„Die Rente ist nicht sicher“

„Die Rente ist nicht sicher“, soll das ein richtiges Deutsch sein? Zugegeben, ich habe auch zweimal hingeschaut. Diesen Text habe ich in Leipzig auf einem Plakat gesehen. Eigentlich ganz geschickt gemacht, diese Brüder. Diese Brüder, das ist ein Finanzdienstleistungsunternehmen. Sie werben, dass man ihnen Geld gibt, und sie versprechen, dass sich dieses Geld dann vermehrt und später quasi wie eine Rente ausgezahlt werden kann. Ein Angebot, das sich vor allem an jüngere Menschen richtet.


Aber zuvor dieser Satz „Die Rente ist sicher nicht sicher.“ Damit wollen die Verfasser dieses Spruches den Zweifel bekunden, dass für jeden Bürger die Rente im Alter garantiert ist. Für uns in dieser Rubrik „Ich spreche Deutsch“ stellt sich die Frage, was ist ungewöhnlich an diesem Satz, worin besteht das – zumindest auf den ersten Blick – Verblüffende darin. Das wollen wir uns doch etwas näher ansehen, und dazu lade ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, mit mir einige Gedankengänge zu vollziehen. Manchmal wird dies vielleicht theoretisch und umständlich erscheinen, aber so können wir diese Konstruktion des Satzes erschließen.


Beginnen wir mit den Wortarten in unserer deutschen Sprache. Jedes Wort unserer Sprache lässt sich in eine Kategorie einteilen, in ein Schubfach stellen. Wobei niemand so richtig weiß, wie viele Kategorien, also Wortarten, es gibt. Manche Sprachwissenschaftler sprechen von fünf Wortarten, andere unterteilen den Wortschatz in acht bis zehn Wortarten. Egal, wie viele es sein sollen, nehmen wir das praktische Beispiel eines Satzes, der durchaus in der Realität vorkommen kann: „Schaffner Emil kontrolliert heute die Fahrkarten der Reisenden im Zug.“ Wir bestimmen hier, welche Wortarten die Wörter dieses Satzes vertreten. Vor einigen Hunderten von Jahren wurde als Vorbild für die Beschreibung der deutschen Sprache die lateinische Sprache genommen, und in den höheren Schulen und Gymnasien war oder ist es üblich, grammatische Erscheinungen mit aus dem Lateinischen stammenden Bezeichnungen zu versehen. Für das gemeine Volk wurden dazu noch deutschsprachige Bezeichnungen hinzugefügt. Wir geben hier beide Varianten an, die deutschsprachigen setzen wir in Klammern.


Nun also die Zuordnung der Wörter unseres Satzes mit dem Schaffner Emil zu Wortarten:  Schaffner – Substantiv (Hauptwort, Dingwort); Emil – Substantiv, Eigenname; kontrolliert – Verb (Tätigkeitswort, Zeitwort, Tuwort); heute – Adverb (Umstandswort); die – Artikel im Plural (Geschlechtswort der Mehrzahl); Fahrkarten – Substantiv (Hauptwort, Dingwort); der – Artikel im Plural und im Genitiv (Geschlechtswort in der Mehrzahl im zweiten Fall); Reisenden – Substantiv (Hauptwort, Dingwort); im – Zusammensetzung aus der Präposition ‚in‘ und dem männlichen Artikel ‚der‘; Zug – Substantiv (Hauptwort, Dingwort). 


Wie Sie sehen, sind wichtige Wortarten in unserer deutschen Sprache die Substantive, die Verben, die Adverbien, die Präpositionen und die Artikel. Im Russischen gibt es überhaupt keine Artikel, im Englischen nur den Artikel ‚the‘, im Französischen ‚le‘ und ‚la‘.


Wenn Sie als Eltern oder Großeltern Kinder in der vierten Klasse haben und das Lernen Ihrer Kinder begleiten, dann wissen Sie wahrscheinlich, dass schon mal im Deutschunterricht oder als Hausaufgabe verlangt wurde: „Bestimme die Satzglieder im folgenden Satz …“. Satzglieder! Nicht Wortarten! Was sind denn nun Satzglieder? Ein Wort oder mehrere Wörter zusammen haben in einem Satz eine bestimmte Funktion. Nennen wir das mal ‚Satzgliedfunktion‘. Um das besser zu veranschaulichen, nehmen wir wieder unseren Satz mit dem Schaffner Emil. Zu jeder Satzgliedfunktion stellen wir erst eine Frage, und hinterher benennen wir die Satzgliedfunktion, wieder mit Bezeichnungen lateinischen Ursprungs und mit deutschen Benennungen.


„Schaffner Emil kontrolliert heute die Fahrkarten der Reisenden im Zug.“ Wer tut, macht etwas? – Schaffner Emil = Subjekt des Satzes (Satzgegenstand). Was tut, macht er? – kontrolliert = Prädikat (Satzaussage). Wann? – heute = Adverb, adverbiale temporale Bestimmung (Umstandswort, Umstandsbestimmung der Zeit). Was kontrolliert er? – die Fahrkarten = Akkusativobjekt (Ergänzung im vierten Fall). Wessen Fahrkarten? – der Reisenden = Genitivobjekt (Ergänzung im zweiten Fall). Wo? – im Zug = adverbiale lokale Bestimmung (Umstandsbestimmung des Ortes).


Nun hoffe ich, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie nicht aufgegeben haben, sich bis hierher durchgekämpft haben und auch alles verstanden haben. Es handelt sich hier um Stoff, den Sie im Deutschunterricht in der Schule hatten. 
Nun können wir an die Überschrift herangehen. „Die Rente ist sicher nicht sicher.“ Verkürzen wir mal diesen Satz: „Die Rente ist sicher.“ Das hat Norbert Blüm, Arbeitsminister in der Regierung Helmut Kohl, vor vielen Jahren gesagt. Der Sinn ist natürlich völlig anders, das Gegenteil zur Bedeutung des Textes auf dem Plakat und in der Überschrift. Aber dieser Satz mit der sicheren Rente könnte als Vorlage für die Finanzdienstleister gedient haben.


Bestimmen wir ganz kurz die Wortarten bei „Die Rente ist sicher.“ Die – Artikel weiblich; Rente – Substantiv; ist – konjugierte Form des Verbs ‚sein‘; sicher – Adjektiv. Der ganze Effekt des Textes „Die Rente ist sicher nicht sicher“ beruht ja auf der zweifachen Verwendung des Wortes ‚sicher‘. Und dieses ‚sicher‘ tritt hier zuerst als sogenanntes Adverb (Umstandswort) auf, das zweite Mal als Adjektiv (Eigenschaftswort). Vom Augenschein her das gleiche Wort, aber es erscheint erstens als Adverb und zweitens als Adjektiv! Es ist zwei unterschiedlichen Wortarten zuzuordnen. Wir erkennen keinen Unterschied in der Form. Nur in der Analyse des Satzes nach den Kriterien Wortarten und Satzglieder können wir ausmachen, worum es sich handelt. Und das Wort ‚nicht‘ zählt ebenfalls zu den Adverbien. ‚Adverb‘ bedeutet ursprünglich ‚mit dem Verb verbunden‘, ‚beim Verb stehend‘. Aber wie wir feststellen können, dient es auch dazu, Adjektive näher zu charakterisieren. In ihrer Form sind die Adverbien, im Gegensatz zu anderen Wortarten, unveränderlich.


Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte, natürlich zu Wortarten und Satzgliedern, hier insbesondere zu Adverbien und Adjektiven: Peter war über die Feiertage zu Verwandten gefahren. Nach der Rückkehr muss er in seiner Stammkneipe berichten. Frage von einem seiner Kumpane: – Wie war denn die Aufnahme durch deine Verwandten? – Antwort: – Wenig herzlich. – Und wie war das Essen zum Fest? – Herzlich wenig. (Erste Antwort: ‚wenig herzlich‘ – ‚wenig‘ als Wortart unbestimmtes Zahlwort wird zu einem Adverb, ‚herzlich‘ ist Adjektiv. Zweite Antwort: ‚herzlich wenig‘ – ‚herzlich‘ wird zu einem Adverb, ‚wenig‘ ist unbestimmtes Zahlwort.)


Vielleicht fragen Sie sich auch, liebe Leserinnen und Leser, ob man bei solchen Darstellungen zur Beschreibung unserer deutschen Sprache auf jeglichen Unterricht zu Fragen der Grammatik in den Schulen verzichten sollte. Wir können doch alle Deutsch sprechen!, so sagen Sie vielleicht. Aber wurden nicht doch gewisse Grundlagen in den ersten vier Schuljahren vermittelt? Und wie soll man erklären, dass es angeblich Deutsche gibt, die selbst nach Abschluss der Schule nicht in der Lage sind, eigene Sätze zu bilden, und Gelesenes verstehen sie einfach nicht?


Dieter Mengwasser
Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

 

Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online unter www.kompakt.media bestellt werden.

Nr. 271 vom 14. Januar  2025, Seite 12

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