Banal? Oder?

Zum Beispiel: Punkt, Punkt, Komma, Strich … – in Dutzenden von Kinderreimen findet sich der Spruch, in Liedern und Malbüchern. Von jedem Kind im Handumdrehen zu lernen. Noch einfacher die Mutter Erde: eine Kugel, und fertig. Banal? Nein, symbolhaft ist das. Schon auf den ersten, spätestens auf den zweiten Blick hin sind die Gesichter sehr unterschiedlich, ebenso, was die einzelnen Regionen unserer Erde anbelangt. Die jeweiligen Unterschiede sind es, auf die es ankommt. Schon die Suche danach ist reizvoll.


Ein Rundblick in ein voll besetztes Fußballstadion. Gesichter, Gesichter, Gesichter – all überall Punkt, Punkt, Komma, Strich. Ist da irgendwo eines, das aus der Reihe tanzt? Nein, kein einziges. – Oh …, der da, das muss Eberhard sein. Natürlich, er ist es! Das Grundmuster seines Gesichtes ist dasselbe wie bei uns allen, und doch ist Eberhards Gesicht anders als das der Anderen. Etwas Einmaliges hat es, etwas Unverwechselbares. Wieso eigentlich? Jetzt sieht Eberhard auch mich. Wie sich seine Miene aufhellt! Aufhellt, heller wird? Natürlich nicht, nichts leuchtet da, aber es scheint so. Jetzt flüstert er etwas in Richtung seines Nachbarn. Der nickt, seine Miene aber bleibt unberührt. Dann auch bei ihm ein kurzes Aufhellen. Und wieder normal. Ein eher durchschnittliches Gesicht, das des Nachbarn. Punkt-Punkt-Komma-Strich. Und doch ist auch seines anders als das der anderen. Muss ja auch, denn unter den heute auf der Erde lebenden acht Milliarden Menschen gibt es kein zweites, völlig gleichartiges Gesicht. Abgesehen von dem eineiiger Zwillinge.


Unsere nächsten tierischen Verwandten haben ebenfalls Gesichter, die Affen also, zumal die Menschenaffen – Schimpansen, Gorillas und Utans. Auch die „Tier“affen, die Meerkatzen, Paviane, Rhesusaffen. Mehr als die Gesichter von anderen Tieren folgen Affengesichter dem Punkt-Punkt-Komma-Strich-Prinzip. Je entfernter die verwandtschaftliche Beziehung aber, desto weniger kommen uns die Gesichter als „menschlich“ vor.

 

Äußerlichkeiten

 

Auf sie kommt es an, wenn wir nach Unterschieden fahnden. Zum Beispiel die von Blättern der verschiedenen Baumarten. Sie alle haben bestimmte Grundstrukturen, sind gezähnt, glattrandig, paarig gefiedert, unpaar gefiedert, breit, schmal.  So auch lässt sich anhand eines einzelnen Blattes die Artzugehörigkeit bestimmen. Gebuchtet sind die Blätter der meisten Eichenarten. Wer sich die Mühe macht, die einer Stieleiche miteinander zu vergleichen, ganz genau, wird feststellen, dass es von Blatt zu Blatt Unterschiede gibt. Trotz ein und derselben Grundstruktur. Nicht ein einziges Eichenblatt ist in der Form identisch mit dem eines x-beliebigen anderen. Und wenn schon, wen interessiert das? Alles andere als banal hingegen sind für uns die Unterschiede zwischen menschlichen Gesichtern. Und die können wir uns im Gegensatz zu den der individuellen Eichenblätter viel, viel leichter merken. Warum? Offenbar haben wir dafür eine besondere Begabung. Als soziale Wesen brauchen wir diese, um die Anderen als Individuen zu erkennen und zu akzeptieren.


Mehr noch, die Blätter der Bäume sind starr, sie haben kaum irgendwelche Eigenbeweglichkeit. Anders unser Gesicht. Dafür sorgen etwa zwanzig ungewöhnlich flache Muskeln, die unter der Gesichtshaut liegen. Hinzu kommen Gruppen feinster Muskelfasern. Sie entspringen am Schädel oder an bindegewebigen Strukturen und enden mit elastischen Sehnenfasern in der Haut oder den Weichteilen des Gesichtes. Ziehen sich diese Muskeln und Muskelchen zusammen, verschiebt sich die darüber liegende Haut, Furchen, Falten oder Grübchen entstehen. Und das in Abhängigkeit von der jeweiligen emotionalen Stimmung. Von der mimischen Muskulatur ist die Rede.

 

Mimik spiegelt

 

Lachen, weinen, schmunzeln, lieb gucken, zynisch oder böse, enttäuscht, freudig, hoffend, hochmütig – unser Gesicht soll mit mehr als 250 Tausend (!) verschiedenen Ausdrücken arbeiten. Aus dem zunächst banal erscheinenden Punkt-Punkt-Komma-Strich spiegelt sich dabei das Intimste, was wir dem Gegenüber anzeigen beziehungsweise was wir von ihm erfahren können. Die Botschaften, die wir so übermitteln, erfolgen zumeist unbeabsichtigt, können aber gut und gern auch absichtlicher Art sein. Schauspieler sind darin besonders geübt, manche dafür auch hervorragend begabt. Denn einfach ist es nicht, mimisch glaubhaft Freude oder Trauer oder Interesse zu spiegeln, wenn einem nicht danach zumute ist. Oder eher im Gegenteil. Schauspieler müssen das können. Auch Betrüger.


Der US-amerikanische Psychologe Paul Ekman erkannte in den 1960er Jahren, dass bestimmte Gesichtsausdrücke überall auf der Welt gleich sind und von jedem Menschen verstanden werden. Ekman sprach von sieben Basisemotionen, die jeder Mensch auf der Welt bei jedem anderen an dessen Mimik zu deuten weiß, egal welchem Gebiet der Erde er entstammt und wie gut man den Anderen kennt: Freude, Wut, Angst, Ekel, Trauer, Überraschung und Verachtung. Bei Wut sind die Augenbrauen typischerweise heruntergezogen, die Augen zusammengekniffen, die Nasenflügel stehen auseinander, und die Lippen werden mit Druck geschlossen. Bei Freude ist die Stirn entspannt, es bilden sich Lachfältchen, die Wangen sind angehoben, die Nasenflügel auseinandergezogen, die Mundwinkel gehen nach oben.


Punkt, Punkt – die Augen seien die Fenster zur Seele, heißt es.  Menschen blicken sich bei der Kontaktnahme in die Augen und signalisieren dabei Akzeptanz, Interesse oder Sympathie. Ebenso Antipathie. Beim Blickwechsel erkennen wir, inwieweit unserem Gegenüber zu vertrauen ist. Ob beim Flirten, im Job oder Vorstellungsgespräch: Die optimale Blickdauer sollte nicht länger als 3,3 Sekunden betragen, heißt es. Darüber hinaus wird aus dem Blick ein bedenkliches Starren.


In unserem Gehirn sind an emotional bedingten mimischen Reaktionen ganze Gruppen von Nervenzellen beteiligt. Die jeweiligen Aktivitätsmuster entsprechen in etwa denen, wie sie auch bei bloßer Beobachtung der Mimik eines Gegenübers entstehen. Man spricht daher von „Spiegelneuronen“. Selbst dann entsteht diese Art von Aktivitätsmustern, wenn man über den Gemütszustand oder die Handlungsabsichten eines Anderen nur nachdenkt! Seit der Entdeckung des Spiegelneuron-Prinzips im Jahre 1992 gibt es eine nahezu unüberblickbare Flut an Fachpublikationen. Solche „mirror neurons“ spielen für unser Zusammenleben eine große Rolle. Menschen erfahren auf diese Weise etwas über die Emotionen ihrer Sozialpartner. Durch bloße Beobachtung ihrer Mimik und Gestik können sie sich in deren Handlungsabsichten hineinversetzen und diese Handlungsweisen schließlich auch nachvollziehen.


Im Falle der Verachtung seitens anderer resultiert im eigenen Spiegelneuronsystem ein Aktivitätsmuster, das etwa dem entspricht, wenn wir selbst es sind, die jemanden verachten. Nur eben dass der Grund dafür auf uns selbst bezogen wird. Scham, Reue, schlechtes Gewissen entstehen. Starke Gefühle sind das, solche mit Bestrafungscharakter. Umgekehrt, wenn die Mimik des Gegenübers Anerkennung signalisiert, erfüllt uns das mit Freude, vielleicht sogar mit Stolz. Das wiederum bestärkt uns in unserem Verhalten. – Der Vorteil für die Sozietät liegt auf der Hand.

 

Null-Acht/Fünfzehn

 

Nur eine Ziffernfolge ist es. Sie bedeutet, etwas dieser Art zur Kenntnis zu nehmen, ist nicht der Mühe wert. Ursprünglich war 08/15 eine Typenbezeichnung, mit der im Ersten Weltkrieg ein Maschinengewehr eingeführt wurde. Schon zu Beginn soll es ein wenig veraltet gewesen sein. Tagtägliches eintöniges Training erwartete die Soldaten, und bald hatten sie das ganze Drumherum gründlich satt. Im Jahr 1954 erschien dazu unter dem Titel “08/15” eine Roman-Trilogie, die wesentlich zur Verbreitung des Begriffs beitrug. Er steht heute für banal, belanglos, langweilig, gewöhnlich, alltäglich, mittelmäßig. Kurz: weg damit! Vorträge, Filme können Null-Acht/Fünfzehn sein, die Nachbarn, die Unterhaltung mit ihnen oder mit Kollegen, das Essen, die Kleidung. Ein wenig boshaft heißt es, auch für das deutsche Beamtentum würde der Begriff gebraucht – für „Null Ahnung, 8 Stunden Anwesenheit, A 15 Besoldung“.


Wer auf der Suche nach etwas Interessantem allabendlich das Fernseh-Angebot durchcheckt, wird dessen bald überdrüssig. Alles so oder so schon mal gesehen. Gleich ob Krimis, Liebesfilme oder Naturfilme – immerzu gleiche oder ähnliche Mus-ter. Wenn Natur, dann nicht lange hin und ihre Gefährdung wird zum Thema. Kaum jemals wegen der Überbevölkerung, sondern fast immer wegen des Klimawandels. Null-Acht/Fünfzehn eben. „Klimawandel“, viele wollen den Ausdruck nicht mehr hören, zumal nichts vom „menschgemachten“ und nichts von CO2. Sie vermuten, dass es sich hierbei um Scheinargumente handelt, um damit politisches und wirtschaftliches Versagen zu kaschieren. Man hat von Gegenargumenten gehört oder gelesen, nie aber kommt es zu einem öffentlichen Diskurs. Auch an den Hochschulen und Universitäten fehlt die Debattenkultur. Allüberall Duckmäuser. Besser in solcherlei Hinsicht weiterhin 08/15, sagen sie sich, als durch Heldenmut die eigene Position zu gefährden!


Null-Acht/Fünfzehn gilt sogar für die tagespolitischen Sendungen, die von staatlichen oder staatsnahen Anstalten ausgestrahlt werden. Die für den Pepp zuständige Opposition – die eigentliche, also nicht die rötlichgrünlich gefärbten Unionsparteien – kommt dabei entweder gar nicht vor oder, wenn doch, in einer die Opposition diffamierenden Weise. Abend für Abend wäre eine Fülle an brisanten Nachrichten zu berichten. Allein schon die Frage, sollten die Deutschen weiterhin ihr Deutschland opfern, um die Welt zu retten? Ersatzweise wartet man dem – Zwangsgebühren zahlenden – Konsumenten mit Details aus Ländern auf, die er nicht oder kaum kennt und die ihn daher auch nicht oder kaum interessieren. Ein Wetterbericht ohne Hinweis auf den Klimawandel oder auf Unwetter oder unwetterartige Ereignisse ist kaum noch denkbar. Wenn nicht in unseren Breiten, dann sonst wo auf der Welt. Null-Acht/Fünfzehn eben. Was mit derartigen Vereinseitigungen angerichtet wird, hat jüngst die Corona-Politik gezeigt. Gegenwärtig sollen es die Affenpocken richten.


***


Am Ende ist zu fragen, ob es Banales überhaupt gibt, zumal in der Politik, für die das Banale zum Instrumentarium wird. Dann werden, genauer betrachtet, sogar die banalsten Banalitäten interessant. Man muss es nur wollen, das genauere Betrachten! Metaphorisch schon ist es der Blick in den Wassertropfen, per Mikroskop. Und ein weiterer dann in die Hinterzimmer der Parlamente und in die der Rundfunkanstalten und Redaktionsstuben großer Zeitungen.


Punkt-Punkt-Komma-Strich – am Ende sollte sich jeder selbst fragen, ob es Banales überhaupt gibt. Was auch immer es sei, genauer betrachtet, werden sogar die banalsten Banalitäten interessant. Man muss es nur wollen, das genauere Betrachten! Metaphorisch schon ist es der Blick in den Wassertropfen. Und ein zweiter dann in die Redaktionsstuben einer großen Zeitung.

 

Prof. Dr. Gerald Wolf

Nr. 264 vom 24. September 2024, Seite 12

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