C_the_unseen

Das ist doch kein Deutsch! Soll das vielleicht Englisch sein? Eigentlich auch nicht.


Das, was ich da zu lesen versuche, bringt mich ins Grübeln. Was soll das nur bedeuten, was da in der Überschrift steht? Aber überall dieser Text (wenn es welcher sein soll), auf Schritt und Tritt begegnet er einem; auf vielen Plakaten, Schildern, Fahnen und ähnlichem ist er aufgedruckt. Manchmal auch aufgegliedert in Abschnitte mit untereinander stehenden Buchstaben.


Ja, so der erste Eindruck nach einer Stunde Aufenthalt in der Stadt Chemnitz. Chemnitz, darum geht es. Europäische Kulturhauptstadt 2025. Nur das ‚C‘ in dem in der Überschrift angeführten Text deutet auf die Stadt Chemnitz hin. Und was mit dem Text gemeint, das erschließt sich mir, nachdem ich einige Werbeprospekte der Stadt angesehen habe. Und da verstehe ich auch, dass sich hier die Organisatoren der Kulturhauptstadt der englischen Sprache bedient haben. ‚the unseen‘ bedeutet ‚das Ungesehene‘, ‚das Nichtgesehene‘. Chemnitz ist nach Leipzig und Dresden die drittgrößte Stadt des Freistaates Sachsen und lag immer im Schatten dieser Städte. Sie war ein Ort mit einer starken Industrie und wurde in Bezug auf Kultur und Sehenswürdigkeiten weniger gesehen, war also mehr ‚ungesehen‘.


Wenn ich das alles nun richtig verstanden habe, dann interpretiere ich: ‚C_the_unseen‘ ist eben doch Englisch. Ganz geschickt gemacht. Auf den ersten Blick nicht gleich erkennbar. Wenn Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, noch an Ihren Englischunterricht in der Schule erinnern: Sie hatten da auch das englische Alphabet auswendig zu lernen. A – B – C … Der Buchstabe ‚C‘ wird so ausgesprochen (wir geben das hier in einer primitiven Lautumschrift in eckigen Klammern an): [si]. Stimmloses ‚s‘ und der Laut ‚i‘. Es gibt ein häufig auftretendes Wort in der englischen Sprache, das genauso ausgesprochen wird: ‚see‘, ‚to see‘, auf Deutsch ‚sehen‘. ‚See the unseen‘ = ‚Siehe das Ungesehene‘.


In der Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt hat sich Chemnitz gegen eine Reihe anderer deutscher Städte, darunter auch Magdeburg, durchsetzen können. Mit dem Motto ‚C_the_unseen‘ hoffen wohl die Organisatoren darauf, zahlreiche ausländische Besucher anzulocken. Halt, lieber Freund!, so höre ich eine Stimme. ‚ausländisch‘, das ist ein Wort, das nur noch im negativen Sinne gebraucht wird: ‚ausländische Straftäter‘, ‚unerwünschte ausländische Migranten‘. Du musst schreiben: ‚… zahlreiche internationale Gäste anzuziehen‘. ‚international‘, ein Wort, das in unserer deutschen Sprache auf dem Vormarsch ist, jedenfalls wenn Positives berichtet wird. Wenn wir jedoch dieses Wort in seine beiden Bestandteile ‚inter‘ und ‚national‘ zerlegen, erkennen wir, dass dieses Wort mitunter eigentlich doch fälschlich gebraucht wird. Sehen wir uns die Definitionen an, die Oxford Languages dazu gibt: International = 1. zwischen mehreren Staaten bestehend; zwischenstaatlich; Beispiele: „internationale Abmachungen, Verträge“, 2. über den Rahmen eines Staates hinausgehend, nicht national begrenzt; mehrere Staaten betreffend; überstaatlich, weltweit; Beispiel: „die internationale Küche“. Wenn Sie demnächst wieder einkaufen gehen, dann können Sie im Supermarkt in der Abteilung Internationale Weine Flaschen aus Frankreich, Spanien usw. und natürlich auch aus Deutschland finden. Aber sind das wirklich ‚internationale‘ Weine? Von den rund 300.000 als ‚internationale Studierende‘ bezeichneten Menschen, die gegenwärtig an deutschen Hochschulen eingeschrieben sind, kommen die meisten aus Indien. Ja, Sie können einen internationalen Führerschein haben, der wird durch alle oder zumindest durch viele Länder akzeptiert. Und die UNO ist tatsächlich eine internationale Organisation, sie wird durch zwischenstaatliche Beziehungen gebildet. Denn: ‚inter‘ = zwischen, ‚national‘ – auf die Nation, den Staat, bezogen. Aber vielleicht ist es eine Eigenschaft der Deutschen, möglichst viele Wörter aus anderen Sprachräumen zu verwenden. ‚international‘, das klingt doch viel eleganter, eindrucksvoller als das profane deutsche Wort ‚ausländisch‘?


Die Stadt Chemnitz ist nun bemüht, so viel wie möglich von ihrer Stadt sichtbar und erlebbar zu machen. Das Karl-Marx-Monument ist ein Element, das schon lange im Vordergrund steht. Zahlreiche Industriewerke, die inzwischen geschlossen sind, wurden und werden zu Museen und Wohngebäuden umgestaltet. Selbst ein Garagenhof, in dessen Boxen die Bewohner früher ihre Trabant-Pkws untergestellt hatten, war Ort für ein Konzert. Der 300 Meter hohe Schornstein eines Kohlekraftwerkes, das nicht mehr benötigt wird, wurde durch einen französischen Künstler bearbeitet und wird jetzt in der Nacht in verschiedenen Farben beleuchtet und gibt damit ein eindrucksvolles Bild. Für das Plattenbau-Gebiet „Fritz Heckert“, eines der größten Neubauviertel der DDR, wurde vor 50 Jahren der Grundstein gelegt. Wie einer der damaligen Architekten berichtet, wurde dabei darauf Wert gelegt, dass die Werktätigen kurze Wege zu ihren Arbeitsstätten hatten, von ihrem Wohnzimmer aus auf Parkplätze blicken konnten und dass sich Grünflächen und Bäume hinten an den Schlafräumen befanden.


In die Funktion der europäischen Kulturhauptstadt ist auch die umliegende Region einbezogen. Als größere Städte wirken dabei Zwickau, Freiberg und Zschopau mit. In Flöha, einer kleinen Stadt in rund 15 Kilometer Entfernung von Chemnitz, entsteht ein neues Zentrum auf der Grundlage von architektonisch beeindruckenden Industriebauten aus der Zeit des Beginns des 20. Jahrhunderts.  Diese ehemaligen Fabrikgebäude ziehen sich am Ufer des Flusses Zschopau unter dem Straßennamen „Alte Baumwolle“ hin und bezeugen den Fleiß der damals lebenden Menschen. Welche Vorstellungen verbinden Sie mit dem Begriff Drahtseilbahn? Da denkt man an Gondeln oder Kabinen, oder vielleicht auch an Sessel, die durch die Luft schweben und durch Seile an großen Pfeilern oder Stützen gehalten werden. Nicht so ist es aber bei der Drahtseilbahn, die von dem kleinen Ort Erdmannsdorf zum Schloss Augustusburg führt. Es handelt sich hier um einen leichten Straßenbahnwaggon, der auf Schienen mit Schwellen läuft, genau auf solchen Schienen wie die normale Eisenbahn. Ein Stahlseil, schätzungsweise von drei bis vier Zentimeter Dicke, zieht den Waggon über auf Schwellen gelagerte Führungsrollen rund 1,3 Kilometer nach oben zur Augustusburg. 


Schloss Augustusburg. Mehrere Ortsteile, also kleine Dörfer der Umgebung, sind angeschlossen, und mit fast 4.000 Einwohnern nennt sich Augustusburg Stadt. Steile Straßen rings um das Schloss. Für fast jedes Haus rings um das Schloss gibt es eine kleine Tafel, auf der die mehrere Jahrhunderte dauernde Geschichte des Hauses und seiner Bewohner beschrieben ist. Eine der engen Straßen trägt den Namen „Bärengarten“, denn die Fürsten hatten zu ihrer Belustigung und zur Jagd ein Gehege mit Bären eingerichtet. Im Laufe der Zeit kam es zu mehreren Angriffen der Tiere auf Bewohner, die an den schweren Verletzungen starben. In dem vorbildlich renovierten Schloss Augustusburg sind mehrere Museen untergebracht. Das Kutschenmuseum wird gegenwärtig erneuert und soll ab Frühjahr 2025 wieder besucht werden können.


Kommen wir nochmal auf unsere Sprache zurück. „Very cultural! Das Chemnitzer Land“ – so war der Titel einer Reportage des MDR-Fernsehens am 28. September 2024. Wie überall und immer mehr gibt es in Deutschland die Hinwendung zum Gebrauch von aus dem Englischen stammenden Wörtern.  Das MDR-Fernsehen nimmt dabei offensichtlich eine Spitzenposition ein. Bis vor einigen Jahren gab es an Mittwochabenden die Sendung mit dem Namen „Exakt“. Jetzt wird sie „Exactly“ genannt. Warum? In Chemnitz, wo natürlich der sächsische Dialekt überwiegt, fiel mir bei Gesprächen mit Einwohnern, aber auch bei Lautsprecherdurchsagen, ein Wort besonders auf: „sitti“. Nur durch den Kontext wurde mir klar: gemeint ist „City“. „Wegen Bauarbeiten in der ‘sitti’ ist die Buslinie gesperrt.“ Der Laut ‚s‘ ist beim Anfang aller deutschen Wörter stimmhaft: ‚Sommer‘, ‚suchen‘, ‚sehen‘ usw. Mit einem stimmlosen ‚s‘, das im Deutschen am Wortende vorkommt (‚Maus‘, ‚Haus‘, ‚bloß‘, ‚Genuss‘), haben manche von uns Schwierigkeiten in der Aussprache, wenn es am Wortanfang steht.


Am 18. Januar 2025, wenn das Jahr der europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz offiziell verkündet wird, wird die Aussprache des ‚s‘-Lauts sicherlich nicht die Hauptrolle spielen; es sei denn, eine oder einer der trotz Wahlkampf anwesenden Politiker greift das Motto auf: ‚C the unseen‘. 


Dieter Mengwasser
Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

 

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Nr. 269 vom 3. Dezember 2024, Seite 28

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