Lächerliche sechs Sekunden
Demnächst könnte es einer Fußball-Regel an den Kragen gehen, die in der Praxis eigentlich gar nicht angewendet wird.
Von Rudi Bartlitz
Magdeburger Fans wird diese Szene gewiss noch eine Weile in Erinnerung bleiben: Anfang Oktober, beim Zweitliga-Heimspiel gegen Greuther Fürth, trug Gäste-Keeper Noll den Ball schier endlos durch den Strafraum spazieren und spielte ihn erst dann zu seinem Abwehrkollegen Jung. Der, mit den Gedanken längst woanders, dachte wohl, dass er den Abstoß ausführen sollte – warum auch immer. Also nahm er den Ball in die Hand. Was danach kam, folgte innerer Kicker-Logik. Der Schiedsrichter zeigte auf den Punkt. Handspiel. Elfmeter.
Es war einer jener im Fußball seltenen und zugleich kuriosen Momente, in denen eine eigentlich längst existierende, aber in der Praxis selten bis nie angewendete Regel plötzlich in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Nämlich jene Vorschrift, die besagt, der Torwart darf den Ball nur sechs Sekunden in der Hand halten. Wie nachträgliche Zeitmessungen der ARD ergaben, soll sich Noll jedoch 16 Sekunden lang partout nicht vom Spielgerät habe trennen wollen. Die Strafe, wie gesagt, folgte auf dem Fuße.
Dabei ist es nach den verbindlichen Festlegungen des International Football Association Board (IFAB) in Regel 12 eindeutig formuliert: „Der Torhüter darf den Ball nicht mehr als sechs Sekunden lang mit einer Hand oder beiden Händen kontrollieren, bevor er ihn freigibt.“ Der IFAB weiter: „Neben Zeitschinden ist zu langes Ballhalten des Torhüters auch eine unfaire Taktik, da das gegnerische Team nicht in Ballbesitz gelangen kann, weil der Torhüter nicht angegriffen werden darf, wenn er den Ball mit einer Hand oder beiden Händen kontrolliert. Dieses Verhalten ist für die Zuschauer oft frustrierend.“
Warum nun die Schiedsrichter, bei weitem nicht nur in Deutschland, ausgerechnet mit dieser Sechs-Sekunden-Regel seit jeher auf dem Kriegsfuß stehen, wird wohl für immer ihr kleines Geheimnis bleiben. Ansonsten, siehe Abseitsregel, kann es ihnen gar nicht kleinlich genug zugehen. Da wird teils minutenlang auf den Kontrollbildschirm geschaut, da wird aus allen möglichen und unmöglichen Winkeln vermessen, ob nicht doch ein Körperteil eines Angreifers die gedachte Begrenzung (Achtung: ausgewiesene Fachreporter sprechen hier von einer kalibrierten Linie) um Bruchteile von Millimetern überschritten hat.
Und noch etwas fällt auf: Selbst von den Spielern, die sonst bei jeder vermeintlichen oder tatsächlichen Regelwidrigkeit des Gegners wild gestikulierend über den Rasen rennen, den Referee bestürmen und sich im Extremfall schreiend am Boden wälzen, hat man in der Vergangenheit bei Verstößen gegen die Sechs-Sekunden-Regeln nichts gehört und nichts gesehen. Das schien alles unter einem unerklärlichen Radar zu laufen.
Der ausbleibende Pfiff, so deuten es inzwischen Experten im Mutterland des Fußballs, könne sich damit erklären, dass die in einem solchen Fall auszusprechende Strafe wahrscheinlich als „zu drastisch“ empfunden wird. Das Regelwerk sieht nämlich einen indirekten Freistoß am Ort des Geschehens vor, was im eigenen Strafraum fast einer hundertprozentigen Torchance für den Gegner gleichkommt.
FCM-Cheftrainer Christian Titz outete sich jüngst als einer von denen, die die Regel lieber heute als morgen umgesetzt sehen würden. „Es gibt sie, aber sie findet derzeit leider keine Anwendung“, bedauerte er in einer Journalistenrunde. „Ich möchte, dass sie angewendet wird. Denn sie macht das Spiel schneller und interessanter.“ Zugleich komme mehr Spielfluss in eine Partie. Noch sei es jedoch so, dass die Regel „Verzögerungen hervorruft, die dann später nicht nachgespielt werden“.
Man weiß nicht genau warum, aber irgendwann schwante den Verantwortlichen hierzulande wohl, dass es so mit der Regel 12 nicht auf ewig weitergehen könne. Respektive: deren Nichtdurchsetzung. Zur neuen Saison, so im Spätsommer 2024 die Überlegung, sollten die Schiedsrichter im deutschen Profifußball offenbar vermehrt auf den Zeitspiel-Faktor durch die Torhüter achten. „Wir wollen eine schnelle Spielfortsetzung haben. Deshalb schauen wir auch darauf, dass der Torhüter den Ball nicht zu lange in den Händen hält”, erklärte Schiedsrichter-Chef Knut Kircher.
Dabei geht es aber ausdrücklich nicht darum, dass nun exakt bei der siebten Sekunde abgepfiffen wird und dann auch unmittelbar ein indirekter Freistoß erfolgt. Viel eher gehe es dabei um „eine Transformation”, wie Kircher es formulierte. „Wir wollen dahin zurück, dass wir weniger Zeit vergeuden, indem der Torhüter den Ball behält.” Genau die Zeit zu stoppen wäre allerdings „der falsche Ansatz”, betonte er.
Weiterhin sollen die Unparteiischen auf einen gewissen Toleranzbereich und ihr Fingerspitzengefühl vertrauen. Trotzdem wurden sie im Vorfeld zur neuen Saison sensibilisiert, um nochmal genauer auf diese Art des Zeitspiels zu achten. Eine Folge könnte sein, dass es eher mal eine Gelbe Karte für das Zeitspiel mit dem Ball in der Hand gibt. Wobei die Betonung wohl auf „könnte“ liegt, denn in der Praxis – vor allem im bezahlten Fußball – war davon bisher noch nicht allzu viel zu sehen. Siehe Magdeburg gegen Fürth.
Ein Stück weiter als in Deutschland ist inzwischen England. Die Premier League plant eine neue Fußball-Regel, die die Spielverzögerung von Torhütern stark einschränken soll. Der Chef der Schiedsrichter-Organisation Howard Webb hat über einen entsprechenden Plan im Pay-TV-Senders Sky berichtet. Das Ganze soll bereits in der Premier League 2, der Nachwuchsliga der großen Klubs, getestet werden. Aussehen soll es etwa so: Wenn Torhüter den Ball länger als sechs Sekunden festhalten und das Spiel verzögern, soll die gegnerische Mannschaft einen Eckstoß erhalten. Webb: „Nach drei Sekunden zählt der Schiedsrichter herunter, und wenn der Torwart so dumm ist, den Ball festzuhalten, gibt es eine Ecke.“ Fehlt eigentlich jetzt nur noch der Hinweis auf die alte deutsche Straßenfußball-Regel: Drei Ecken – ein Elfer.
Nr. 270 vom 17. Dezember 2024, Seite 41
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