Zum Scheitern verdammt
Wo will die CDU die Mehrheiten hernehmen, um eine politische Kurskorrektur vorzunehmen? Notwendige Reformen scheinen schon jetzt verspielt zu sein.
Von Prof. Dr. Markus Karp
Die einst so gemächliche Bundespolitik ist inzwischen ein höchst rasantes Geschäft. Innerhalb von Wochen kann, was eben noch unumstößlich galt, Makulatur sein. Vor wenigen Monaten, in einer Zeit, die jetzt fern erscheint, als die Ampelkoalition noch Deutschland regierte, Kevin Kühnert der Generalsekretär der SPD und Kamala Harris auf der Siegerstraße unterwegs war, schien einmal mehr eine politische Schicksalsstunde gekommen zu sein. Da forderte die Union sofortige Zurückweisungen von aus sichereren EU-Ländern einreisenden Asylbewerbern an den deutschen Außengrenzen, weil eine nationale Notlage drohe. Sogar mit Ultimaten an den Bundeskanzler wurde hantiert und im hohen Ton an die Staatsräson erinnert, welche umgehendes Handeln erfordere. Die eilig anberaumten Gespräche, welche den Anstrich eines dramatischen Showdowns in letzter Minute hatten, platzten dann allerdings relativ schnell und es geschah – so gut wie nichts. Das politische Endzeitspektakel erwies sich dann doch nur als schnöder Budenzauber.
Wer nach Gründen forscht, weswegen die Entfremdung von unserem politischen System immer mehr zunimmt, obgleich die Zustimmung zur Demokratie als theoretischer Idee unverändert hoch ist, wird hier fündig. Obwohl in Berlin das Erregungslevel immer am Anschlag ist und permanent die letzte Schlacht zwischen Licht und Dunkelheit tobt, handelt es sich um einen rasenden Stillstand. Das ähnelt allmählich einem Jahrmarktskarussell: Die immergleichen Themen, Vorschläge und Köpfe tauchen auf, verschwinden, erscheinen aber nach einer Weile wieder, ohne dass sich etwas geändert hätte. Auf diese Weise bleiben in Deutschland seit Jahren die meisten Großprobleme liegen. Erwartungen werden immer wieder geweckt und enttäuscht, Bewegung gibt es im Wesentlichen auf Nebenschauplätzen, die aber von den Parteien mit großer Hingabe bespielt werden.
Ein Merz macht noch keinen Frühling
Die Union unter Friedrich Merz schickt sich an, diese Verknöcherung der deutschen Politik zu beenden, so zumindest der erklärte Anspruch. Es ist auch dringend nötig, die Bundesrepublik versinkt immer stärker in einer strukturellen Krise, aus der desto schwerer herauszukommen ist, je länger zu- gewartet wird. Die Ambitionen sind groß. Energiewende, Sozialstaat, Bürokratie, Wohnungsbau, Verteidigung, Migration, innere Sicherheit und vieles mehr, auf allen Gebieten hat die Union massive Reformen und einschneidende Kurswechsel angekündigt. Die wenigen Reformprojekte, welche der Ampel geglückt sind, sollen unmittelbar wieder korrigiert oder gleich ganz rückabgewickelt werden: Bürgergeld, beschleunigte Einbürgerung, Selbstbestimmungsgesetz, im Selbstbild der Ampelregierung also deren größte Erfolge, werden unter einer christdemokratischen Kanzlerschaft in dieser Form ebenso wenig Bestand haben wie die Cannabislegalisierung, so die vollmundige Ankündigung.
Aber wie will die Union den großen Worten kraftvolle Taten folgen lassen? An dieser Stelle fallen die konkret benannten Vorhaben und der nicht einmal im Ungefähren befindliche Pfad zur Umsetzung weit auseinander, was sich im Wahlkampf noch als Hypothek erweisen wird. Denn die potenziellen Unionswähler müssen ja auch daran glauben, dass das detaillierte Programm wenigstens in Teilen Wirklichkeit wird. Ein Merz macht eben noch keinen Frühling.
Die erste Gelegenheit, ihre Ziele umzusetzen, hat die Union verstreichen lassen. Angesichts der Implosion der Ampel gab es bei den Christdemokraten für einige Tage ein regelrechtes Feuerwerk an Vorschlägen, was nun alles in einem der Koalitionsdisziplin enthobenen Parlament abgestimmt werden könnte. Das war Parteichef Merz bald nicht mehr geheuer. Die Sorge um das Zustandekommen von „Zufallsmehrheiten“ mit populistischen Parteien trieb ihn dazu, im Schulterschluss mit den ehemaligen Ampelparteien eine Art Moratorium für parlamentarische Entscheidungen zu verhängen, inklusive der Streichung ganzer Sitzungswochen des Bundestages. Die Abstimmung über Zurückweisungen, im September noch als dringliche Entscheidung über Wohl und Wehe des Landes präsentiert, fiel dem Mitte November genauso zum Opfer wie die nur eine Woche vorher durch die Union ebenfalls selbst ins Spiel gebrachte Abstimmung über die Abkehr vom Verbrenneraus.
Friedrich Merz hat erkennbar die Erhöhung und Stabilisierung der Brandmauer zur AfD über die Umsetzung der eigenen politischen Ziele priorisiert. Er macht damit deutlich, dass er für den Vorschlag des vormaligen Vorsitzenden der CDU-Grundwertekommission, dem Historiker Andreas Rödder, sich wechselnde Mehrheiten zum Durchbringen christdemokratischer Politik zu suchen, nicht zu haben ist. Dass der Parteivorsitzende aus dem Sauerland die eigenen Vorhaben opfert, anstatt sie mit Unterstützung von als falsch angesehener Seite durchzudrücken, macht offensichtlich, dass das gern von Merz gezeichnete Bild des skrupellosen Rechtskonservativen nicht mehr als eine Karikatur seiner Gegner und eine Projektion seiner Anhänger ist.
Das aber führt zu einem Glaubwürdigkeitsproblem ganz anderer Art. Die Unionsparteien suggerieren gern, dass mit ihrem erneuten Regierungsantritt eine fundamentale Kurskorrektur, ein regelrechter Richtungswechsel verbunden sei. Das neue Grundsatzprogramm der CDU bricht mit der Floskelhaftigkeit und stellt eine sehr klare und distinguierte politische Linie vor. Noch weiter ging die schneidende Kritik an der Regierung von Olaf Scholz. Wie aber soll glaubhaft gemacht werden, dass es unter den Schwarzen zur Umsetzung kommt? Ein plastisches Beispiel sind die mit großem Bombast vom Parteichef selbst verlangten Zurückweisungen von Asylbewerbern. Was im September keine Woche mehr Zeit zu haben schien, kann nun in aller Ruhe auf die Zeit nach einer Regierungsbildung im Frühjahr vertagt, leicht also auch erst im nächsten Sommer wieder aktuell werden. Das lässt eigentlich nur zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder wurde das Problem durch die Union mit Theaterdonner aufgebauscht oder aber, es ist den Schwesterparteien doch nicht gar so ernst mit der Lösung der Probleme. Beides sind keine schmeichelhaften Deutungen und ungeeignet zum Wählerstimmenmagneten.
Es könnte sich also unter einem Kanzler Merz erstaunlich viel Kontinuität mit dem Wirken der Ampelregierung ergeben, denn reale Mehrheiten für ein energisches Herumreißen des Steuerrades gibt es überhaupt nicht. Friedrich Merz hat das erkannt. Er betreibt jetzt „Erwartungsmanagement“, was im Klartext heißt, dass dem Wahlvolk schon jetzt klar gemacht wird, dass die Erwartungen nicht zu hoch gehängt werden sollten. Der enge Schulterschluss mit Rot-Grün nimmt eine mögliche Keniakoalition vorweg, der größte Ehrgeiz zielt nicht auf Reformen, sondern eine Zweierkoalition ab. Deshalb wird die FDP derzeit einmütig aus allen Flügeln der CDU als unzuverlässig und links abgekanzelt. Ihr Ausscheiden aus dem Bundestag ist Vorbedingung einer solchen Koalition. Hingegen verschwinden inhaltlich allzu scharfe politische Beiträge allmählich aus den christdemokratischen Wortmeldungen, stattdessen werden koalitionäre Morgengaben wie die Abkehr von der Schuldenbremse und eine Neuregelung des Abtreibungsrechts ins Schaufenster gestellt. „Nur wer sich ändert, wird bestehen“, heißt ein 20 Jahre altes Buch des heutigen CDU-Kanzlerkandidaten. Seine alten Anhänger werden überrascht sein, wie dieser Titel nun einen ganz neuen Sinn bekommt. Ostentativ erklärt Friedrich Merz, dass er vom argentinischen Libertären Milei gar nichts halte, obwohl er einst mit dem Bierdeckel erreichen wollte, was jener heute mit der Kettensäge schafft.
Lavieren und taktieren, als wäre er schon Kanzler
Das Problem mit dem neuerdings fast schon merkelhaft agierenden Merz ist, dass er taktiert und laviert, als wäre er bereits Kanzler. Im Hochgefühl aufgrund des als demoskopisch gesichert angesehenen Kanzleramts verteilt er das Fell des Bären vor der Zeit und führt die bemerkenswerte politische Neuerung ein, Wahlversprechen zu kassieren, Koalitionsverhandlungen zu führen und Posten zu verteilen, bevor der Wahlsieg eingefahren ist. Der gefühlte Kanzler Friedrich Merz weiß, dass die Verwirklichung der markigen Forderungen, mit denen die Union im letzten Jahr der Ampelregierung von sich reden machte, mit seinem risikoaversen Kurs auf keinen Fall zu machen ist. Weder SPD noch Grüne werden ihre eigene Politik wegen eines Unionsmannes abwickeln, dem es im Wesentlichen um die Kanzlerschaft geht. Aus diesem Grund dämpft Merz die Erwartungen und konsolidiert bereits die Macht, die er schon für sich errungen zu haben glaubt. Deshalb distanziert sich Friedrich Merz von allem, wovon er fürchtet, dass es seinen Schlafwagen mit dem Ziel Willy-Brandt-Straße 1 entgleisen lassen könnte, im Zweifel auch von Friedrich Merz. Das aber ist in jedem Fall zum Scheitern verdammt. Entweder fällt der Union dieser Hochmut schon im Wahlkampf vor die Füße oder aber das Regieren erweist sich als schlimmeres Trauerspiel als die Ampelära, weil das leckende Schiff der Bundesrepublik im Auge des innen- wie außenpolitischen Sturms nicht mit Angela Merkels eingeschlafener Hand gesteuert werden kann. Die scheinkonservative Komödie wird sich aber für die bundesrepublikanische Demokratie als Tragöde erweisen. Wie geht es mit unserem politischen System weiter, wenn die führende Oppositionspartei nicht einmal zu dem Versuch gewillt ist, ihre mit viel Aplomb aufgestellten Forderungen auch tatsächlich umzusetzen?
Nr. 270 vom 17. Dezember 2024, Seite 4
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