Mit Sicherheit …
Die Fußball-Europacup-Spiele zwischen dem 1. FC Magdeburg und Bayern München bewegen die Fans 50 Jahren danach noch – sportlich wie politisch. Eine Ausstellung gibt Einblicke. Ihr Titel: „Kalter Krieg in kurzen Hosen“.
Von Rudi Bartlitz
Die Zahl Fünfzig lässt den 1. FC Magdeburg das gesamte Jahr 2024 über nicht mehr los. Erst die glorreiche, fast zwölf Monate währende und durch zahllose Festivitäten geprägte 50. Wiederkehr jenes Tages, als am 8. Mai 1974 in Rotterdam der Gewinn des Fußball-Europapokals gefeiert wurde. Ein Triumph – selbst wenn der Hinweis sich wiederholen mag –, der keinem anderen DDR-Team gelang. Jetzt nun, freilich alles ein paar Nummern kleiner, die Erinnerung an die ebenso spektakulären wie politisch aufgeheizten Duelle mit dem FC Bayern München im Landesmeister-Cup im Oktober und November desselben Jahres.
Der Parkplatz hinter dem Landesarchiv in der Magdeburger Brückstraße liegt in diesen grauen spätherbstlichen Mittagstunden ziemlich verwaist da. Wenn etwas vielleicht ins Auge fällt, sind es jene hohen Tafeln, die da sonst nicht stehen. Den kleinen grauhaarigen älteren Mann, der die ein Dutzend Platten begutachtet, scheinen die auf ihnen angebrachten Texte und Fotos magisch anzuziehen. Er liest, tritt zurück, beugt sich vor, liest weiter. So geht das minutenlang. „Ja“, murmelt Hilmar Thiele manchmal vor sich hin, „genau so war es.“
Was Thiele so fasziniert, ist eine Ausstellung über ein Fußball-Großereignis. Nämlich die beiden Achtelfinale-Spiele im Europapokal der Landesmeister zwischen dem 1. FC Magdeburg und dem FC Bayern München im Herbst 1974. „Ich war im Grube-Stadion dabei“, erzählt der 89-Jährige, nach kurzem Zögern, stolz dem Reporter. Und doch – es ist keine Schau des Sports, die hier im Fokus steht. Es geht vielmehr um die bis ins Kleinste organisierte Überwachung durch staatliche Sicherheitsorgane; die totale Observierung eines Fußballspiels in Zeiten einer unerbittlichen Auseinandersetzung der politischen Systeme Ost und West. Deshalb das treffende Motto: „Kalter Krieg in kurzen Hosen“.
Aus Thiele sprudelt es jetzt regelrecht heraus, als er von damals erzählt: „Mit viel Glück hatte ich mir mit Freunden aus meinem Betrieb EVM eine Karte gesichert. Am Germer-Stadion, wo der Vorverkauf stattfand, haben die Wartenden dabei sogar eine Mauer teilweise zum Einsturz gebracht.“ Und beim Spiel? „Ich muss gestehen, ich war damals glühender Bayern-Anhänger. Deshalb war ich da. Als ich im Stadion dann laut den Münchnern zugejubelt habe, bekam ich auf einmal einen kräftigen Stoß von hinten und schlitterte nach unten. Als ich mich wieder berappelt hatte und nach oben schaute, war der Schubser verschwunden.“ Seine Vermutung heute: „Das war wohl einer der vielen Stasi-Leute, die überall im Stadion hockten.“
Seiner Liebe zu den Bayern tat der kleine Zwischenfall übrigens keinen Abbruch. „Ich habe mir sogar einen Wimpel von ihnen schicken lassen – und er kam durch die DDR-Postkontrolle“, freut er sich noch immer diebisch. Nur etwas bedauert er, bevor er in die Pedale tritt und wieder nach Hause radelt: „Schade, den Termin des Zeitzeugen-Gesprächs (das mit der Schau im Landesarchiv verbunden war, d. Red.) habe ich verpasst. Aber die Ausstellung wollte ich mir nicht entgehen lassen.“
Thiele hätte sicher einiges beitragen können, als sich im rappelvollen Saal Zeitzeugen von damals und Spieler beider Mannschaften (Rainer Zobel vom FC Bayern sowie Wolfgang Seguin und Ulli Schulze vom FCM) trafen. „Einiges von dem, was die, die 1974 dabei war, erlebt haben, war selbst uns Historikern nicht bekannt“, sagte Kurator Dr. Rene Heise vom Zentrum deutsche Sportgeschichte der Kompakt-Zeitung. „Dem einen oder anderen Hinweis werden wir sicher in der Forschung noch nachgehen.“ Die Ausstellung, die jetzt ins Allee-Center gewechselt ist, präsentiert laut Heise eine Reihe bislang unveröffentlichter Archivalien (ein Teil von ihnen lagert im Landesarchiv Sachsen-Anhalt), darunter Bilder sowie Stasi- und Polizeidokumente. Sie zeichneten detailliert nach, inwieweit der Fußball ungeachtet aller politischen Gegensätze und staatlicher Überwachung einen unberechenbaren Spielball zwischen DDR und BRD bildete.
Bereits der Winkel, in dem einige der ausgestellten Fotos aufgenommen wurden, lässt erahnen, dass hier keine alltäglichen Schnappschüsse entstanden. Verwackelt, aus exzentrischer Perspektive, zum Teil mit abgeschnittenem Kopf – so kommen einige Magdeburger Fußballfans ins Bild. Die ungewöhnliche Sichtachse ist den Umständen der Fotografie geschuldet: denn die Abgebildeten wurden heimlich abgelichtet. Das MfS bediente sich hierbei verschiedener Methoden: so etwa Kameras mit Knopfaufsatz, die unbemerkt an Körper und Kleidung getragen und bedient werden konnten. Nicht nur in Stadien, auch schon im Umfeld, auf Anfahrtswegen und Sammelpunkten in den Innenstädten, wurden die Schlachtenbummler nicht aus dem mechanischen Auge von Polizei und Geheimdienst gelassen. Sogar die Autogrammjagd begleiteten die Geheimdienstler. Nach Ankunft der Bayern eilte ein Fan Sepp Maier hinterher, um eine Signatur zu erhalten. Der Stasifotograf hielt im Laufschritt mit, nicht für eine Unterschrift des Fußballstars, sondern für eine kompromittierende Aufnahme seines jugendlichen Verehrers.
„Stadien stellten in den Augen der Staatsmacht Risikobereiche dar“, schreibt Heise in einem Aufsatz zusammen mit Co-Autorin Jutta Braun, „konnte doch in der Weite der Ränge und Traversen nicht jeder diszipliniert werden, der Staatsfeindliches artikulierte. Aus diesem Grund nahmen als Stadion-Reporter getarnte Informelle Mitarbeiter des MfS nicht das Spielgeschehen, sondern die Zuschauer ins Visier. Doch immer häufiger bemerkten die Fans, dass sie im Blickpunkt standen: so zeigen einige wenige Überwachungsbilder, wie die Beobachteten schützend ihre Gesichter mit den Händen verdeckten – oder fröhlich-ironisch in die Kamera winkten.“
Zurück nach Magdeburg. Wir schreiben den 6. November 1974. In der Bezirkshauptstadt war es ein bewölkt bis heiterer Herbsttag, die Temperaturen lagen bei sechs Grad. Ob dies in den minutiösen Planungen der Staatssicherheit für ihre Operation „Vorstoß II“, wie sie ihre heimliche Gefechtsübung nannten, relevant war und eine Rolle spielte, ist nicht überliefert. Umso genauer ist in den Archiven nachzulesen, mit welcher Akribie und Detailversessenheit die Überwachungen für das Rückspiel FCM versus Bayern angegangen wurden. Der Name „Vorstoß“ stammte übrigens von einer ähnlichen Operation der staatlich lizenzierten Kontrolleure aus dem Jahr davor, als das Cupspiel der Münchner bei Dynamo Dresden anstand. Um genau diesen Nachstellungen zu entgegnen, so berichtete Zobel jetzt, hatten die Bayern damals extra eine Zwischenübernachtung in Hof eingelegt und waren erst am Spieltag in Sachsen angereist. „Wir wussten, dass wir abgehört werden würden. Die Teambesprechung hat Lattek in Dresden deshalb in einen Park verlegt.“
Den Namen „Vorstoß“, so konstatierte Heise, hat „die Firma“, wie die Stasi auch genannt wurde, einfach für Magdeburg übernommen. „Vorstoß II” also. Er stand unter Leitung von Generalmajor Rudi Mittig, einem späteren Stellvertreter von MfS-Chef Erich Mielke. Für die Aktion waren, nur ein Beispiel, im Mannschaftshotel in Magdeburg Dutzende Geheimdienstmitarbeiter platziert. Ein streng vertraulicher Plan sah den „zielgerichteten Einsatz” von Spitzeln in den „Schwerpunkt-Etagen, an der Rezeption und an anderen Konzentrationspunkten” vor. Auch das belegen Auskünfte von Zeitzeugen 50 Jahre später. Auf diese Weise wollte man, so hieß das damals, „feindlich negative Kontakttätigkeit” verhindern.
Wie primitiv und teilweise albern die Schlapphüte und ihre Helfer vorgingen, beschrieben Zeitzeugen jetzt. So habe beim Besitzer einer Rückspiel-Karte eines Abends ein ABV (für jüngere Leser: Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei) an der Tür geklingelt und frech die Rückgabe des Tickets gefordert. Seine bizarre Begründung: der Mann sei im Stadion „nicht erwünscht“. Andere berichteten, wie sie in der Fan-Szene in jenen Tagen aktiv beschattet wurden. Selbst davor, eine angebliche Anti-Bayern-Stimmung in der Stadt vorzugaukeln, schreckten die Überwacher nicht zurück. Auf einem Ausstellungsfoto ist ein Plakat einer mit ziemlicher Sicherheit von der Stasi orchestrierten „Fan“-Gruppe zu sehen. „Ha-He-Ho, Bayern geht K.o.“, ist da zu lesen. Den Jungs von der Firma war offenbar nicht klar: So schreibt kein Fan!
In den Einsatzberichten der Magdeburger Polizei, die eng mit der Stasi kooperierte, finden sich viele weitere eher banale Beobachtungen. So die, Trainer Lattek habe „20 Bildautogramme an wartende DDR-Bürger” verteilt. Oder waren es doch 21? Kurz darauf seien „die Spieler Meier und Hönes” (gemeint: Sepp Maier und Uli Hoeneß) mit Autogrammkarten erschienen. Ex-Bayern-Akteur Zobel im Rückblick: „Weil wir wussten, dass wir ununterbrochen beobachtet wurden, haben wir, wenn wir an Tischen saßen, Autogramme unter der Tischdecke geschrieben. Auch um die Empfänger zu schützen.“ Aus Angst vor politisch brisanten Zwischenfällen steuerte die Stasi ebenso die Ticketvergabe, insbesondere für das Spiel in München am 23. Oktober. Kandidaten, „die nicht den Kaderprinzipien entsprechen”, seien „bereits auf Kreisebene abzulehnen”. Wer es in die engere Wahl schaffe, müsse bis zur Abreise „mit allen verfügbaren Mitteln” beschattet werden.
Obwohl seit längerem bekannt, spielte die Geschichte der Installation von Abhör-Wanzen in der Bayern-Kabine auch an diesem Zeitzeugen-Abend eine Rolle. Laut Torhüter Schulze habe sich FCM-Trainer Heinz Krügel dagegen verwahrt, als er die Stasi-Leute dabei ertappte, wie sie im Vorfeld der Partie den Raum verkabelten. „Ich will das nicht“, habe er ihnen zugerufen. Viele der Spieler wussten, dass er und Bayern-Coach Lattek „beste Freunde“ waren. Dies trug unter anderem dazu bei, dass Krügel bei den DDR-Oberen als „Ost-West-Versöhnler“ galt und zwei Jahre später ein Berufsverbot als Trainer erhielt.
Ein anderes, ausgiebig diskutiertes Thema auf dem Zeitzeugen-Abend: das für Sommer/Frühherbst 1974 avisierte Supercup-Spiel zwischen den beiden deutschen Europapokal-Gewinnern 1. FC Magdeburg (Pokalsieger) und Bayern München (Landesmeister). Von DDR-Seite wurde die Begegnung wegen angeblicher Terminprobleme abgesagt. Die politisch Verantwortlichen ahnten wohl schon, was dann im Spätherbst passieren sollte. Die Enttäuschung über die Absage ist Seguin noch 50 Jahre danach anzumerken. „Wir hatten uns riesig darauf gefreut, dass wir nun im Supercup auf Bayern treffen würden”, erinnert sich der 21-malige DDR-Auswahlspieler. „Doch als wir Magdeburger Nationalspieler von der WM 1974 zurückkehrten, herrschte eisiges Schweigen über den Termin.” Langsam dämmerte es dem Mittelfeldmann, dass es nichts werden würde mit dem Spiel: „Wir waren frustriert und sauer.”
In den Memoiren von Meistertrainer Heinz Krügel wird ein anderes Bild von der Begründung der DDR-Seite gezeichnet: „Ein UEFA-Vertreter, ein Jugoslawe, führte in Magdeburg Gespräche über das Spiel; daraufhin wurden wir von Verbandsseite und der Bezirksleitung der Partei gerügt und so stark unter Druck gesetzt, dass wir das Spiel absagen mussten.” Der UEFA-Vertreter verabschiedete sich vielsagend mit den Worten: „Dieses Spiel kommt noch zustande, dafür sorge ich.”
Und so fragt sich Seguin bis heute: „Ob der Jugoslawe dann beim Losen wohl ein wenig nachgeholfen hat? So mit heißer und kalter Loskugel?” Denn im Achtelfinale des Landesmeisterpokals 1974/75 kam es tatsächlich zum Aufeinandertreffen beider deutscher Vereine. Als Regisseur Jürgen Pommerenke im Hinspiel verletzt wurde, „machte unser Trainer Heinz Krügel einen seiner wenigen taktischen Fehler”, so Seguin, „er wollte die Bayern platt machen und wechselte einen dritten Stürmer ein, statt die Defensive zu stärken”. So konnten die Münchner das Spiel drehen, gewannen 3:2. Mit einem 2:1-Sieg in Magdeburg machten die Bayern im Rückspiel den Einzug ins Viertelfinale endgültig klar. „Unsere Chancen aufs Weiterkommen waren in München größer als zu Hause”, sagt Seguin heute. Und Zobel ergänzt: „In München war der FCM die klar bessere Mannschaft.“
Noch einmal zurück zur Stasi. Wer es heute mit Abstand von 50 Jahren liest, will seinen Augen nicht trauen – selbst nicht beim zweiten Hinschauen. An jenem 6. November 1974 standen zur „Sicherung“ des Stadioninnenraums – so ist es Dokumenten zu entnehmen – insgesamt 7.895 Personen zur Verfügung. Das war fast jeder vierte der insgesamt gut 33.000 Zuschauer im damaligen Ernst-Grube-Stadion. Diese setzten sich nach Angaben der Stasi-Unterlagen-Behörde so zusammen: 2.623 Mitarbeiter der Staatssicherheit (darunter auch ein Schriftfahnder) sowie inoffizielle Mitarbeiter (IM), 900 Volkspolizisten in Zivil, davon 23 Kriminaltechniker, 1.950 Angehörige der Kampfgruppen sowie 2.422 Angehörige anderer bewaffneter Organe.
Zahlen, die dem Wahrheitsgehalt eines oft zitierten alten Stasi-Kalauers im Nachhinein eigentlich nur traurige Bestätigung verleihen. Frage: „Wird das Stadion morgen voll sein?“ Antwort der zuständigen Organe: „Mit Sicherheit, mit Sicherheit…“
Nr. 268 vom 19. November 2024, Seite 38
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