Gerangel um eine Spritze
Unaufwendig Übergewicht abzubauen ist ein sehr verständlicher Wunsch. Leider sind Diäten auf Dauer oft nicht erfolgreich. Eine für Diabetiker neu entwickelte Arznei hat eine Abnehm-Revolution eingeleitet. Diese weckte die Begehrlichkeit von Übergewichtigen und Nicht-Bedürftigen.
Von Prof. Dr. Peter Schönfeld
Dass nach den Eisenbahnern und den Bauern nun auch noch Apotheker auf die „Barrikaden“ gegangen sind, verwundert den Außenstehenden. Man hatte doch den Eindruck, dass nach der Wiedervereinigung neue Apotheken wie Pilze aus dem Boden geschossen sind? Demnach musste doch der „Nährboden“ für Neueröffnungen lange Zeit gut gewesen sein? Was hat sich also in den letzten Jahren zum Nachteil der Apotheken verändert?
Vor wenigen Monaten hat die Mehrzahl der 18000 Apotheken in Deutschland wegen mangelnder Wertschätzung durch die Politik, einer überbordenden Bürokratie und rasant steigender Kosten für Lohn- und Energie protestiert. Dazu kommen noch die chronischen Lieferengpässe, die inzwischen mehrere Hundert Arzneien betreffen, die nicht mehr in der benötigten Menge geliefert werden können. Aber auch das Umschiffen der Engpässe bei Medikamentenbeschaffung kostet viel Zeit, die an anderer Stelle fehlt. Widerspruch gibt es auch gegen das angekündigte Apotheken-Reformgesetz, das nach Sicht vieler Apothekerinnen und Apotheker keine Kosten sparen wird, sondern nur Leistungskürzungen für den Kunden verursacht. Zusätzlich schwebt über allem auch noch das Damoklesschwert der zu erwartenden Erkältungssaison. Last, but not least, es gibt ein kurioses Gerangel um eine Arznei, aber dazu später.
Übergewicht mit endemischem Ausmaß
Wie so vieles andere auch, unterliegt das Schönheitsideal dem Zeitgeschmack. Im Barock galt ein überformter Frauenkörper als attraktiv. Als attraktiv gilt heute, zumindest im europäischen Kulturkreis, ein schlanker, gut proportionierter, Gesundheit und Sportlichkeit ausstrahlender Körper. Im täglichen Leben ist es allerdings nicht so leicht, denn ein diesen Ansprüchen genügendes Körpergewicht ist angesichts der zahllosen lukullischen Verführungen auf Dauer schwer zu halten. Nach einer Studie von 2019/2020 sind in Deutschland zwei Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen übergewichtig. Das hat u. a. auch zur Folge, dass sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten für das durch Übergewicht verursachte Krankengeschehen aktuell auf 63 Milliarden (FAZ 17/09/2023) belaufen. Obwohl Jugendliche auch seit Jahren immer dicker werden, wird das von denen kaum wahrgenommen. Nach einer Studie der Universität Luxemburg gibt es heute viel mehr Jugendliche als früher, die ihr Gewicht geringer einschätzen als es die Waage anzeigt. Bei einer so verzerrten Wahrnehmung ist das Bemühen um Gewichtsreduktion gering. Außerdem werden die Anstrengungen der Abnehmwilligen von der Body-Positivity-Bewegung in Frage gestellt. Deren Anhänger finden es nämlich „übergriffig und unverschämt von jemandem zu fordern, dass er abnehmen müsse“. Nach ihrer Sicht ist jeder so schön wie er ist, und somit gilt Übergewicht als etwas ganz Normales. Dass jahrelanges Übergewicht auch den Weg für Erkrankungen, wie Diabetes-Typ-2 ebnet, gehört nicht zu ihren Aufklärungsaktivitäten. Das liegt wohl daran, dass die Aktivisten der Body-Positivity-Bewegung oft jung sind und noch nicht die Sorgen und den Leidensdruck vieler älterer Adipöser empfinden. Aber die Body-Positivity-Bewegung hat auch eine positive Seite. Ihre Aktivisten bekämpfen die Stigmatisierung dicker Menschen durch die Gesellschaft und ermutigen Übergewichtige ihr Leben mit Selbstbewusstsein zu gestalten.
Ein sehr deutliches Übergewicht wird heute von den Ärzten als chronische Erkrankung bewertet, und nicht mehr nur als Ausdruck von Willensschwäche abgetan. Trotzdem, viele leiden unter ihrem Übergewicht und versuchen es auf verschiedene Weise zu verringern. Abgesehen von der einfachsten und preiswertesten Strategie, der disziplinierten Kalorienaufnahme in Kombination mit viel Bewegung, gibt es je nach Ausprägung des Übergewichtes unterschiedliche Wege für die Gewichtsreduktion. Dazu zählen die Magenresektion, das Magenband, die Kryotherapie oder die LowCarb-Diät (kohlenhydrat-arme Ernährung).
Ein schlecht beherrschbarer „Fettverbrenner“
Es war eine Zufallsentdeckung, die zur ersten Diätpille führte. Deren Entstehungsgeschichte begann vor 100 Jahren in einer französischen Munitionsfabrik. Ihr Wirkstoff war das Dinitrophenol (DNP), ein Zwischenprodukt bei der Herstellung der Pikrinsäure. Letztere ist mit dem Sprengstoff TNT verwandt. Nebenbei gesagt, bevor deren explosives Wesen entdeckt wurde, färbte man mit der Säure die Seide und Backwaren gelb. Arbeiter, die mit dem Zwischenprodukt DNP Kontakt hatten, verloren schnell an Gewicht, klagten über ständiges Schwitzen, Durst und litten u. a. an Herzrasen. Diese Symptome zusammengenommen legten nahe, dass das DNP den Energieumsatz des Körpers stark erhöht. Aber erst ein halbes Jahrhundert später begann man zu verstehen, wie es dazu kommt. Seine Wirkung auf den Energiestoffwechsel des Körpers lässt sich am Bild eines Autos mit laufendem Motor verdeutlichen, das sich bei getretener Kupplung nicht vom Fleck bewegt und nur das Benzin verbrennt. Auf den Körper bezogen bedeutet das: Durch DNP wird vor allem die Verbrennung von Fett angeregt, obwohl der Körper keinen Energiebedarf hat. Deshalb schwitzt ein DNP-Konsument bei Tag und Nacht, im schlimmsten Fall kocht er sich zu Tode. Wegen dieser lebensgefährlichen Nebenwirkung wurde die Diätpille bereits nach sechs Jahren, 1938, in den USA wieder vom Markt genommen. Trotzdem, heute, Jahrzehnte später, wird der „Fatburner“ (illegal) im Onlineshop wieder gehandelt. Zu der Klientel gehören oft Bodybildner.
Danach wurde der Kampf gegen das Anwachsen der Fettpolster im Darm geführt, mit dem Ziel, weniger von den leicht resorbierbaren Fettsäuren bei der Verdauung zu bilden. Das geht natürlich dann am besten, wenn die aus der Bauchspeicheldrüse in den Dünndarm fließenden, fettspaltenden Lipasen (Enzyme) gehemmt werden. Mit dem Orlistat, einem aus Bakterien isolierten und chemisch abgewandelten Hemmstoff funktioniert das einigermaßen. Dadurch werden die Nahrungsmittel-Triglyzeride weniger in Fettsäuren und Glyzerin aufgespalten, und somit unverändert in Gestalt von Fettstühlen ausgeschieden. Ein Nachteil von Orlistat ist, dass der Appetit auf gutes Essen erhalten bleibt.
Eine Weiche muss im Kopf umgelegt werden
Bei stark Übergewichtigen ist das Sättigungsempfinden gestört. Wenn es nun aber gelänge, mit einer geeigneten Arznei ein Desinteresse am Essen zu erzeugen, dann wäre das ein gangbarer Weg für die Gewichtsreduktion. Dazu muss aber im Kopf beim Anblick von verführerischem Essen eine Weiche in Richtung – ich bin schon satt – umgelegt werden. Mit dem einmal pro Woche Spritzen der Arzneien Ozempic oder Wegovy gelingt das schon recht gut. Diese neuen Hoffnungsträger, die von dem dänischen Novo Nordisk Unternehmen in den Handel gebracht wurden, enthalten den gentechnisch-hergestellten Wirkstoff Semaglutid, einem Nachbau eines Darmhormons. Überflüssige Pfunde lassen sich damit bequem „abschmelzen“. Semaglutid wurde ursprünglich für Zuckerkranke mit Diabetes-Typ-2 zur Unterstützung des im Dünndarm gebildeten Glucagon-like Pepide-1 (GLP-1) entwickelt. Dieses Darmhormon regt nach dem Essen die Insulin-Ausschüttung der Bauchspeicheldrüse an und hilft so, den Blutzucker bei Zuckerkranken zu erniedrigen. Aber das Semaglutid wirkt nicht nur wie das körpereigene GLP-1 auf die Insulin-Ausschüttung, es besitzt auch Wirkungsorte im Gehirn. Dort aktiviert es bestimmte Nervenzellen im „Essen-Stellwerk“ des Hypothalamus, die den Appetit dämpfen. Außerdem verzögert es die Verdauung durch ein verlangsamtes Magenentleeren, und hält somit das Völlegefühl länger aufrecht. Mit Ozempic und Wegovy verlieren Übergewichtige in wenigen Monaten im Durchschnitt 15 % ihres Gewichtes. Allerdings sind damit oft auch (dosisabhängig) Nebenwirkungen verbunden, wie Übelkeit und Magen-Darm-Irritationen, die allerdings relativ schnell abklingen. Auch darf man mit dem Piksen nicht aufhören, denn sonst droht der Jo-Jo-Effekt.
Warum lässt sich aber der Gewichtsverlust durch längeres Spritzen nicht weiter steigern? Nach dem Verständnis der Medikamenten-Entwickler liegt es daran, dass auch noch andere Hormone, wie das GIP (Glukose-abhängige, insulinotrope Peptid), an der Gewichtsregulation beteiligt sind.
Die Abnehm-Revolution ist noch nicht zu Ende
Mit Ozempic und Wegovy begann die Abnehm-Revolution. Das vom Helmholtz-Zentrum in München neu entwickelte Tirzepatid („Mounjaro“ von Eli Lilly) ist noch Erfolg versprechender. So verloren in einer Studie schwer übergewichtige Versuchspersonen (2500 Teilnehmer) mit dieser Arznei im Durchschnitt 21 Prozent des Körpergewichtes innerhalb von 18 Monaten. In dem Tirzepatid sind die dafür verantwortlichen Molekülabschnitte von zwei Darmhormonen (GPT-1 und GIP) vereinigt. Außerdem wurde zur „Lebensverlängerung“ der Arznei im Körper eine lange Fettsäure an das Molekülkonstrukt „angeschweißt“. Als Laie kann man sich kaum eine Vorstellung davon machen, welcher jahrelanger Forschungsaufwand dem so leicht dahin Gesagten vorausging. Wo liegt das Hauptproblem? Die wirksamen Bausteine der kleinen Eiweißmoleküle GPT-1 und GIP mussten miteinander zu einem „Mischwesen“ verknüpft werden. Und dieses sperrig-konstruierte Molekülgeschöpf darf dem Immunsystem des Körpers nicht als fremdartig erscheinen. Das ist die eigentlich geniale Leistung der Forschung, einen eiweißhaltigen Wirkstoff zu entwickeln, der das Radar des Immunsystems unterläuft. Die Koexistenz zwischen Tirzepatid und dem Immunsystem kann man sich etwas übertrieben vielleicht so vorstellen. Ein Mischwesen aus einem Löwen vorn, einer Ziege in der Mitte und einem Drachen am Ende (Abbildung) darf im Tierreich nicht als unnormal auffallen.
Konkurrierende Begehrlichkeiten
Nach der Verschreibung von Ozempic (zugelassen 2018) war es den Ärzten schnell aufgefallen, dass sich bei ihren oft übergewichtigen Diabetes-Patienten nicht nur der Blutzucker normalisierte, sondern auch deren Körpergewicht abnahm. Das sprach sich herum und weckte das Interesse von mehr oder weniger übergewichtigen Nicht-Diabetikern an der Spritze. Auch normalgewichtige Prominente wollten mit Ozempic auf die Schnelle ein paar (vermeintlich) überflüssige Kilo „abwerfen“. Damit begann weltweit die Nachfrage zu steigen, woran die in den USA lebenden 100 Millionen Übergewichtigen maßgeblichen Anteil hatten. Zusätzlich ist die Produktionskapazität des weltweit einzigen Herstellers Novo Nordisk für Ozempic ausgereizt. Allein in Sachsen hat das Begehren der Nicht-Zuckerkranken nach dem Ozempic dazu geführt, dass Tausende der Zuckerkranken nicht angemessen versorgt werden können (Freie Presse 16/07/2024).
Um unter diesen Bedingungen die Versorgung für die Zuckerkranken mit Ozempic zu sichern, wurde das nahezu wirkungsgleiche Wegovy entwickelt. Dieses wurde speziell für stark übergewichtige Nicht-Zuckerkranke konzipiert und für Wegovy gibt es keinen Lieferengpass. Zu haben ist die Wegovy-Spritze allerdings erst ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 und nur auf Rezept. Die dafür anfallenden Kosten belaufen sich auf aktuell bis 300 € pro Monat und werden derzeit nicht von Krankenkassen übernommen. Naheliegenderweise versuchen Übergewichtige Ärzte zu finden, die ihnen Ozempic zur Diabetes-Therapie auf Kosten der Krankenkassen verschreiben. Auch muss es deshalb nicht verwundern, dass das Streben nach der Abnehmspritze kriminelle Energie geboren hat. So berichtete unlängst eine sächsische Apothekerin von so gekonnt gefälschten Rezepten, dass „mehrere Apotheker recherchieren mussten, ob es den ausstellenden Arzt wirklich gibt“. Es kann auch nicht verwundern, dass bei Nachfrage in den Medien wirkungslose Semaglutid-Fälschungen angeboten werden.
Nr. 267 vom 5. November 2024, Seite 22
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