Was mit dem Moneyball-Prinzip begann
Ein Königreich für Daten. Wie Künstliche Intelligenz den alten Fußball immer mehr verändert.
Von Rudi Bartlitz

Eine Frage, heute vielfach noch belächelt und ins Reich der Fantasie verwiesen: Ist es möglich, dass Künstliche Intelligenz in ein paar Jahren den Ausgang eines Fußballspiels entscheidet? Und dass unten auf dem Rasen Spieler und Trainer dann kaum noch über die Rolle wohlgelittener Performer hinauskommen? Dass die KI vielleicht sogar bestimmt, wer ein WM-Finale gewinnt? Oder machen wir es eine Nummer kleiner: darüber befindet, wer in die Bundesliga aufsteigt? Fragen, die angesichts des Hypes um den explosionsartigen Vormarsch von unermesslichen Datenmengen und Algorithmen auf der Hand liegen.
Nicht wegzudiskutieren ist jedenfalls, dass das, was Traditionalisten vielleicht noch als modernen Schnickschnack abtun mögen, schon heute die Sportwelt fundamental verändert. Auf die Eingangsfrage projiziert: Mit dem Fußball der alten Schule ist es ein für alle Mal vorbei. Mit Zeiten also, als das Publikum sich mit den Informationen begnügen musste, die einem schlichten TV-Bild oder einer Reporter-Stimme entstammen. Zeiten, als Trainer einfach ihrem Bauchgefühl folgten. Selbst das Bild vom – vor ein paar Jahren noch als Nerd belächelten – Laptoptrainer wirkt heute fast schon wie ein Anachronismus.
High-Tech-Geräte gehören auf den Ersatzbänken, zumindest im Profibereich, längst zur Standardausrüstung. Und es sind bei Spitzenklubs mindestens zwei oder drei Co-Trainer, die sie ständig im Blick haben oder Daten auf ihnen ablesen. Von den Kameras in den Arenen, die Millionen Daten erfassen, ganz zu schweigen. Letztes Jahr hatte der Deutsche Fußball Bund (DFB) auf seinen Campus alle Data-Scientisten aus der ersten und zweiten Liga eingeladen. Fast alle der 36 Vereine der beiden Bundesligen waren vertreten. DFL-Geschäftsführer Steffen Merkel trifft wohl den Kern, wenn er feststellt, dass sich inzwischen „digitale Geschäftsmodelle schneller verbreiten als Transfermarktgerüchte“.
Neuartige Methoden zur Evaluierung der Spieler
Als historischer Durchbruch und erste große Erfolgsgeschichte für den Einsatz von Daten im Sport gilt das sogenannte Moneyball-Prinzip. Jene Story der Oakland A’s im US-Baseball aus dem Jahr 2002. Im Zentrum steht deren Manager Billy Beane. Er musste das Team damals nach dem Abgang mehrerer Stars neu aufstellen – allerdings ohne das nötige Kleingeld. Die A’s hatten es mit einem Budget von rund 41 Millionen Dollar mit Teams wie den New York Yankees aufzunehmen, deren Payroll mehr als das Dreifache betrug. Gehaltsobergrenzen gab es nicht.
Also war Beane – wenn er denn mit den anderen mithalten wollte – gezwungen, plötzlich auf Statistiken, Analysen und andere ganz neue Methoden zu setzen. Dahinter steckte die Baseball-Besessenheit eines Mannes, der als Nachtwächter einer Konservenfabrik anfing und die Sportwelt für immer veränderte. Beane gelang der Spagat, weil er auf neuartige Methoden zur Evaluierung der Spieler setzte und so für weniger Geld ein schlagkräftiges Team aufstellte. Zum Titel reicht es zwar nicht. Dennoch sind die A’s eine Cinderella-Story, zogen in jenem Jahr mit 20 Siegen in Folge in die Playoffs ein und erschütterten die Sportart in ihren Grundfesten. So sehr, dass später daraus sogar ein Spielfilm wurde – mit Brad Pitt in der Hauptrolle und sechs Oscar-Nominierungen. In Deutschland, wo man mit „Moneyball“ wenig anzufangen wusste, erhielt er sicherheitshalber noch den Zusatz: „Die Kunst zu gewinnen“.
KI sei im Fußball eigentlich schon länger im Einsatz, sagt auch FCM-Cheftrainer Christian Titz. „Sie kommt ja schon vor, wenn wir von Statistiken und ihrem Einsatz sprechen“, so der 53-Jährige dieser Tage in einer Journalistenrunde. „KI liefert eine Vielzahl von Zahlen, die es gilt zu filtern und auf einen Teilwert zu fokussieren, der für dich eine Aussagekraft besitzt.“ Er bestreitet nicht, dass es Bereiche gibt, in denen die Algorithmen „sehr gut einsetzbar sind“. Im selben Atemzug unterstreicht er jedoch, die KI „in einer Balance einzusetzen“. Das bedeute, „unsere eigene Arbeit, unser eigenes Wissen, unsere eigene Qualität in dem gleichen Anteil einzubringen“. Wollte man Titz einmal frei interpretieren: Noch entscheiden zuallererst Spieler und Trainer, deren Können und Wissen, über den Ausgang einer Partie.
Ein Extrem dazu benennt Maximilian Hahn, Head of Technical Recruitment and Analysis in England bei West Ham United. „Wir bewegen uns darauf zu, auf den Trainerbänken eine Art Race-Cockpit wie in der Formel 1 zu bekommen, um während des Spiels Simulationen machen zu können. Beispielsweise können Trainerteams die KI dann fragen, was passiert, wenn wir Spieler X für Spieler Y einwechseln. Oder welche Reaktion auf bestimmte gefährliche Angriffsmuster des Gegners den größten Erfolg verspricht“, so der Datenspezialist. „Daten und Fakten werden inzwischen vielerorts genutzt, um Trainern eine evidenzbasierte Entscheidungsgrundlage zur Verfügung zu stellen: Spiele ich jetzt eher über rechts oder über links, spielen wir lange oder flache Bälle, spiele ich besser mit Dreier- oder Viererkette, wann soll ich wie wechseln, welcher Spieler ist noch wie fit. All diese Entscheidungen lassen sich mit Daten stützen. Damit erhöhst sich die Wahrscheinlichkeit, auf dem Platz erfolgreich zu sein.“
Dennoch, das große Aber folgt auf dem Fuße: Das alles gilt nur in einem begrenzten Maße. „Der große Unterschied beim Fußball zu anderen Branchen ist“, betont DFB-Datenanalyst Pascal Brauer in einem FAZ-Interview, „dass du bis zum Spielfeldrand kommst und nicht weiter. Du kannst Einfluss nehmen, indem du KI-gestützte Ansagen oder Wechsel machst. Aber das, was auf dem Spielfeld passiert, kannst du nicht beeinflussen. Das ist ein Riesenunterschied zu einem Industrieunternehmen, wo du deine KI in die produzierenden Maschinen, in das tatsächliche Geschehen einbauen kannst. Da können wir glücklicherweise im Sport sagen, dass es so weit nie kommen wird.“
Weil eben ein ganz wichtiger Faktor hinzukommt – der kickende Mensch auf dem Rasen. Kein Akteur, mag er technisch und taktisch so begnadet sein wie ein Messi oder Cristiano Ronaldo, ist in der Lage, all die zweifellos vorliegenden Informationen (und es werden immer mehr) aufzunehmen. Geschweige denn, sie zu speichern und im Spiel im exakt richtigen Moment zu verarbeiten. Und umzusetzen.
KI kann nur noch in Nuancen optimieren
Es scheint andererseits inzwischen eine kaum noch angezweifelte Erkenntnis zu sein, dass mit KI Prozesse auf dem Rasen automatisiert werden, und zugleich Schwachstellen im eigenen Spiel offengelegt werden können. Aber auch hier schränkt Brauer ein: „Ob das dann auch ausgenutzt werden kann, ob die Spieler das umsetzen können, ob das in dem Moment noch so ist, ist etwas ganz anderes. Natürlich kannst du Daten und Fakten nutzen, um eine evidenzbasierte Entscheidungsgrundlage zu haben: Spiele ich jetzt eher über rechts oder über links, spielen wir lange oder flache Bälle, spiele ich besser mit Dreier- oder Viererkette, wann soll ich wie wechseln, welcher Spieler ist noch wie fit – diese Entscheidungen kannst du mit Daten stützen. Damit erhöhst du die Wahrscheinlichkeit, dass du auf dem Platz erfolgreich bist, aber auch nur in einem begrenzten Maße. Bei einem WM-Finale ist der Faktor Qualität der Einzelspieler, aber auch der Zufallsfaktor so riesig und die Qualität taktischer Entscheidungen durch die Trainer so hoch, dass die Unterstützung einer KI nur noch Nuancen optimieren kann.“
Führend bei KI- und Dateneinsatz in der Welt des Profisports ist allerdings nicht der Fußball, sondern der US-Baseball. Da verfügt jeder Klub über ein zehn- bis zwanzigköpfiges Data-Science- oder Data-Engineering-Team. Basketball kommt da am nächsten ran. Erst dann folgt der Fußball, und hier wiederum ist die Premier League führend. Insbesondere bei englischen Klubs mit US-Ownership, wie dem FC Liverpool, hat man die Trends aus dem US-Sport schnell übertragen. Ein Beispiel dafür ist das Tool, an dem Liverpool seit mehreren Jahren gemeinsam mit der Google-Tochter Deepmind arbeitet. Um die Effizienz bei Standardsituationen zu steigern, wurde die Software mit den Daten zu rund 10.000 Eckbällen gefüttert. Dadurch wurden Muster erkennbar, auf deren Basis die KI bestimmte Ausführungsvarianten vorschlägt – angepasst auf den jeweiligen Gegner und bestimmte Verteidigungsstrategien. Ob ein Trainer solch einer Empfehlung dann folgt oder ob er doch eher eigenen Ideen und Intuitionen vertraut, bleibt ihm selbstverständlich selbst überlassen.
Fußball, so postuliert Brauer, ist aufgrund der Dynamik, der taktischen Komplexität sowie der wenigen Tore wesentlich komplexer als Baseball oder Basketball. „Wir haben 500 Millionen Datenpunkte bei einem WM-Spiel, da ist alles erfasst, was du dir vorstellen kannst. Es ist allerdings entsprechend schwierig, diese Datenpunkte in umsetzbare Erkenntnisse und Empfehlungen umzuwandeln und diese Berechnungen dann auch noch in Echtzeit durchzuführen. Meiner Meinung nach braucht es noch einige Jahre Forschung, bis du genau sagen kannst: Der Pass war in der Situation die beste Lösung, und das Dribbling wäre die zweitbeste gewesen.“
Den Wert eines Spielers in Marktwert ummünzen
Der größte Mehrwert mit Daten im Fußball liegt nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft aber nicht einmal in der Analyse des Rasenspiels selbst. Sondern im Scouting. Es gibt diverse Beispiele für Spieler, die für vergleichsweise kleine Beträge gekauft und für zweistellige Millionenbeträge verkauft wurden – Daten und maschinelles Lernen können helfen, diese Spieler zu finden. Mit einem solchen Spieler ist auch ein Data-Analytics-Team für ein paar Jahre refinanziert. Brauer dazu: „Natürlich kann man mithilfe von Daten zum Beispiel einen eher defensiven, zweikampfstarken Sechser suchen. Wenn die Trainer einen schnellen Flügelspieler möchten, können wir genau sagen, ob dieser einen Max-Speed von 33,2 oder 35,2 km/h hat. Wenn du bei jeder Aktion von jedem Spieler sagen kannst: Okay, der hat die Gewinnwahrscheinlichkeit des Teams soundso viel erhöht, weil du jeden Zweikampf, jedes Dribbling bewerten kannst, dann kannst du sagen, der Spieler hat den Wert XY, das in seinen echten Marktwert ummünzen und in die Zukunft projizieren. Dann hast du eine sehr gute Entscheidungsgrundlage, um zu sagen, den kaufe ich für 3,7 Millionen, aber nicht für mehr.“
In dieses Umfeld des Scouting gehört ebenso die Geschichte von Ian Graham, dem ehemaligen Head of Data Analytics beim FC Liverpool. Er hat seinerzeit Daten genutzt, um die Qualitäten eines Jürgen Klopp vor seiner Verpflichtung an der Anfield Road zu untermauern. „Jürgen war später gegenüber unserer Arbeit mit Daten sehr aufgeschlossen“, nennt der Cambridge-Absolvent (Promotion in technischer Physik) eine der Ursachen für die späteren Erfolge des Deutschen.
Selbst wenn KI heutzutage also noch nicht in der Lage ist, die tödliche Lücke im gegnerischen Abwehrverbund zu finden – es lohnt sich, mit ihr intensiv zu arbeiten. Für die, die es immer besser beherrschen, ist sie schon heute weit mehr als ein kleiner Wettbewerbsvorteil.
Nr. 272 vom 29. Januar 2025, Seite 24/25
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