Leben durch
Gleich- und Ungleichgewichte

Diplomaten bemühen sich um den Ausgleich in strittigen Fragen zwischen ihren Ländern. Aber auch jeder Einzelne von uns muss Gleichgewichte aufrechterhalten, damit sein Leben in geordneten Bahnen verläuft. Trotz alledem gibt es kein Leben ohne Ungleichgewichte.

 

Von Prof. Dr. Peter Schönfeld

Der klassische Zirkus scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Das kann man am Einlass zum Zirkuszelt erleben, wenn dort selbsternannte Tierschützer stehen, die den noch treu gebliebenen Freunden der Zirkuswelt die Vorfreude auf den Besuch verderben wollen. Mit oft eindringlichen Appellen versuchen sie den Besuchern die Augen darüber zu öffnen, dass es unmoralisch ist, sich die mit viel Tierleid erkauften Dressuren anzusehen. Von den Dressuren einmal abgesehen, oben, knapp unter dem Zeltdach, vollbringen Zirkusakrobaten Höchstleistungen. Mir stockt immer der Atem, wenn sich die Seiltänzer dort offensichtlich angstfrei auf einem dünnen Seil bewegen. Für mich war schon das Laufen auf dem breiten Schwebebalken im Sportunterricht eine Herausforderung. Man kann sich nur damit trösten, dass eben nicht jeder als ein Philippe Petit geboren wird. Der ging nämlich 1974 auf einem zwischen den Zwillingstürmen des ehemaligen World Trade Centers gespannten Seil in 415 m Höhe ohne Sicherung „spazieren“.


Aber bei der verständlichen Bewunderung für die Waghalsigen unter dem Zirkuszelt, haben wir Normalos auch kein Problem mit dem aufrechten Gang im wörtlichen Sinn. Das ist eine Leistung, denn der Schwerpunkt des Körpers befindet sich im Beckenbereich und der sich darüber befindende Oberkörper präsentiert die Hauptmasse. Wir verdanken den aufrechten Gang dem komplexen Zusammenspiel zwischen den Sehnen, der Muskulatur, einer Vielzahl von Sensoren in den Geweben, dem Gehirn sowie dem Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) im Innenohr. Letzteres informiert das Gehirn laufend über die Lage des Körpers im Gravitationsfeld der Erde, und durch dieses Organ können wir auch aufrecht stehen, wenn wir die Augen schließen. Mit nur einem Skelett, dessen Knochen mit Sehnen und Muskel verbunden sind, würden wir augenblicklich zusammenfallen.

 

Die Kunst des Balancierens

 

Den Allermeisten von uns gelingt es auch auf Dauer, gleichzeitig mehrere Gleichgewichte auszubalancieren. So muss das Arbeitsleben mit dem Freizeitleben (work-life-balance) oder die Anfälligkeit für vielfältige Verführungen des Konsums mit der eigenen finanziellen Liquidität im Gleichgewicht gehalten werden. Um die Goldene Hochzeit miteinander erleben zu können, müssen Paare auch jahrzehntelang das Gleichgewicht zwischen ihren mitunter oft unterschiedlichen Interessen und Wünschen erhalten. Gleichgewichte aufrecht zu erhalten, gelingt aber nicht immer, denn sonst gäbe es ja keine Spiel-, Computer- oder Karriere-Süchtigen.


Ein aktuelles Thema in den Medien ist jetzt das Sich-Einsam-Fühlen vieler Menschen. Es wird sogar davon gesprochen, dass Einsamkeit die Qualität einer neuen Volkskrankheit hat. So soll dauerhaftes Sich-Einsam-Fühlen für den Körper ähnlich schädlich sein wie das Rauchen. Eine aktuelle Umfrage der Einsamkeitsforscher ergab, dass bis zu 46 Prozent der 16- bis 30-Jährigen angaben, einsam zu sein. Dass ein so großer Teil der jungen Menschen davon betroffen ist, überrascht sehr. Erklärt wird das auch mit den Nachwirkungen der verordneten Isolationsmaßnahmen in der Zeit der Covid-19-Pandemie. Trotz meiner unprofessionellen Sicht auf diese Problematik erscheint es mir, dass eine solche Erklärung, zumindest für einen Teil der jungen Menschen, zu kurz greift. Zum Verständnis meiner Skepsis muss ich hier ein Erlebnis vor dem Beginn des Sommers ansprechen. Als ehemaliger Hochschullehrer hatte ich mich bereit erklärt, eine Vorlesungswoche auszurichten. Am ersten Vorlesungstag waren 9 von den rund 200 eingeschriebenen Studenten anwesend. 3 waren es am letzten Tag. Das Fernbleiben der Studenten war verwunderlich, weil die Vorlesungsinhalte auf eine demnächst anstehende große Prüfung zugeschnitten waren. Auch hatte das offensichtliche Desinteresse an der Lehrveranstaltung wenig mit meiner vielleicht langweiligen Vermittlung der naturwissenschaftlichen Sachverhalte zu tun, denn Kollegen berichten mir von ähnlichen Frustrationen, die sie schon seit Jahren aushalten müssen.


Nach meinem naiven Verständnis sollten doch Studenten nach der erlittenen Isolation während der Pandemie süchtig nach dem Campusleben und einem gemeinsamen Erleben von Lehrveranstaltungen sein? Bei dieser offenbar nicht zutreffenden Erwartung drängt sich mir die Vermutung auf, dass die nun seit einigen Jahren bekannten Verweigerungen gegenüber den fakultativen Lehrveranstaltungen eher auf dem Unvermögen der Studenten beruhen, ein Gleichgewicht auszubalancieren. Ich meine damit, das Gleichgewicht zwischen dem Drang nach Optimierung eines perfekten Individualismus und der Bereitschaft zur zwischenmenschlichen Kontaktpflege.

 

Nahrungsaufnahme contra Energieverbrauch

 

Man sieht es häufig in unserer Überflussgesellschaft, dass das Gleichgewicht zwischen der Aufnahme von Nahrungskalorien und dem Energieumsatz des Körpers ausgelenkt ist. Es ist natürlich auch schwer, den Verlockungen der Konditoreien, der Döner-Variationen, des oft exotischen Street Food oder den appetit-anregenden Emissionen mediterraner Restaurants auf Dauer zu widerstehen. Die Folge davon ist, dass mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig ist, d. h., einen Body-Mass-Index (BMI = Körpermasse geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern) größer 25 hat. Neigt sich dann der Waagebalken in Richtung des Gewichtzuwachses, droht kein Sturz in eine tiefe Schlucht. In diesem Fall heißt der Abgrund „Tödliches Quartett“. Für diesen Begriff gibt es eine weniger angstmachende, allerdings auch die Situation verharmlosende Bezeichnung, das Metabolische Syndrom. Aber was hat nun eine todbringende Vierergruppe mit dem Stoffwechsel (= Metabolismus) zu tun? Dazu muss man wissen, dass die Mitglieder des Quartetts ein gestörter Fettstoffwechsel, ein hoher Blutdruck, Übergewicht und zu viel Blutzucker sind. Todbringer ist die Vierergruppe deshalb, weil die von ihr ausgehenden Schädigungen in erster Linie auf die Herzkranzgefäße zielen.


Der Wächter und zugleich die Schaltzentrale für das Gleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme und dem Energieverbrauch ist eine Fingerhut große Drüse im Gehirn. Weil diese unter („hypo“) dem Thalamus sitzt, dem sogenannten „Tor des Bewusstseins“, heißt sie Hypothalamus. Innerhalb des Hypothalamus gibt es Regionen (der Nucleus arcuates oder den lateralen Hypothalamus), Ansammlungen von spezifischen Zellen, die die von der Außen- und Innenwelt kommenden Signale, wie der Geruch von Gegrilltem oder der Gehalt des Blutzuckers, verarbeiten. Danach wird übergeordneten Zentren im Gehirn signalisiert, „ich habe Hunger“ oder „ich bin satt“.

 

Es, Über-Ich und Ich

 

Wir haben verschiedene angeborene Triebe, Bedürfnisse, Wünsche und Aggressionen. Weil diese nach der sofortigen Befriedigung verlangen, sind sie ein Konfliktpotenzial für das Zusammenleben mit den Mitmenschen. Um zu verstehen, wie eine solche Situation in einem Gleichgewicht gehalten werden kann, hat der österreichische Arzt und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud ein Modell entwickelt, das aus den drei Instanzen, dem Es, dem Über-Ich und dem Ich besteht. Das Es ist sozusagen das Teufelchen in uns, das auf Befriedigung der Triebe, Bedürfnisse, … drängt. Damit dieses gebremst wird, gibt es das Über-Ich, das Engelchen. Das Über-Ich ist nicht angeboren, es muss erst durch die elterliche und schulische Erziehung und dem Leben in der Gesellschaft entwickelt werden. Es verkörpert die Moral und das Gewissen. Die dritte Instanz ist das Ich, der Vermittler zwischen dem Teufelchen und dem Engelchen. Das Ich muss nun die Triebe, Bedürfnisse, … bewerten und deren Befriedigung gegenüber den Geboten der Moral und des Gewissens abwägen. Die Folgen einer sofortigen Triebbefriedigung müssen allerdings mit den zu erwartenden gesellschaftlichen Konsequenzen ausbalanciert werden. Hierzu ein Beispiel: Es ist nachmittags in den Alpen und ein Gipfel lockt noch zum Besteigen (Es). Das Über-Ich gibt zu bedenken, dass der Abstieg dann in der Dunkelheit erfolgen muss. Demzufolge schlägt das Ich vor, am Vormittag des nächsten Tages den Gipfel zu besteigen.

 

Auch die Körperzellen fordern Gleichgewichte

 

Eines der Wichtigsten dient dazu, die egoistischen Zellen in Schach zu halten. Diesen Zellen ist ihre Vermehrung wichtiger als das soziale Zusammenleben mit anderen Zellen. Wenn es nicht gelingt, deren asoziale Vermehrungssucht einzudämmen, wachsen im Körper Tumore. Dann muss die Medizin mit ihren nicht immer erfolgreichen und begrenzten Möglichkeiten eingreifen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Aber auch zwischen anderen Körperzellen müssen Gleichgewichte aufrechterhalten werden. Nehmen wir dazu als ein Beispiel die Knochen. In ihrer Gesamtheit bilden sie das Skelett, das von den Anatomen des Mittelalters entweder nur als Kleiderbügel der Haut oder als Gerüst für die inneren Organe angesehen wurde. Eine so einfache Sicht ist längst überholt, denn die Knochen haben auch ein Eigenleben. Außerdem sind diese nicht nur zum Stützen und Schützen da, denn das rote Knochenmark ist die Kinderstube der Blutzellen. Aus unterschiedlichen Gründen unterliegt das Knochengewebe einem ständigen Umbau. Knochenvernichtende Zellen (Osteoklasten) bauen die Knochensubstanz ab und setzen Kalzium in das Blut frei. Der Abbau geschieht beispielsweise dann, wenn dem Körper ein Mangel von Blut-Kalzium signalisiert wird, denn die Knochen sind der große Kalziumspeicher. Andererseits muss die Aktivität dieser Knochenvernichter im Zaum gehalten werden. Deren Gegenspieler sind knochenaufbauende Zellen (Osteoblasten). Durch das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Zellaktivitäten geht keine Knochenmasse verloren. Wird dieses auf Dauer verletzt, droht die Osteoporose.


Weil es viel Ursachen für die Störung von Gleichgewichten zwischen Zellen gibt, hat sich die Evolution große Mühe gegeben, den Körper mit einer ausreichenden Anzahl von „Gleichgewicht-Wiedereinrichtern“ auszustatten. Den Wenigsten ist wahrscheinlich bewusst, dass der Verzehr eines XXL-Schnitzels von 200 g, wenn auch nur theoretisch, Lebensgefahr bedeuten kann. Mit dem Schnitzel nehmen wir eine große Menge von Schweine-Kalium zu uns. Dieses hat das Potenzial, das Gleichgewicht zwischen dem Blut-Kalium und dem Zell-Kalium erheblich zu stören. Dank der „Gleichgewicht-Wiedereinrichter“ wird das Schnitzel-Kalium größtenteils durch eine „Erste-Hilfe-Reaktion“ in die Muskelmasse „geschoben“. Das bewahrt uns vor einer Hyperkaliämie und möglicherweise einer tödlichen Herzrhythmusstörung.

 

Aber Ungleichgewichte müssen auch bestehen bleiben

 

Bei den vielfältigen Reaktionen der Körperchemie darf sich bei einigen kein Gleichgewicht einstellen. Das sind alle chemischen Reaktionen, die uns mit der für das Leben notwendigen Energie versorgen. Sollte sich bei diesen Reaktionen ein Gleichgewicht einstellen, dann ist die Bildung der Reaktionsprodukte (Kohlendioxid und Wasser) gleich dem Zerfall in die Ausgangsprodukte (Kohlenhydrate, Fette und Sauerstoff). Mit anderen Worten, dann gibt es kein Netto mehr, dann fließt nichts mehr, es ist der Stillstand eingetreten, es wird dem Körper keine Energie mehr zur Verfügung gestellt. Das Ungleichgewicht wird durch das „Einfließen“ der Nahrungsbestandteile und des Luftsauerstoffs in den Körper und das „Ausfließen“ der Verbrennungsprodukte aus dem Körper aufrechterhalten. Ohne die „Verbrennung“ der in den Nahrungsmitteln enthaltenen Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße gibt es keine Energie für das Pumpen des Blutes durch den Körper, für die Sauberhaltung des Blutes durch die Niere oder die Reparaturarbeit der Hautzellen bei der Schließung einer Wunde. Ohne die kontinuierliche Energiezufuhr für die Zellen der Skelettmuskeln würden wir beim Stehen sofort zusammenfallen. Und nicht zu vergessen, ähnlich den Großcomputern kosten die Leistungen unseres Gehirns viel Energie.


Damit ergibt sich aber auch die nüchterne Einsicht auf das Leben, dass wir die (chemische) Lebensenergie zahllosen „Wasserfällen“ in den Zellen verdanken. Es ist aber auch ein glücklicher Umstand, dass wir durch vielfältige Aktivitäten und Möglichkeiten der Lebensgestaltung nur ganz selten an diesen „Kleindruck“ erinnert werden.

Nr. 263 vom 10. September 2024, Seite 4

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