Die Kultivierung der Dankbarkeit
Dankbarkeit ist ein gutes Gefühl, doch wie schnell wird das vergessen.
Von Prof. Dr. Gerald Wolf
Das Gefühl echter Dankbarkeit ist ein Phänomen, das offenbar von unserer jüngeren Stammesgeschichte herrührt. Da völlig uneigennützig, zählt Dankbarkeit zu einem der edelsten Gefühlszustände, die unser Arsenal an seelischen Erlebensformen bereithält. Keiner vermag diesen Zustand zu beschreiben. Mit Worten nicht und mit Gesten nicht. Man stelle sich vor, jemand kenne diese Gemütsregung nicht, ein Alien zum Beispiel, und ihm sei nahezubringen, wie das geht mit dem Dankbarsein. Mit verklärtem Blick etwa und einer Aufwärtsbewegung der Hände, währenddessen man tief einatmet? – Ganz gleich wie, es funktioniert nicht.
Das Gegenstück zur Dankbarkeit ist der Undank. Unsere Kinder seien undankbar, heißt es. Und die Geflüchteten. Sie, die von wo auch immer Geflüchteten, sie würden doch bei uns auf so viel Entgegenkommen stoßen, erhielten Wohnstatt und Geld, ärztliche Hilfe und Rechtsbeistand, Kindergärten böte man ihnen an, Schulen und Integrationskurse. Dafür könnten diese Menschen doch mal durch die Straßen ziehen und laut skandierend „Danke!“ rufen. Und jene ebenso lauthals verdammen, die sich an uns, am Gastgeber, versündigen. Auch sollten sie, die Flüchtlinge, uns beim Haus- und Straßenbau helfen, in der Landwirtschaft, bei der Altenpflege – gemeinnützig, unentgeltlich, als Gegenleistung. Denn bei ihnen zu Hause funktioniere das alles ja auch.
Und unsere Kinder? Höchstens, dass sie am Küchentisch mal so etwas wie ein „Danke!“ dahinnuscheln. Und das dann auch noch aus erzieherischen Gründen von der elterlichen Seite abgenötigt. Eher wohl wird das Gegenteil von Dankbarkeit beobachtet: Die Kinder verlangen, nölen und nörgeln und liegen mit ihren Forderungen den Eltern so lange in den Ohren, bis sie kriegen, was sie kriegen wollen. Egal, wie stark dafür ihre Eltern zu bluten haben. Und ob das überhaupt gut ist für sie, die Kinder.
Bei den Kindern anderer Völker ist das zumeist ganz anders. Die haben zu gehorchen. Hier stehen Vater und Mutter auf höchster Stufe, und die Kinder haben sich den Respekt der Familie zu verdienen. Heutzutage werden sie nicht selten mit Reisegeld ausgestattet, um unter Lebensgefahr ins Schlaraffenland Europa zu gelangen, in Sonderheit nach Deutschland, und von dort so viel Geld wie möglich nach Hause zu schicken. Zum Nutzen und Frommen der ganzen Familie. Aus Respekt und aus Dankbarkeit ihr gegenüber. Da wird nicht genölt, es sei denn, es handelt sich um eine moderne Ein- oder Zwei-Kind-Familie.
Vor längerer Zeit noch waren bei uns in Deutschland die Familien ganz ähnlich strukturiert. Schon das Vierte Gebot verlangte das: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“ Das Gebot ist eine Art von Generationenvertrag, der so oder so für alle Völker der Welt gilt – oder eben zu gelten hatte. Nicht nur aus formellen Gründen, nein, um eine Herzensangelegenheit geht es, eine, die aus einer tief empfundenen Dankbarkeit geboren ist.
Wasserflöhe kennen keine Dankbarkeit
Und nicht nur die. Weder Blattläuse noch junge Amseln kennen ein solches Gefühl nicht − mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht −, vielleicht noch nicht mal unser Hund. Er ist lieb, ist uns treu ergeben, aber dankbar? Auch meinen wir, der Bonsai zeige sich dankbar, wenn er von uns ins Licht gestellt, regelmäßig gegossen und beschnitten wird. Aber dankbar in dem Sinne, wie wir es von uns selbst kennen? Nie und nimmer.
Wie jedes andere Gefühl ist das der Dankbarkeit ein höchst subjektiver Erlebniszustand, der wie alle die sogenannten Qualia nur aus unserer absoluten Privatheit heraus zu erfahren ist. Zwar können wir uns darüber mit Anderen austauschen, aber nur deshalb, weil wir wissen oder zu wissen glauben, dass diese ebenfalls über derlei Gemütserfahrung verfügen. Anders gewendet: Wie sollte man einem Farbenblinden den Unterschied in den Farbempfindungen für Grün, Rot und Gelb erklären, wenn er Farben aus eigener Erfahrung nicht kennt, wie einem Psychopathen nahebringen, was unsereiner bei Mitleid empfindet?
Dankbarkeit gehört zur Klasse der positiven Gefühlszustände. Man kann bei der Empfindung tiefer innerlicher Dankbarkeit womöglich zur gleichen Zeit nichts Negatives verspüren, nicht Wut, Hass oder Neid, nicht Feindseligkeit oder Ärger. Die Hirnforschung hat sich bisher kaum um das Phänomen „Dankbarkeit“ gekümmert. Wie auch? Tierversuche scheiden mangels Zugänglichkeit ihrer Gefühlswelt aus, und das Wenige, was dazu am menschlichen Gehirn unternommen werden kann, zeigt einfach das, was zu erwarten ist: Nirgendwo bleibt es still im Gehirn, wenn uns Dankbarkeit durchflutet. Am eifrigsten wohl werden sich die sogenannten Glückszentren melden, Nervenzellansammlungen an der Basis unseres Gehirns, voran der Nucleus accumbens mit dem mesolimbischen System. Diese Regionen sind aber auch dann aktiv, wenn wir im Schach oder beim Hochsprung gewinnen, Empfänger eines Liebesbeweises sind, Tiramisu auf der Zunge zergehen lassen oder dem dritten Klavierkonzert von Rachmaninow lauschen.
Um dankbar zu sein, bedarf es eines Grundes. Einer Person können wir dankbar sein, wenn sie uns Gutes getan hat, vor allem dann, wenn es selbstlos geschah. Oder gar von ihr ein Opfer abforderte. Allenfalls genügen Abstrakta, zum Beispiel mögen wir dem Schicksal dankbar sein, dem Leben an sich, dem schönen Wetter. Oder Gott.
Besser noch als Antidepressiva
Dankbarkeit ist ein gutes Gefühl. Nicht nur für den Empfänger, ebenso für den Sender. Sich in Dankbarkeit zu üben, ist, wenn auch eher selten praktiziert, ein Stück Psychotherapie, womöglich wirksamer noch als Antidepressiva, Yoga oder verbissenes Joggen. Andere können dabei helfen, entsprechende Überlegungen anzustellen, die Eltern, Freunde und – mit einem Quäntchen Glück – ein kluger, einfühlsamer Mensch in der näheren Umgebung.
Was aber, wenn es uns soweit recht gut geht, sich dafür aber Dankbarkeit nicht einstellen will? Wem konkret auch sollte man danken? Dem Staat etwa, wenn er seinen Pflichten nachkommt, wie sie sich aus der Gesetzeslage heraus ergeben? Zum Beispiel bei Gewährung der Altersrente? Oder der von Asyl oder Aufenthaltsrecht?
Auch dem Partner muss man doch wohl nicht sonderlich danken, wenn er unsereinem hilft, denn das ist ja seine Pflicht. Oder? Ebenso ist es die Pflicht der Lehrer, uns gut zu beraten, die der Ärzte, der Polizei, der Rettungsschwimmer und der Feuerwehr, uns vor Schaden zu bewahren. Nervig ist die stete Dankeserwartung der Eltern, die einen einst gepäppelt haben. Pflichten sind das, selbstverständliche, gottverdammte Pflichten! Die Grenze zum …
Un-Dank …
… ist da nicht fern. Wer kennt sie nicht, die Klagen über undankbare Kinder, undankbare Freunde, undankbare Schüler, undankbare Kunden, undankbare Bürger oder ein undankbares Publikum? Das Missbehagen, das durch Undank ausgelöst wird, kann viel größer sein als der seelische Profit, der von der Dankbarkeit herrührt, nur eben ins Negative gekehrt. Undank mag einzelne Menschen treffen, aber auch ganze Generationen betreffen.
Zum Beispiel die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aus Schutt und Asche wiederaufgebaut hat. Oft mit bloßen Händen. Es ist die Generation der „alten weißen Männer (und Frauen!)“. Von außen her gab es kaum Hilfe, allzumal nicht im Osten. Im Gegenteil, hier wurden durch die sowjetische Besatzungsmacht die wenigen funktionierenden Reste an Technik demontiert und nach Hause abtransportiert. Oder denken wir an jene, die Kinder und Kranke auf Flüchtlingstracks unter Beschuss gen Westen schleppten, nach Deutschland. Wo steht ihr Denkmal?
Ich hasse Undank mehr an einem Menschen
Als Lügen, Hoffart, laute Trunkenheit.
Als jedes Laster, dessen starkes Gift,
Das schwache Blut bewohnt.
William Shakespeare
Guter Rat, wenn es mit der Dankbarkeit nicht so recht klappen will: üben, üben, üben!
Nr. 262 vom 20. August 2024, Seite 10
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