Sag mir, wo die Dichter sind!

Renate Sattler über die aktuelle Lage der Dichterlandschaft von Sachsen-Anhalt

Literatur ist kein Leitmedium mehr, sagte mir der Lektor meines Romans. Einst war sie die Kunst, die wie keine andere fast jedes Wohnzimmer erreicht hat. Diese Zeit ist seit mindestens 20 Jahren vorbei. Doch kristallisiert sich in den letzten Jahren ein Trend heraus, der Schriftstellern Sorgen bereitet. Das Buch wird immer weniger geschätzt. Gekauft wird, was auf den Bestsellertischen liegt. Die wahrhaftige Literatur, meist aus kleineren und mittleren Verlagen, wird kaum wahrgenommen. Die Verlagslandschaft wäre ein anderes Thema.


Verdrängt wird das Buch vom Smartphone, von den sozialen Medien, von der virtuellen Spielewelt. Das beginnt bereits im frühkindlichen Alter. Der Beruf des Schriftstellers war einmal ein sehr angesehener. Lesungen gehörten für Bibliotheken und Kulturhäuser zum monatlichen Programm. Wenn ich an die letzten Lesungen zwischen Ostsee und Thüringen denke, bestand das Publikum meist aus Seniorinnen. 15 Besucher waren ein guter Durchschnitt. In anschließenden Gesprächen wird immer öfter nach den Druckkosten gefragt. Die Leute kommen nicht auf die Idee, dass es noch Verlage gibt, die den Druck übernehmen. Oft hören wir: Es ist Ihr Hobby und macht Ihnen Spaß. Dann können Sie doch umsonst lesen. Lesungen, die nicht durch Projekte finanziell gefördert werden, sind kaum mehr möglich. Bibliotheken fragten nach Lesungen für 50,00 € Honorar. Daraus schließe ich, dass der Beruf des Schriftstellers eine Entwertung erfährt.


Das Bedürfnis junger Menschen, sich schreibend zu erkunden und Freude am Schaffensprozess zu empfinden, hat ebenfalls abgenommen. SMS und Internet fordern viel Zeit. Sie führen den Nutzer in eine virtuelle Blase und entfernen ihn von der Wahrnehmung des Lebens mit allen Sinnen, die Voraussetzung für Literatur ist. Wenn ich über die letzten 35 Jahre hinaus zurückblicke, war das ganz anders.


Autoren fallen mir ein, die einen großen Wirkungsradius erreichten wie Helmut Sakowski, Johanna und Günter Braun, Inge Meyer, Harald Korall, Martin Selber und Ingrid Hahnfeld von den Verstorbenen. Von den Lebenden sind es Dorothea Iser, Bernd Wolf, Wilhelm Bartsch, Christine Hoba, Simone Trieder, Christoph Kuhn, Kurt Wünsch, Paul D. Bartsch und Monika Helmecke. Diese Aufzählung kann nur Schlaglichter werfen und stellt keine Wertung dar. Im internationalen Schriftstellerverband PEN sind 10 Kollegen vertreten. Im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) sind es 50.


Außer dem VS sind Kollegen im Friedrich-Bödecker-Kreis (FBK), im Förderkreis Halle und dem Förderverein der Schriftsteller e. V., der im nördlichen Sachsen-Anhalt aktiv ist, organisiert. Breit aufgestellt ist die Kinder- und Jugendliteratur. Mit der institutionellen Förderung des FBK durch das Land erhält diese besondere Aufmerksamkeit und Förderung. Unter Federführung des FBK finden in Halle und Magdeburg Schreibwerkstätten statt. Die jährlich einmal stattfindenden Landesliteraturtage als Höhepunkt des literarischen Schaffens werden vom FBK begleitet.


Darüber hinaus gibt es lose Zusammenschlüsse von Autoren in Halle und Magdeburg, bei deren Treffen über Texte diskutiert wird. Ab und an schlagen dort junge Talente auf. Andere, die mit Ausdauer arbeiten, haben Publikationen vorgelegt und in der Literaturzeitschrift Sachsen-Anhalts „Ort der Augen“ veröffentlicht.


In den letzten Jahren haben Romane, Erzählungen, Lyrikbände und Erzählungen Leser gefunden, die sich mit unserer Zeit, Geschichte und gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen. Von Neuerscheinungen aus 2023 und 2024 wären zu nennen: Simone Trieders Roman „Gastrow oder Die Poesie der Technik“, erschienen im Mitteldeutschen Verlag 2024. Nach „Unsere russischen Jahre“ ist es ihr zweiter Roman, in dem sie sich mit der Verschleppung der Spezialisten in die Sowjetunion auseinandersetzt. Sie erzählt die Geschichte ihres Großvaters, in der sich das wechselreiche Geschehen seiner Zeit spiegelt. Mit Renate Sattler kann man von Karawanenstraßen zur „Sternenschaukel“ reiten. In diesem Lyrikband, 2023 im Kulturmaschinen Verlag veröffentlicht, sorgt sich die Dichterin um die Wirkung von Dürre und Flut. Großmutter Mond bittet sie um Brot für die kleine Greta und für Mia aus der Ukraine um Frieden. Peter Hoffmann legte mit dem 2023 erschienenen Buch „Bitterfelder erinnern sich, Lebenswege – was beinahe in Vergessenheit geraten wäre“ weitere Biografien der ältesten Bürger seiner Region vor, damit Zeitgeschichte bewahrt und weitergegeben wird. Im Lyrikband „Flussfarben“, der vor kurzem in Burg Premiere hatte, wirft Dorothea Iser die Frage auf: Woher kommen wir und was bleibt?


Trotz der Lichtblicke und vielseitigen Stimmen lässt sich nicht übersehen, dass die demographischen Prozesse nicht an den Autoren vorbeigegangen sind. Der Schriftstellerverband ist überaltert. Die meisten Kollegen sind zwischen 60 und 85 Jahre alt. Nicht viel anders gestaltet sich die Zusammensetzung des PEN-Zentrums Deutschland.


Die meisten schreibenden Studenten und auch die in Werkstätten geförderten Kinder und Jugendlichen bleiben nicht in Sachsen-Anhalt. Infolge der Deindustrialisierung seit Anfang der Neunzigerjahre fehlen uns zwei Generationen.


Bücher waren Lebensbegleiter und vermochten, in der Gesellschaft Orientierung zu geben. In einer Zeit, in der keiner weiß, was am nächsten Tag passieren wird, das Gefühl der Sicherheit dem einer Orientierungslosigkeit, Stagnation und Untergangsstimmung gewichen ist, fällt Literatur, fällt Kunst noch weiter in die Schlucht, obwohl gerade sie neue Sichten und Horizonte öffnen könnte. Es bedürfte nur der Mühe, ein Buch jenseits des Mainstreams aufzuschlagen, vielleicht eines aus Sachsen-Anhalt. Vielleicht die „Mittagsnachtigall“ von Reiner Bonack, gerade erst erschienen. „Da ist der Horizont eines Wortes, des Wortes Stall beispielsweise: ummauerte Enge, eingesperrte Tiere, dumpfer Dunst, eine Futterkrippe, der Duft von Heu, der Schrei eines soeben geborenen Kindes, die wandernden Weisen, die einem Stern folgen – der Horizont eines Wortes, sein magisches Hintergrundleuchten, sie weiten sich plötzlich bis nach Bethlehem.“

 

Nr. 269 vom 3. Dezember 2024, Seite 11

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