Kreativität und KI

Es ist üblich, Menschen in gestalterischen und künstlerischen Berufen als Kreative zu bezeichnen. Das ist natürlich richtig aber nicht vollständig, denn auch außerhalb dieser Berufsgruppen oder Tätigkeitsfelder gibt es kreative Menschen. | Von Prof. Dr. Viktor Otte

WIKIPEDIA schreibt: Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist. Darüber hinaus gibt es verschiedene Ansätze, was Kreativität im Einzelnen auszeichnet und wie sie entsteht. Das Wort Kreativität bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch vor allem die Eigenschaft eines Menschen, schöpferisch oder gestalterisch tätig zu sein. Falsch ist jedoch die verbreitete Vorstellung, dass Kreativität nur mit Berufen oder Tätigkeiten aus den Bereichen der bildenden und darstellenden Kunst verbunden sei.

 

Schriftsteller sind ohne Zweifel kreativ, sonst könnten sie uns nicht diese wunderbaren fiktiven Geschichten erzählen. Architekten entwerfen neue, oft phantastische Gebäude, und jeder wird auch ihnen Kreativität bescheinigen. Beim Ingenieur könnten Zweifel aufkommen. Hier sind die Grenzen für kreative Ideen oft eng gesetzt, Naturwissenschaft und Machbarkeit, aber auch Ökonomie schränken das Feld ein, in dem man sich bewegen kann.

 

Auf der Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) im Juni 1958 in Köln sprach der Züricher Ingenieur Fritz Kesselring über das „Konstruieren als Synthese aus innerer Schau und äußerem Zwang“.  In diesem Vortragstitel ist mit knappen Worten das Wesen jeder schöpferischen Ingenieurtätigkeit klar umrissen und schöner kann man es eigentlich nicht sagen. Die Ideen entstehen im Kopf, in der inneren Schau. Ihre Machbarkeit oder Realisierbarkeit aber ist dem äußeren Zwang unterworfen, den vorliegenden Bedingungen und den vielfältigen Einschränkungen. Das ist also die stärkste Grenze, die den Ingenieur vom sogenannten Kreativen unterscheidet, der, oft losgelöst von äußeren Zwängen, seine Gedanken frei im Gestalten, Schnitzen, Basteln, Malen oder Schreiben entfalten kann. Natürlich gehört auch der Hobbygärtner dazu, der beim Zwiebelstecken im Frühjahr sein künftiges Blumenbeet vorbereitet.

 

Im Sommer 2022 ist nun ein neues Werkzeug aufgetaucht, das in die Gruppe der KI-Software einzuordnen ist, ChatGPT, eine sogenannte „Generative Künstliche Intelligenz“.  Die Nutzung klassischer künstlicher Intelligenz gibt es schon lange. Ich selbst habe bereits vor 20 Jahren an Projekten zum „Data Mining“ mitgearbeitet. Hier wurde „in vorhandenen Daten gegraben“, um Produktions- oder Produktdaten zu finden, mit denen sich verbesserte Eigenschaften erzeugen lassen.  Derartige KI-Anwendungen haben außerhalb der Industrie jedoch kaum jemanden interessiert; sie haben auch kaum jemanden außerhalb der Industrie betroffen. Jetzt aber war die Aufregung groß, da die KI erstmalig in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens eingesetzt werden kann. Die Systeme können im Datennetz recherchieren, Berichte schreiben, Gedichte verfassen, auch malen. Die KI kann sich mit Ihnen in vielen Sprachen unterhalten und es können nahezu realistische „Fotos“ erzeugt werden.  Ihre Fähigkeit zur Mustererkennung ermöglicht Innovationen in der Medikamentenentwicklung, der Werkstoffentwicklung, der medizinischen Diagnose und vieles mehr. Alle diese Dinge waren bisher dem Menschen vorbehalten und umso größer ist plötzlich die Verwunderung aber auch das Entsetzen, dass nun eine Maschine menschliche Denktätigkeiten, scheinbar auch kreative Leistungen übernehmen kann. Zwangsläufig begannen auch sofort dystopische Erzählungen: KI wird die Macht übernehmen, die Menschheit letztendlich versklaven oder sogar ausrotten. Wir wollen dieses Thema hier nicht weiter untersuchen, sondern der Frage nachgehen, woher die Maschine ihre Fähigkeit zur „Kreativität“ bekommt, wie sie „denkt“. Lassen Sie mich das am Thema der Textbearbeitung erläutern. Gemeinhin ist schon klar, dass das KI-System ChatGPT nach einer hinreichenden Lernphase, in der ihm unzählige Texte angeboten wurden (man spricht von über 30 Milliarden Sätzen), neue, von ihm generierte Texte kombinatorisch so zusammenstellt, dass die Wahrscheinlichkeit bestimmter Wortverbindungen hoch ist. „Zum Ball gehen“ wird deshalb eher mit dem Ausgehen zum Tanz assoziiert sein als mit dem Hingehen zu einem liegenden Ball. Hier wäre eher von „Zum Ball laufen“ die Rede. Aber wie macht ChatGPT das nun, denn das System hat ja weder Syntax noch Semantik der Sprache gelernt und kennt auch keine Mehrdeutigkeiten? Oder doch? Ich vereinfache hier, um das Prinzip verständlich zu machen. Stellen Sie sich vor, jedes Wort im Duden und auch jede Konjugation und jede Deklination eines Wortes bekämen eine Nummer.  Natürlich würde das niemand so programmieren, denn wir wollen schließlich, dass semantisch ähnliche Wörter (Haus, Gebäude, Stall,…) auch ähnliche Nummern bekommen. Und das ist den Entwicklern der Sprachmaschinen hervorragend gelungen. Oder besser gesagt, die KI hat die Nummern aus den vorliegenden Texten im Internet und Büchern selbst berechnet, man nennt das Verfahren Einbettung (Embedding). Jedes Wort einer Sprache wird also durch Zahlen repräsentiert oder genauer, durch einen Vektor von Zahlen wie z. B.  [0.3 0.09 -0.43 0.54 – 063 …]. ChatGPT nutzt für jedes einzelne Wort (bzw. Silben, sogenannte Token) sogar einen Vektor von 12.000 Zahlen, andere Hersteller brauchen nur 4.000 Zahlen pro Wort, aber das Prinzip ist immer das gleiche. Ein Satz besteht also aus einer Folge von Vektoren, also einer komplizierten Zahlenreihe. Man kann nun in korrekten Sätzen eine Statistik von Wortverbindungen, auch von Satzverbindungen bestimmen. In dieser Statistik sind nun implizit Syntax und Semantik versteckt und die KI antwortet auf eine Frage schriftlich oder mündlich in hervorragendem Deutsch. Wir sind verblüfft. Die KI denkt doch, oder? Mitnichten, alles ist reine Mathematik. Aber sehr clevere Mathematik. Die KI hat die Syntax und Semantik selbst entdeckt, das hat viele Fachleute sehr überrascht. Der Clou der Sprachmaschinen liegt in einer sogenannten Aufmerksamkeitssteuerung, denn in den Sätzen haben verschiedene Wörter verschiedene Wichtigkeit. Wenn man das Folgewort in einem Satz schätzen will (und mehr können die Sprachmaschinen ja nicht), dann wird geschaut, welche der Wörter im Satz besonders wichtig für das Folgewort wären. Spricht man beispielsweise von Apple (Apfel) kann die KI im Satz oder Vorsatz erkennen, ob es sich um Obst handelt oder um einen Computer und sie wird mit dem wahrscheinlichsten Wort fortfahren: „Ich hole jetzt meinen Apple und…“. Es könnte „tippe“ folgen oder “esse”, je nachdem, was die KI im Satz oder Vorsatz entdeckt hat.

 

Natürlich ist es in der realen Anwendung noch komplizierter, aber es bleibt Mathematik. Die Sätze sind so treffend, das Gedicht so sensibel, da muss doch ein fühlender Geist dahinterstecken. Nein, steckt er nicht, lassen Sie sich nicht täuschen. Das System hat keine Gefühle, keine Empathie, kennt keine Freude und keinen Schmerz. Das ist uns Menschen vorbehalten. Wenn Sie aber künftig an einer Hotelrezeption von der Empfangs-KI in Menschengestalt angelächelt werden, dann sollten Sie zurücklächeln, denn die KI hat inzwischen Ihre Augen und Gesichtszüge gescannt, über eine kleine Software Ihren Gemütszustand beurteilt und entsprechend reagiert.

 

Aber zurück zu unserem Thema: Kann nun diese KI auch kreativ sein? Da wir nun wissen, dass sie Begriffe unter Berücksichtigung statistischer Werte kombiniert, kann hier auch eine bisher nicht übliche Kombination entstehen, die für den Betrachter durchaus das Potential einer neuen Idee haben kann, also definitionsgemäß eine kreative Aussage ist. Kreativ ist jetzt aber nicht die KI, sondern der Betrachter, der z. B. diese ungewöhnliche Wortkombination als Anregung empfindet, weiter darüber nachzudenken. Genau nach diesem Prinzip arbeitet die Kombinationsmethode der Konstruktionssystematik. Im Ingenieurstudium werden solche Methoden gelehrt. Man wird sozusagen auf Ideen „geschubst“.

 

Ein einfaches Beispiel, das die Kombinationsmethode verwendet, soll den gedanklichen Prozess illustrieren. Angenommen, ein Unternehmen, das Messer herstellt, benötigt dringend eine Innovation. Wir wählen hier im Beispiel explizit die Klinge aus und schreiben einige Varianten für Ausführungen auf: Klinge (lang, kurz, breit, schmal), Klingenwerkstoff (Stahl, Holz, Kunststoff, Keramik, Stein), Klingenende (Einfachspitze, Mehrfachspitze, Rundung, Sägezähne, Zusatzschneide, Hohlkörper). Im Beispiel gibt es 4x5x6=120 Kombinationsmöglichkeiten, die man jetzt näher betrachten und auf ihr Innovationspotential hin untersuchen kann. Unüblich wäre die Variante mit dem Hohlkörper. Vielleicht ließe er sich als kleiner Löffel gestalten, vielleicht auch als Minigefäß zur Aufnahme des Streichmittels usw. Sie sehen, jetzt erst wird man kreativ. Die Bewertung der Idee erfolgt natürlich erst dann, wenn man sie kennt. Hier wird wieder eine Vielzahl von Bedingungen und Einschränkungen benötigt, die der Bewerter erst definieren muss. Das kann einfach, weil offensichtlich sein, aber auch eine Reihe weiterer Überlegungen erfordern. All das kann die KI nicht selbstständig. Wir können sie als Hilfsmittel benutzen, kreativ ist letztlich nur der Mensch.

 

Fassen wir zusammen: (Generative) Künstliche Intelligenz ist ein neues und auch sehr mächtiges Werkzeug. Die begrenzten menschlichen Fähigkeiten zur Datenspeicherung, Datenrecherche, Mustererkennung und Rechengeschwindigkeit werden extrem erweitert. Zwangsläufig werden damit aber auch bestimmte Berufe vakant. Und die KI schläft nicht. Menschliche Schwächen wie Unaufmerksamkeit oder Überforderung werden kompensiert. Das alles wird die Gesellschaft ertragen und ausgleichen müssen. Aber die jetzige, rein mathematische KI, bleibt ein Werkzeug. Sie ist kein menschlicher Gesprächspartner mit Gefühlen wie Leid, Trauer, Freude, Hunger, Durst, Sorgen, Liebe, Glück… Wir müssen vor dem Werkzeug keine Angst haben, nur vor denen, die es besitzen und es zu unserem Nachteil verwenden könnten.

 

Und noch ein Wort zur Zukunft: Natürlich kennt man sie nicht, aber es gibt Vorstellungen. Eine davon ist, dass die KI durch ständige Erweiterung ihrer rechentechnischen Basis irgendwann ein Bewusstsein, vielleicht auch Selbstbewusstsein bekommt. Man hofft hier auf die sogenannte Emergenz, also die Fähigkeit eines Systems, durch selbstständige Weiterentwicklung neue Eigenschaften zu bekommen. Das wird aber nur möglich sein, wenn sich in KI-Systemen nicht nur die Algorithmen ändern, sondern auch die Morphologie, also die Systemstruktur. Die jetzigen „Künstlichen Neuronalen Netze (KNN)“ in KI-Systemen assoziieren, dass es sich um Nachbildungen menschlicher Neuronen handelt. Das ist aber nicht so. Die KNN sind rein mathematische Beziehungen; algorithmisch definierte Rechenschritte zwischen Ein- und Ausgangsgrößen. Beim Menschen kommen ständig Neuronen hinzu, sterben ab, vernetzen sich neu usw. All das können KNN-Strukturen nicht oder besser, noch nicht, und die erhoffte Emergenz in derartigen Systemen bleibt äußerst fraglich.  Nun hat vor ein paar Tagen ein chinesisches Unternehmen ein neues KI-System „DeepSeek“ vorgestellt. Es benötigt weniger spezialisierte Chips, weniger Lernbeispiele und deutlich weniger Energie und ist darüber hinaus eine „Open Source“-Software (frei verfügbarer Quellcode).  Eine Innovation, die den Markt bereits gehörig durchgeschüttelt hat.

 

Es geht also weiter, die Zukunft bleibt offen.

Nr. 273 vom 12. Februar 2025, Seite 16/17

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