Wohin die Bälle fliegen
Im Fußball werden in der Champions League radikale neue Wege beschritten. Zieht irgendwann auch der Handball nach? Eine kontroverse Diskussion.
Von Rudi Bartlitz
Auf den ersten Blick mag es wie ein zeitlicher Zufall erscheinen. Doch beim näheren Hinsehen sind Parallelen keineswegs zu übersehen. Worum geht es? In den beiden populärsten Ballsportarten hierzulande, nämlich Fußball und Handball, stehen zurzeit teils einschneidende Veränderungen im Modus der internationalen Wettbewerbe im Fokus.
Allgemeiner Tenor dabei: Es gibt nichts, was nicht anders gemacht werden könnte. Und wenn dies einigermaßen gelingt, so die Hoffnung, könnte es sogar besser werden. Wobei für „besser“ eigentlich das Wort „wirtschaftlich lohnender“ stehen sollte. Und um der Wahrheit gleich die Ehre zu geben, die Fußballer sind da der ballwerfenden Zunft um viele Schritte voraus. Während die Kicker am zurückliegenden Wochenende bereits mit dem ersten Spieltag ihres neuen Formats, der Champions League 2.0, begonnen haben, ist ihr Pendant in den Hallen dabei, ihnen irgendwie nachzueifern. Auch wenn dies zunächst erst einmal zwischen Flensburg und Stuttgart für gehörig Dampf auf dem Kessel sorgt.
Doch der Reihe nach. Nachdem im Fußball vor drei Jahren die handstreichartige Einführung einer Super League zunächst krachend scheiterte, kommt jetzt eben die Champions League in aufgemotzter Form daher. Super League light, sagen manche. Mehr Teams, mehr Spiele, mehr Geld – die Europäische Fußball-Union (UEFA) bläht ihr Prunkstück im Vereinsfußball weiter auf. Statt bislang 125 Spielen werden 203 Partien pro Saison ausgetragen. Wobei: Bei 36 Teilnehmern ist allein der Name Champions League schon der größtmögliche Etikettenschwindel.
Mehr Begegnungen bedeuten mehr TV- und Sponsoren-Gelder für die UEFA und die Klubs, die höhere Einnahmen aus Fernsehgeldern, Sponsoren und Ticketing erzielen können. Die Auslosung der Mammut-Veranstaltung war so kompliziert, dass sie von künstlicher Intelligenz vorgenommen werden musste. Weil für die analoge Ausführung altertümlicher Art rund 1.000 Loskugeln nötig gewesen wären. Drei bis vier Stunden hätte das ganze Prozedere in Anspruch genommen. Andererseits: Das wäre neben der Tätigkeit als Co-Kommentator eigentlich eine hübsche Beschäftigungsmöglichkeit für in Not geratene Ex-Stars gewesen.
Die UEFA rechnet nach der Reform mit einer erheblichen Steigerung der Einnahmen. Die Klubs sollen insgesamt 2,47 Milliarden Euro bekommen. Kritiker befürchten jedoch, dass das viele Geld für die Königsklassen-Vereine zu einer weiteren, erheblichen Wettbewerbsverzerrung in den nationalen Ligen führt.
Der größte Unterschied zu früher: Weg vom Gruppen-, hin zu einem Liga-System. Das Vorrundenformat mit acht Vierergruppen wird ersetzt. Stattdessen entscheidet eine Gesamttabelle aller 36 Teams über das Weiterkommen. Jede Mannschaft bestreitet acht Hauptrundenspiele und damit zwei mehr als im bisherigen Format. Dabei treffen die Klubs in jeweils vier Heim- und vier Auswärtsspielen auf acht unterschiedliche Gegner. Die ersten acht Teams der Tabelle sind fix für das Achtelfinale qualifiziert. Die Klubs auf den Tabellenplätzen 9 bis 24 spielen in einer neuen K.-o.-Zwischenrunde um das Weiterkommen. Bei der Auslosung des Achtelfinales im kommenden Jahr wird der komplette Weg hin zum Finale am 31. Mai 2025 in München festgelegt.
Aber ein neues, ungewohntes Gefühl geht von diesem Tableau mit den 36 Teilnehmern bereits aus, schließlich stehen plötzlich auch fünf deutsche Klubs unmittelbar miteinander in Konkurrenz. Entsprechend viel deutschen Fußball wird es in den kommenden Monaten geben, statt sechs Spieltage in der Vorrunde gibt es nun acht. Exemplarisch steht der letzte Spieltag der Ligaphase am 29. Januar 2025: Alle 36 Klubs treffen in 18 Spielen parallel aufeinander. Die UEFA erhofft sich, dass es dann in etlichen Stadien noch um das Weiterkommen geht. Vom Achtelfinale an läuft die Königsklasse wie gewohnt, gespielt wird in Hin- und Rückspiel.
Direkte Duelle von Teams aus demselben Land sind zwar ausgeschlossen, dass Borussia Dortmund aber an den letzten beiden Spieltagen zum Fernduell gegen RB Leipzig um einen Platz unter den ersten Acht und damit um den direkten Einzug ins Achtelfinale antreten muss, ist gut vorstellbar – genauso wie ein solcher Kampf um einen Platz in den Play-offs zwischen Leverkusen und Stuttgart.
Bei den teilnehmenden Vereinen herrscht Euphorie – noch. „Ich bin total aufgeregt und freue mich auf diesen Modus“, sagt Hans-Joachim Watzke, der Geschäftsführer von Borussia Dortmund, während sein Leverkusener Kollege Fernando Carro hinzufügt: „Ich bin froh, dass das neue Format angenommen wird. Das wird eine spannende Champions-League-Saison.“
Noch liegt der Zauber des Unbekannten über diesem Wettbewerb, den keiner der Protagonisten durch skeptische Bemerkungen beschädigen möchte. Neben den deutlich aufgestockten Prämien müssen die Klubs aber eben auch mindestens zwei zusätzliche Spiele absolvieren. Es wäre daher ein kleines Wunder, wenn die Aussagen rund um die Winterpause angesichts überlasteter Spieler und ausgedünnter Kader dann immer noch genauso begeistert klingen würden wie jetzt zum Herbstanfang. Aber das Motto lautet: Weiter, immer weiter. Noch mehr Spiele, noch mehr Gewinne. Die nächste Chance ist ja schon fixiert. Am Ende der Saison beglückt der Weltverband FIFA, Belastung hin oder her, alle mit der neuen Mammut-Klub-WM. 32 Teams treten von Mitte Juni bis Mitte Juli in den Vereinigten Staaten an, was ganz passend ist, denn nebenbei läuft dort auch noch der Gold Cup, die Kontinentalmeisterschaft von Nord- und Mittelamerika und der Karibik.
Nun aber zum Handball. Nicht kleckern, sondern klotzen, dachte sich wohl Verbandspräsident Andreas Michelmann als er Anfang September in der Diskussion um die hohe Belastung der Topspieler gravierende Veränderungen im gesamten Ligasystem ins Gespräch brachte. „Der Handball muss in Gänze spürbar ran ans Programm, sonst besteht die Gefahr, dass sich unser Sport selbst auffrisst“, sagte er der Fachzeitschrift „Handballwoche“.
Dass sich Handballer verletzen (oder zumindest nicht fit sind), kommt in Wahrheit alles andere als überraschend. Das Programm von etwa 70 Pflichtspielen pro Kalenderjahr fordert in diesem körperlichen Spiel gerade die Spitzenakteure über alle Maßen; besonders schlimm wird es, wenn alle vier Jahre, wie in diesem Sommer, zum ständigen Wechsel zwischen Welt- und Europameisterschaften noch Olympische Spiele dazukommen. Das macht drei große Turniere binnen zwölf Monaten. Für viele Profis fiel die dringend benötigte mehrwöchige Regenerationsphase weg. Nur eine Woche Urlaub hatten die meisten deutschen Nationalspieler nach dem verlorenen Olympia-Finale gegen Dänemark.
Nun ist die Debatte um die Reduzierung des Pflichtspielprogramms im Handball fast so alt wie die Sportart selbst – stets mit dem Ergebnis, dass am Ende alles so bleibt, wie es ist. Es sind nicht nur die internationalen Verbände, die wegen ihrer immer mehr ausufernden Wettbewerbe kritisiert werden, in Deutschland ist zudem eine Interessenskluft zwischen Verband und Liga-Vereinigung seit langem nicht mehr zu übersehen.
Michelmann hält die körperlichen und mentalen Anforderungen an die Spitzenkräfte für zu hoch und schlägt als Reformidee nicht mehr und nicht weniger als die Einführung einer europäischen Handball-Liga vor. Starker Tobak, das muss man ihm lassen. So weit ist noch niemand gegangen. „Unsere Top-Spieler sind letztendlich in zwei Top-Ligen gefordert. Ich wäre gespannt auf die Diskussion, alle nationalen Ligen unter das Dach einer europäischen Handball-Liga zu stellen”, sagte Michelmann. Es brauche „fundamentale Änderungen”, und dazu müsse der Handball „möglicherweise raus aus bestehenden Strukturen: Warum sollen wir also für den Vereinshandball nicht in einem europäischen Zusammenhang denken und ein länderübergreifendes Ligasystem entwickeln, das beispielsweise die Konkurrenz zwischen Champions League und Bundesliga auflöst?”
Michelmann sieht dagegen auch eine Reduzierung der Bundesliga als denkbares Szenario, die Stärke der Liga und der enge Wettbewerb sei „Fluch und Segen”. Bis auf Frankreich und Dänemark gebe es mit Abstrichen keine vergleichbar starken Ligen in Europa. Die starken Klubs anderer Nationen seien „einfach auf die Champions League als große Bühne angewiesen”, so Michelmann.
Das klingt schwer nach der gescheiterten Idee einer Super League im Fußball, die, wie oben skizziert, heiß diskutiert und nie eingeführt wurde. Michelmann rüttelte die deutsche Handballliga pünktlich zum Start der neuen Bundesliga-Saison gehörig durch. Eigentlich sollte der Sport im Vordergrund stehen, die Freude über Olympiasilber, die Rückkehr von Weltklassespielern wie Andreas Wolff (beim THW Kiel) oder Kentin Mahé (beim VfL Gummersbach) oder der mit Spannung erwartete Vierkampf um die Meisterschaft zwischen Magdeburg, Berlin, Kiel und Flensburg. Doch dann stellt der DHB-Präsident mal eben so den Status der Bundesliga infrage.
HBL-Chef Bohmann zeigt sich entsprechend wenig amüsiert. Der Gedanke an eine Super League sei eine Idee „ohne Aussicht auf Erfolg“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Die Geschichte sei „null Komma null zu Ende gedacht.“ Die Einführung einer Super League sei für die Vereine überhaupt nicht attraktiv: „Nicht ein Klub würde das wollen.“ Auch die Reduzierung der Liga auf weniger Vereine sei kein Thema, da seien sich alle 18 Bundesligaklubs im Übrigen einig. Bennet Wiegert, der beim SCM außer Cheftrainer auch noch Geschäftsführer Sport ist, kann, wie er Magdeburger Journalisten in einer ersten Reaktion sagte, mit dem ganzen Thema „wenig anfangen“. Das sei „alles so weit weg“, außerdem könne er es ohnehin nicht bestimmen. Das sei eben Teil des „großen Show-Business“.
Natürlich lechzen sie in Kiel, Magdeburg und Flensburg auch nach internationalen Top-Partien gegen Barcelona oder Paris. Aber die Klubs sind zu einem großen Teil tief regional verwurzelt. Allein der SCM arbeitet mit 650 Sponsoren zusammen, die meisten davon aus dem regionalen Mittelstand. Ausverkaufte Hallen, die einen Großteil des Jahresetats erwirtschaften, melden die Vereine eben in der Bundesliga – und nicht in der Vorrunde der Champions League. Jenseits der Königsklasse ist der Europapokal für viele von ihnen oft sogar ein Zuschussgeschäft.
Bohmann selbst hatte kürzlich eine – ebenfalls recht radikale – Idee verbreitet, wie man die Zahl der Spiele reduzieren könnte: In einem Jahr mit Olympia solle man auf die sechs Monate später stattfindende WM verzichten, um den Spielern zumindest eine anständige Winterpause zu ermöglichen. Dies stieß – wiederum wenig überraschend – auf Widerstand bei Michelmann. Er hält von dieser Idee wenig bis nichts, die Turniere der Nationalmannschaften seien „alles überstrahlende Leuchttürme“. An dieser Stelle dürfe das Programm nun wirklich nicht gekürzt werden. Kleiner Erkenntnisgewinn fürs Publikum: Es könnte weiter spannend bleiben.
Nr. 264 vom 24. September 2024, Seite 28
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