Gedanken zum November
Von Paul R. Franke
Jetzt ist die Zeit der Tage, die dem Gedenken und der Trauer gewidmet sind: Volkstrauertag, Buß- und Bettag und Totensonntag. Das Wetter in dieser Jahreszeit passt meist dazu, neblig, kühl und regnerisch. Manchmal ist es wie eine ganztägige trübe Dämmerung. Man kann sich nicht vorstellen, dass diese traurigen Gedenktage im Mai oder gar im Sommer wären. Ihre Begründer haben sie sehr passend in den späten und oft trüben Herbst gelegt. Es ist nur natürlich, wenn einem als älterer Mensch – älter ist schon geschmeichelt – Gedanken an Tod und Sterben durch den Sinn gehen und man bei entsprechend ansprechbaren Freunden das Gespräch über solche Themen sucht, die sonst im Alltag eher verdrängt werden. Manchmal findet man auch Gedichte, wie das von Rainer Maria Rilke mit dem Titel „Herbst“:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Herbst ist zwar der Titel des Gedichtes und herbstlich auch die Beschreibung der Natur. Und dennoch versteckt sich in diesem Gedicht auch der Gedanke an Sterben und Tod: „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.“ Doch die letzten zwei Zeilen verkünden auch eine Hoffnung, dass das Sterben vielleicht nicht das Ende ist. Denn sie lauten: „Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ An dieser Stelle endet das Wissen und es beginnt die Hoffnung und der Glaube. Die meisten von uns haben schon Sterbende gesehen und vielleicht auch mit ihnen gesprochen oder sie sogar betreut. Was Sterben ist, das können wir uns gut vorstellen. Wer einmal eine schwere gesundheitliche Krise durchgemacht hat, hat vielleicht sogar einen Vorgeschmack davon gespürt. Aber auch wer es noch nie erlebt hat, hat durch Filme oder Bücher eine Vorstellung von verschiedenen Arten des Sterbens. Von langsamem Siechtum oder auch von dem plötzlichen Tod. Und wenn es nach unseren Wünschen ginge, dann wünschen sich die meisten vermutlich eher einen schnellen plötzlichen Tod und nicht das lange Siechtum auf einem Krankenlager oder gar in einem Intensivbett. Aber auch da sind gefühlsmäßig die Erlebnisse bei dem Sterbenden einerseits und seinen Angehörigen andererseits durchaus verschieden. Während ein schneller Tod für den Betroffenen vielleicht manchmal die beste Lösung ist, trifft er seine Verwandten und Angehörigen viel schlimmer, da es sie völlig unvorbereitet trifft; ganz im Gegenteil zu ihrem Erleben, wenn der liebe Angehörige über viele Wochen an einer schweren Krankheit leidet und schließlich stirbt. Dann wird es vielleicht sogar als eine Erlösung empfunden.
Vom Sterben wissen wir einiges. Aber was wissen wir über den Tod? Man kann es sich so einfach machen wie der griechische Philosoph Epikur, von dem der berühmte Satz stammt: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ Für Epikur und für viele von uns Heutigen sind es also zwei getrennte Welten, die beseelte Welt des menschlichen Lebens einerseits und die leblose materielle Welt auf der anderen Seite, bestenfalls kurzzeitig verbunden durch die Einbahnstraße des Sterbens. Die meisten Menschen aller Völker sahen das durchaus anders und brauchten für diese andere Sicht die Religionen. Nahezu alle Religionen, egal ob Christentum, Islam, Judentum oder polytheistische Religionen, wie der Hinduismus und auch diverse Stammesreligionen glauben, dass es ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tode gibt. Selbst die atheistische Religion des Buddhismus lehrt, dass es das Ziel eines frommen Lebens ist, von dem „Rad der Wiedergeburt“, dem Samsara, abzuspringen, um die eigene Seele in eine völlig andere Existenzweise, dem Nirwana eingehen zu lassen. Der Buddhismus kennt zwar keinen Gott, wohl aber eine Seele, die irgendwie und irgendwo, aber völlig anders weiter existiert.
Wir wissen nichts über den Tod, überhaupt nichts; aber es gibt viele Glaubensformen über ihn. Die wissenschaftlich geprägte Klugheit sollte nicht auf jene herablassend blicken, die an ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tode glauben und der Auffassung sind, dass der Tod nur den materiellen Teil von uns, den Leib betrifft. Denn, dass es keine Existenz der Seele – griechisch Psyche – mehr nach dem Tode gibt, das ist der Glaube der Wissenschaft, beweisen kann sie es mit ihren Methoden aber auch nicht. Glaubensfragen lassen sich nicht beweisen, deshalb ist es müßig darüber zu streiten. Nun werden als Beweis für das Fortbestehen der Seele oft sogenannte Nahtoderfahrungen angeführt. Sterbende sahen sich z. B. durch einen Tunnel gehen und kamen in ein wunderschönes, strahlendes Licht. Andere berichteten, dass sie sich von oben im Krankenbett liegen gesehen haben, auch die Menschen, die gerade an ihrem Bett waren. Gefühle von Liebe, Frieden, Geborgenheit und Schmerzlosigkeit werden berichtet. Einige Betroffene berichten von Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen oder Wesen, mit denen sie jeweils kommunizieren. Ein Verwandter von mir, der nach einem Herzinfarkt ohne Bewusstsein auf einer Intensivstation lag, erzählte später, dass er am Ufer eines Flusses gestanden hätte und von der anderen Seite des Flusses aus hätten ihm seine verstorbenen Eltern zugewinkt. Ich habe keinerlei Zweifel an diesen Schilderungen.
Nur – es sind Erlebnisse von Menschen, die eben nicht gestorben sind, sondern kurz davor waren. Es sind nicht die Erlebnisse von Toten, sondern Nahtod-Erlebnisse, also innere Erlebnisse von noch Lebenden. Sie hatten die unsichtbare Grenze, die das Leben vom Tode trennt und die nur in einer Richtung zu überschreiten ist, nicht überquert. Sie kamen ihr nur sehr nah. Hirnforscher versuchen die Nahtod-Erlebnisse auf ihre Art zu erklären: Im Zustand eines lebensbedrohlichen Sauerstoffmangels stellen manche Hirnareale ihre Arbeit ein und das Gehirn würde in einer Art Notprogramm solche Phantasien produzieren. Es ist möglich. Aber wieso entstehen gerade solche tröstlichen Bilder und Erlebnisse? Auch das wissen wir nicht. Forscher stellten fest, dass im EEG von Sterbenden sich eine völlig andere Aktivität zeigt. Doch die Frage eines Lebens nach dem Tode bleibt trotz aller Forschungen für uns unbeantwortet, wenn uns die Antworten eines Glaubens nicht genügen. Für gläubige Menschen aber ist es nicht nur eine wichtige und tröstende Hoffnung, sondern oft auch eine subjektive Gewissheit.
Doch vielleicht haben wir überhaupt keine Angst vor dem Tod, auch nicht die, die an keine Weiterexistenz nach dem Tode glauben? Vielleicht haben wir eigentlich nur Angst vor dem Übergangsstadium des Sterbens, vor dem Abschiednehmen, vor Schmerzen, vor Siechtum und allen damit verbundenen Unannehmlichkeiten? Jemand drückte seine Ängste in einem Gedicht so aus:
Wenn Du heut Nacht kommst, Tod,
was werd ich dir sagen?
„Tu mir nicht weh”,
werde ich sagen
und: „Mach es sanft.”
So möcht ich dich empfangen, Tod,
wie eine Frau den Geliebten.
Nr. 268 vom 19. November 2024, Seite 32
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