Der Schuh des Marathons
Mit neuen Wunder-Laufwerkzeugen werden die Rekordmarken auf der klassischen Strecke in letzter Zeit geradezu pulverisiert. Was steckt dahinter?
Von Rudi Bartlitz
Rekorde sind das Nonplusultra der Leichtathletik, sagt ein geflügeltes Sportler-Wort. Und das Schöne daran: es stimmt sogar. Wie es Aussagen, die auf einem hohen Erfahrungsschatz beruhen, in der Regel nun einmal so an sich haben. Immer weiter, immer schneller, immer höher: Menschen gehen immer wieder an ihre Grenzen, um neue Rekorde aufzustellen Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, ohne Rekorde hätte die Leichtathletik nie und nimmer ihren Aufstieg zur Kernsportart Olympias erlebt. Es ist eben ein einmaliges Gefühl, so gut wie kein anderer zuvor gewesen zu sein, egal, ob in der Welt, auf dem eigenen Kontinent, im eigenen Land.
Suchte man bisher nach Beispielen für oben Gesagtes, kamen normalerweise Sprint, Sprung und Wurf als erstes in den Sinn. Auch die Mittel- und Langstrecken sollen hier keineswegs unterschlagen werden. Was allerdings zuletzt in der Leichtathletik passierte, überrascht dann schon. Auf einmal schoben sich plötzlich die Marathonläufer – vor einem Dutzend Jahren noch unverdächtig, immer und überall auf Rekordhatz gebürstet zu sein – in die vorderste Reihe. Und zwar dann, wenn es um neue, teils unfassbare neue Bestmarken geht. Und Schuld daran hat – ein Schuh.
Es ist zwar nicht der des Manitu, aber „große Kraft“ – so eine der Übersetzungen für die amerikanische Indianer-Gottheit – wohnt dem neuen Schuh allemal inne. Soll das Wunder-Laufwerk kurz, knapp und möglichst einfach beschrieben werden, dann vielleicht so: Es ist ausgestattet mit einer Carbonplatte und federndem Schaum als Dämmstoff. Material, das die Läufer um ein paar Prozent schneller machen solle.
Aber was heißt hier ein paar Prozent? Die Kenianerin Ruth Chepngetich lief Mitte Oktober in Chicago als erste Frau einen Marathon in weniger als zwei Stunden und zehn Minuten. Eine weitere Schallmauer der Leichtathletik war zerstört. Sie pulverisierte mit dem Carbon-Schuh die alte Bestmarke geradezu. Und weil ihre Zeit (exakt 2:09:56 h) so abenteuerlich weit weg ist vom alten Weltrekord der Frauen, weil er in nur 13 Monaten um mehr als vier Minuten verbessert worden ist, gibt es Fragen in der Laufszene: Ist das, Carbon hin, Schaumstoff her, nicht zu gut, um wahr zu sein? Die Doping-Spekulationen waberten natürlich.
Als die Kompakt-Redaktion in diesen Tagen mit Eckhard Lesse, Magdeburgs bestem Marathon-Läufer aller Zeiten (Vize-Europameister 1974 / Bestzeit 2:12:02 h), sprach, zeigte sich der heute 75-Jährige gar nicht einmal allzu sehr überrascht von den neuen Rennmaschinen. Der Fortschritt der Technik lasse sich eben nicht aufhalten. Wenngleich, wie der Ex-SCM-Präsident hinzufügte, „die Zeiten von einst dadurch ein wenig verfälscht werden“. Mit den neuen Modellen könne nämlich die Flugphase bei den Laufschritten „um bis zu 25 Zentimeter verlängert werden“, erläuterte er. Seinem eigenen Laufstil wären die Wunder-Schuhe übrigens sogar entgegengekommen. Gerade für ihn als sogenannten Vorfuß-Läufer, so hat der gebürtige Ballenstedter mit einem befreundeten Trainingswissenschaftler jetzt mal durchgerechnet, hätte sich die Schrittlänge um einiges verlängern lassen. „Eine Zeit um 2:05 Stunden“, fügte er verschmitzt lächelnd hinzu, „wäre da eventuell sogar drin gewesen“.
Wie dem auch sei, die wichtigste Rolle für die Leistungsexplosion der Kenianerin dürften – neben der Verbesserung der Trainingsmethodik und der Ernährung eben die Schuhe gespielt haben. Seit zirka 2017 sind Carbon-Schlappen aus der Leichtathletik nicht mehr wegzudenken. Groß gemacht hat die Laufwerkzeuge Chepngetichs Landsmann Eliud Kipchoge 2019 mit seinem „Breaking-Two-Projekt“, als er mit einem Nike-Produkt unter (freilich irregulären) Laborbedingungen in Wien mit 1:59:40 erstmals die Zwei-Stunden-Marke unterbot. Die im Schuh integrierten Carbonplatten sorgen für eine Versteifung des Zehengelenks. So kommt es zu einer Energieeinsparung beim Laufen. Zudem ermöglichen spezielle Dämpfungs-Schaumstoffe in den Schuhen eine Art Energierückgewinnung.
Dass der Laufsport inzwischen auch zu einem Kampf der Schuhindustrie (vor allem: Nike versus adidas) geworden ist, wäre ein eigenes Thema und bedarf wohl angesichts von Millionen ehrgeizigen Hobby-Läufern (und somit potenziellen Kunden) keiner zusätzlichen Erwähnung. Um zu illustrieren, wie gigantisch die Chepngetich-Leistung ist: Experten sagen, dass eine 2:10 bei den Frauen im Marathon in etwa einer Zeit von unter zwei Stunden bei den Männern entspricht. Das gelang, wie gesagt, unter regulären Wettbewerbsbedingungen noch keinem Mann. Auf den ersten fünf Kilometern war die Kenianerin so schnell, dass sie sogar auf einem 2:06-Kurs war.
Wettläufe haben einen archaischen Charme. Am Ende eines Marathons lässt sich recht sicher sagen: Wer das Rennen gewinnt, ist der oder die Beste, hat die Kräfte am klügsten eingeteilt, hat die Konkurrenten wachsam beäugt und richtig eingeschätzt, zur richtigen Zeit das Tempo erhöht. Oder verfügt über die größte Ausdauer, das meiste Talent. Man könnte nach Marathonrennen über all diese Dinge sprechen. Über Renntaktiken, Leistungseinbrüche, die Dramaturgie des Wettkampfs. Über Schmerzen oder Zweifel während des Rennens und wie man sie überwindet.
Stattdessen ist nun oft das Hauptthema, wie beeindruckend der Kilometerschnitt war oder welche Rolle das Schuhwerk gespielt haben könnte. Und ob nicht bei diesem oder jenen Rennen der Weltrekord fallen könnte – bei gutem Wetter, mit den besten Tempomachern. Wissenschaftler grübeln, wie viele Sekunden man noch einsparen kann, Hersteller tüfteln am Material, das ultimative Ziel ist die nächste Bestzeit. Seit Wunderläufer Kipchoge mithilfe von Tempomachern und vorwegfahrenden Autos unter zwei Stunden lief, schwebt über Marathonrennen die Frage, wann der erste Mensch diese Marke auch unter Wettkampfbedingungen knackt. Derzeit hält sie auf der 41,195 Kilometer langen Strecke der Kenianer Kelvin Kiptum in 2:00:35 Stunden.
Die Faszination ist verständlich: Das Verschieben von Grenzen ist einer der wirksamsten Anreize für große Leistungen. Aber man kann zugleich bedauern, was dadurch vieles andere in den Hintergrund rückt. Es braucht eigentlich keine Bestzeiten für ein fesselndes Rennen, ein Duell auf den letzten Metern ist nach 130 Minuten nicht weniger packend als nach 120. Und Rekorde verlieren etwas von jenem Zauber, der sie umgibt, je häufiger sie gebrochen werden. Da macht der Marathon keine Ausnahme.
Nr. 268 vom 19. November 2024, Seite 37
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