dominierte Gesellschaft den Mädchen nicht zumuten zu dürfen und setzt somit die Betroffenen einer ungeheuren Demütigung aus. Auch hier ist wieder einmal gut gemeint das Gegenteil von gut.  

Nr. 262 vom 20. August 2024, Seite 64

Veranstaltungen im mach|werk

Über uns

KOMPAKT MEDIA als Printmedium mit über 30.000 Exemplaren sowie Magazinen, Büchern, Kalendern, Online-Seiten und Social Media. Monatlich erreichen wir mit unseren verbreiteten Inhalten in den zweimal pro Monat erscheinenden Zeitungen sowie mit der Reichweite unserer Internet-Kanäle mehr als 420.000 Nutzer.