Die unterschätzte Nationalität

Das Nationale und manche kulturelle Tradition stehen unter dem Verdacht, negative Folgen zu erzeugen. Allerdings wurde die Idee von Nation schon in der Geschichte unterschätzt. Und das mit fatalen Folgen. Ein historischer Blick auf fehlerhafte politische Verständnisse.


Von Thomas Wischnewski

Politisch wird das Keimen von Nationalismus und Patriotismus als ein rückwärtsgewandtes Gedankengut kritisiert und zurückgewiesen. Solchen nationalen Tendenzen, die im politischen Selbstverständnis heute vorrangig von der AfD vertreten werden, ist der politische Kampf angesagt. Im Vordergrund steht das Projekt eines Zusammenwachsens der europäischen Länder. Es lassen sich bei dem Ansinnen jedoch Defizite und Parallelen ausmachen, die bereits bei den marxistischen Bewegungen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sichtbar wurden. „Die Marxisten haben überall, wo sie in Europa auftraten, über die Nation gar nicht nachgedacht“, sagt der Historiker von der Humboldt Universität Berlin, Prof. Jörg Baberowski. Kommunisten bezogen sich dabei auf den Satz von Karl Marx, Arbeiter hätten kein Vaterland. „Damit war gemeint, dass sich die Lebensbedingungen von Proletariern weltweit so aneinander anglichen, dass es zu einer Interessengleichheit kommen würde. Und die Idee der Nation sei eine des Bürgertums, mit der Arbeiter nichts anfangen könnten“, sagt Baberowski. Deshalb sei für Kommunisten die soziale Frage immer wichtiger gewesen als die kulturelle. Nation wäre eher eine Glaubensfrage und weniger wirklich. Schließlich würde man die vielen Mitglieder einer Nation ja gar nicht kennen. Man kann es als Paradox bezeichnen, dass sich Personen einer Nation angehörig fühlten, obwohl ihnen die vielen anderen Angehörigen nicht bekannt werden.


Eine Zäsur zur Bedeutung von Nation brachte für Marxisten der 1. Weltkrieg mit sich. Plötzlich konnten millionenfach Menschen für ihre Nation mobilisiert werden. Selbst Sozialisten und Marxisten stellen sich dabei in den Dienst ihrer Nation. Außerdem wurde später sichtbar, dass Menschen in Finnland beispielsweise ganz andere Bedürfnisse und Interessen bewegten als Arbeiter in Polen oder Intellektuelle in Russland und Deutschland. Plötzlich wurde durch diesen ersten Weltkrieg deutlich, dass Nation eben doch eine Bedeutung hätte. Ein politisches Weiterso unter aristokratischen Eliten in Verbindung mit einer repräsentativen Demokratie war nicht mehr möglich. Menschen waren durch den Krieg politisiert worden und artikulierten Rechte für ihre Mitbestimmung. Weil die nationale Frage jedoch mit militaristischer Führungselite verknüpft wurde, bleiben am Verständnis zum Nationalen Schattenseiten kleben. Deutschland als Verlierernation, das in der Kriegsfolge mit gewaltigen Repressionen belegt war, erlebte wirtschaftlich turbulente Zeiten mit Hunger und Massenarbeitslosigkeit. Hierin kann ein Urkeim der Überbetonung des Nationenbegriffs durch die Nationalsozialisten gesehen werden. Und letztlich müsste der Aufstieg der Nazis auch damit erklärt werden, dass sie es unter der Zurückdrängung eines Nationalverständnisses in der Weimarer Republik leicht hatten, einen national konstruierten Begriff mit ihren rassistischen und faschistischen Inhalten zu besetzen.


Mit dem Ende des 2. Weltkriegs entstand unter politischen Vorgaben als Lehren aus dem Krieg die Trennung in einen Ost- und Westblock. Osteuropäische Länder sowie die deutsche Ostzone waren in die Machtsphäre der Sowjetunion eingehegt. Der europäische Westen inklusive Westdeutschlands bildete das Gegengewicht. Obwohl in Moskau die Fäden für die sozialistischen Satellitenstaaten gezogen wurden, gab es stets nationale Interessen, die gegen das Diktat des Kremls aufbegehrten. In Jugoslawien, Ungarn und der Tschechoslowakei wurde das sichtbar. Frankreich und Großbritannien haben ihr jeweiliges Nationalverständnis weitergelebt und gegenüber einem imperialen Machtstreben der USA deutlich ihre Eigenständigkeit betont.


Das Projekt für die Europäische Union, unter der sich die Mitgliedsstaaten versammeln sollten, sah eigentlich nie eine Auflösung der beteiligten Nationen vor und war im Kern hauptsächlich von wirtschaftlicher Kooperation und der Harmonisierung von marktwirtschaftlichen Mechanismen getragen. Dass damit Freizügigkeit im Reiseverkehr, eine einheitliche Währung und andere Erleichterungen für Menschen einhergingen, kann ebenfalls als positive Effekte begriffen werden. Allerdings wuchsen in Brüssel und Straßbourg gewaltige Bürokratieapparate heran, in denen sich die Interessen- und Kulturvielfalt europäischer Regionen nicht angemessen abbilden ließen und lassen. Durch die neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten von Polen bis Bulgarien sowie den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen veränderte sich das Gewicht in der EU. Diese Länder betonen aus ihrer Tradition andere nationale Interessen. In den vergangenen Jahren wurde das immer wieder in Streitigkeiten mit Ungarn und Polen sichtbar.


Über diese vielseitigen anderen Interessen wurde öffentlich jedoch immer wieder der Gleichklang Europas betont, vielleicht eben auch überbetont. Das Entstehen neuer rechter Parteien in Frankreich, den Niederlanden oder Österreich kann auch als Gegenbewegung zu mehr europäischen Angleichungsvorhaben verstanden werden. Auch die Gründung der AfD in Deutschland war anfangs ein rein eurokritisches Projekt. Dass die Artikulierung nationaler Unterschiede oft mit der Befürchtung zurückgewiesen wurde, dass dies die europäische Idee beschädigen würde, hat diese Bewegungen letztlich nur stärker gemacht. Es muss also erwogen werden, ob das heutige Erstarken nationaler und patriotischer Bewegungen vorrangig eine Folge einer politischen Elitenidee ist. Und hier wird durchaus eine Parallele zu Fehlern der Kommunisten im vergangenen Jahrhundert sichtbar. Die Abspaltung des Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) von der Partei Die Linke ist ebenfalls ein Beleg dafür, dass nationale Interessen eine Berechtigung haben und diese in der jüngeren Vergangenheit akademisch und politisch einseitig zurückgewiesen wurden. Wenn doch die Individualität bis hin zum Recht, seinen Geschlechtseintrag und Namen beim Standesamt auf Wunsch ändern zu können, so hochgehalten werden, warum sollen Menschen dann nicht ihr kulturelles Verständnis betonen dürfen?


Mit dem Beginn der großen Einwanderung 2015 verschärfte sich die Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Überwindung nationalkultureller Interessen und jenen, die ihr Nationalverständnis und ihre Traditionen marginalisiert sehen. Heute, neun Jahre danach, zeigt sich eine Lebenswirklichkeit, die belegt, dass sich Integration nicht unter schönen Losungen vollzieht. Die kulturelle Vielfalt, die sich heute durch zahlreiche Menschen aus unterschiedlichen Ländern, aus dem arabischen oder afrikanischen Raum oder aus Osteuropa ergibt, zeigt, dass ein harmonisches Miteinander nicht einfach herbeigeredet werden kann. Ganz viele Migranten arbeiten heute zum Beispiel bei Logistikunternehmen und werden dort kaum sichtbar. Viele Waren, die heute selbstverständlich online gekauft werden, wären gar nicht zustellbar, wenn nicht so viele jüngere Zuwanderer in dieser Branche tätig wären. Aber, und das ist die eigentliche Kluft, Migranten werden kaum oder gar nicht im kulturellen Leben sichtbar. Sie sitzen nicht in Theateraufführungen oder Konzerten, nicht im Kabarett und konsumieren keine deutsche Literatur und Medien.


Es ist nicht verwerflich, dass es diese kulturellen Unterschiede gibt, und man muss sie benennen dürfen. Je größer eine Gruppe mit anderer kultureller Tradition wird, dann wird sie sich auch eigene Institutionen wünschen, die beispielsweise über die Existenz einer Moschee hinausgehen.


Und noch ein Aspekt zur Unterstützung der Ukraine. Der Konflikt mit Russland ist eben ein zutiefst nationaler. Die eine Seite stellt die historisch russischen Wurzeln in den Mittelpunkt, die andere eigenständig ukrainische. Sollte es gelingen, dem Krieg ein Ende zu setzen und die Ukraine an Europa zu binden oder gar in die EU aufzunehmen, werden die ukrainischen Protagonisten, die für ihre Eigenständigkeit eingetreten sind, die EU weiter in Richtung eines nationalen Verständnisses verändern.


Als Fazit dieser Betrachtung darf man annehmen, dass nationale, kulturelle Vielfalt nicht einfach unter eine konstruktivistische überwertige Idee gestellt werden sollte. Offenbar wirkt das Verständnis von Nation viel tiefer in Menschen als man sich das gern gewünscht hätte. Wären also unterschiedliche nationale Interessen politisch besser berücksichtig worden, wäre das größer gewordene Gegengewicht seitens rechter Parteien sicher nicht in dem Maße gewachsen, wie sich das im heutigen Europa zeigt. Die Angst vor der Wiederholung von Geschichte darf nicht einzig an Folgen festgemacht werden, sondern muss vorherrschende Konzepte und ideologisch getragene Vorhaben kritisch unter die Lupe nehmen, und zwar, bevor es zu spät ist.

Nr. 268 vom 19. November 2024, Seite 4

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