„Mach dir einen schönen Tag!“

Eine Adventsgeschichte von Helga Schettge

Paul, schon fast 17 Jahre alt, war noch immer ein sehr lieber Junge. Regelmäßig besuchte er seine 91-jährige Uroma im Seniorenheim, wo man sonst nur selten junge Menschen antraf. Aber Paul hatte eine enge Beziehung zu dieser Oma. Sie war es, die ihm damals immer so wunderbare Geschichten vorgelesen und mit ihm gesungen hatte. Sie hatte ihm Leckerlis zugesteckt, die den wachsamen Augen seiner Mutter verborgen blieben, oder sie hatte einfach etwas Schönes gekocht. Vor allem aber hatte sie stets Zeit für ihn gehabt. Seit Opas Tod hatte sich ihre Gesundheit verschlechtert. Sie lebte nun in diesem kleinen Zimmerchen im Heim, das aber doch ganz gemütlich war. Alles so eingerichtet, dass sie mit dem Rollator dort gut zurechtkam. „Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein“, sagte Oma, wie sie überhaupt oft kluge Worte von sich gab.


Die Uroma hatte in der Zeitung gelesen, dass jetzt Weihnachtsmarkt ist. Als Paul gehen wollte, fingerte sie in ihrem Portemonnaie umher, nahm die letzte 50-Cent-Münze heraus und sagte zu ihm: „Mach dir einen schönen Tag!“ Paul, dem wohl bewusst war, dass die Omi nur eine kleine Rente hatte, nahm das Geld und bedankte sich.


Der Weihnachtsmarkt lag nicht allzu weit entfernt, man konnte ihn zu Fuß erreichen. Die Oma hatte wohl noch die Preise aus alten Zeiten in Erinnerung gehabt, in denen man mit einem Fünfziger durchaus hätte etwas anfangen können. Aber heute?


Gleich vorn neben der Weihnachtspyramide stand der alte Straßenmusikant mit seinem Akkordeon, der dort bei Wind und Wetter immer die gleichen Weisen spielte. Als Paul ihn sah, lächelte er ihn an und legte die Münze in den kleinen Becher, den er vor sich aufgestellt hatte. Der Akkordeonspieler freute sich und lächelte voller Dankbarkeit zurück. Diesen Vorfall hatte der Schmalzkuchenbäcker in seiner Bude beobachtet, der Paul zurief: „Hallo, komm doch mal zu mir rüber!“ Dort angekommen, drückte er dem überraschten Jungen eine große Tüte mit leckeren Schmalzkuchen in die Hand. So eine Freude! Während Paul aus der Warteschleife trat, beobachtete er, wie einer alten Frau ein 2,- Euro-Stück zu Boden fiel, der schon leicht mit Schnee bedeckt war. Sie hatte es nicht bemerkt. Sogleich bückte sich der junge Mann und gab der erstaunten Dame das Geldstück zurück. Diese war überrascht und sehr begeistert über den ehrlichen Finder. „Von wegen: Jugend von heute…“, murmelte sie vor sich hin und überreichte ihm einen 5-Euro-Schein. Paul wollte ihn zunächst nicht annehmen, aber sie ließ nicht locker: „Den möchte ich dir für deine Ehrlichkeit geben“, sagte sie. „Bitte, tu mir doch die Freude!“ So kam es, dass er nun direkt ein bisschen „vermögend“ war. Er schlenderte über den Platz, auf dem es von Menschen nur so wimmelte, und stand dann direkt vorm Riesenrad. Eine Fahrt kostete 5 Euro. Die konnte er sich ja nun leisten und tat es auch. Inzwischen war es dunkel geworden. Paul schwebte förmlich nach oben. Von dort aus sah er die große Stadt mit all ihren Häusern und Lichtern und auch den Glanz des Weihnachtsmarktes und den prächtigen geschmückten Tannenbaum. Wie schön das alles aussah! Paul blickte auf die geschäftigen Menschen, die zwischen den Buden hin- und her wuselten, um sich oder ihren Kindern den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen. Aber er dachte auch an diejenigen, denen es nicht so gut ging, weil sie andernorts hungern und frieren mussten. Als dann auch noch die Schneeflocken zu tanzen begannen, kam er sich vor wie in einem Weihnachtsmärchen.


Ach, diese Omi: Tatsächlich hatte er heute einen besonders schönen Tag erlebt. Er zog sein Smartphone aus der dicken Jacke und drehte ein kleines Video über den Weihnachtsmarkt mit all seinen besonderen Angeboten und dem unendlichen Lichterglanz. Das würde er der Uroma beim nächsten Besuch im Heim zeigen, damit auch sie auf ihre Weise einen besonderen Tag haben konnte. „Geteilte Freude ist doppelte Freude“ – auch diesen Spruch kannte er natürlich von ihr. Und mit Gedanken des Glücks und der Vorfreude machte sich Paul für heute auf den Heimweg.

Nr. 269 vom 3. Dezember 2024, Seite 13

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