Standpunkt Breiter Weg:
Neues Jahr, neues Unglück?

Der Spruch heißt eigentlich: Neues Jahr, neues Glück. Seit Kanzler Olaf Scholz den Weg für Neuwahlen freigemacht hat und der Bundestag ihm das Vertrauen entzogen hat, soll am 23. Februar ein neues Parlament gewählt werden. Manche glauben, dass mit dem Ampel-Aus ein Neuanfang verbunden sei. Nein, die Ampel ist nur weg, nicht jedoch die Probleme. Und am Abend des 23. Februars wird eine Regierungsbildung ganz sicher noch komplizierter werden als 2021. Wahrscheinlich dauert eine Koalitionsbildung bis Mai oder Juni. Das heißt, im Land setzt sich eine gewisse Lethargie fort.


Das industrielle Fundament, das auf mehr als 100 Jahre technologische Wurzeln gebaut ist, bröckelt weiter. Bei manchen Mittelständlern schwindet der Optimismus. Ja, die Regierung hat manches vergeigt. Die Fliehkräfte, die an diesem Land ziehen, sind aber größerer Natur. Die Kräfte in der Welt ändern sich. Je mehr Wertschöpfung in Asien, den USA oder anderen Nationen stattfindet, umso mehr wird der Standort Deutschland das Nachsehen haben – wirtschaftlich, sozial, politisch. Peer Steinbrück, von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister, sprach kürzlich aus, was sich viele nicht trauen. Ein Wachstum der Bequemlichkeit ist vorbei. Und er forderte, Politiker sollten den Bürgern hierzulande reinen Wein einschenken, dass es ohne Anstrengungen im Wettbewerb mit der aufstrebenden Welt nicht gehen wird.


Wohlstand entsteht nicht in der Freizeit- und Teilzeit-Hängematte. Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte entstand in Deutschland ein Verständnis, dass Wachstum gleichzeitig weniger Arbeit, mehr Freizeit, mehr Wohlstand, überhaupt für alle immer ein irgendgeartetes Mehr erzeugen würde. Doch die Produktivität in Deutschland sinkt, die Wettbewerbsfähigkeit schwindet, die Löcher in den Solidarkassen des Sozialsystems werden längst mit Steuern und Schulden gestopft. Die gesetzliche Krankenversicherung und die Pflegeversicherung sind defizitär. Deshalb steigen im kommenden Jahr die Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erneut. Mitarbeiter, die mehr als die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze verdienen, werden aufgrund ihrer Fachkräftenachfragen verlangen, dass steigende Sozialversicherungsausgaben durch Bruttolohnanstiege kompensiert werden. Das treibt die Arbeitskosten weiter in die Höhe, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen gerät weiter unter Druck.


Deutschland dreht sich weiter im Teufelskreis. Dass die nächste Regierung das Krisenknäul entwirren könnte, fällt in den Bereich der Mythen und Märchen. Die Anzahl der Menschen, die sich selbstständig machen, schrumpft. Wenigstens das private Gefühl der meisten Deutschen, dass es ihnen gut geht, stimmt noch. Ob dieses Gefühl ebenfalls einem Negativtrend folgt, muss man abwarten. Jene, die im sicheren Hafen der öffentlichen Hand ankern, wird es nicht schlechter gehen. Aber die Angst, dass sich die kriegerischen Konflikte ausweiten könnten, bleibt dafür weiter groß. Glücksaussichten sind wenig in Aussicht. Trotz alledem, friedliche Weihnachten und einen gesunden Rutsch ins neue Jahr, auch wenn das gemeinsame deutsche Glück an vielen Stellen hinterherhinkt.


Thomas Wischnewski

Nr. 270 vom 17. Dezember 2024, Seite 2

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