Weiter, immer weiter

Wo fliegen sie denn hin? Neue Weltrekorde auf den Schanzen – ein schmaler Grat zwischen PR-Stunt und ernstzunehmendem Sport. Um die Zukunft des Skispringens sind heftige Diskussionen entbrannt. | Von Rudi Bartlitz

 

Wenn die Blicke der Sportwelt Ende des Monats auf die nordische Ski-Weltmeisterschaft im norwegischen Trondheim gerichtet sind, werden zweifellos die Skispringer einmal mehr die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Deren mutige Flüge und die spektakulären Weiten faszinieren viele. Doch so sehr sich die sogenannten Helden der Lüfte auf dem Granasen-Bakken mit seinem K-Punkt von 124 Metern auch strecken mögen, an die Distanzen beim Skifliegen kommen sie nicht heran. Bei (Achtung: kleines Wortspiel) weitem nicht.

 

Und schon gar nicht an jene sagenumwobene Marke, die in den Frühlingstagen 2024 aus Island gemeldet wurde. Das Kuriose an dieser Nachricht: Von einigen Experten einmal abgesehen, wurde sie kaum zur Kenntnis genommen. Wohl auch, weil für die meisten der Winter da längst Vergangenheit war. Deshalb rankt sich bis heute so manches Mysterium um jene unglaublichen 291 Meter, die der Japaner Ryoyu Kobayashi dort gesprungen ist. Zweifler merkten seinerzeit an: gesprungen sein soll.

 

Die ganze Geschichte dazu geht so. In der abgeschiedenen, eisigen Bergwelt im Norden Islands war in den Jahren 2022 und 2023 wiederholt eine sonderbare „Suchgruppe“ beobachtet worden. Sie erkundete für den Getränkekonzern Red Bull heimlich das Gelände. Ihr Auftrag: Eine günstige Stelle finden, auf der ein sogenannter Monster-Bakken für einen Rekord-Skisprung errichtet werden konnte. Ein Satz, der alles Bisherige in den Schatten stellen sollte.

 

Als der Suchtrupp dann Vollzug meldete, unterzeichnete Red Bull mit der Stadt Akureyri einen Vertrag über den Bau einer provisorischen Schanze, die im Skigebiet Hlidarfjall regelrecht in einen Hang hinein gefräßt wurde. Bauzeit zwei Monate. Es gab weder einen Schanzenturm noch Zuschauertribünen. Die besonderen Merkmale waren hingegen ein extrem langer Anlauf und ein ebenso langer Auslauf. Das gesamte Projekt zielte darauf ab, den Skiflug-Weltrekord zu brechen und die als utopisch geltende 300-Meter-Marke zu überbieten.

 

Am 24. April 2024 war es dann soweit: Auf einem Red-Bull-Video, das auch das isländische Fernsehen verbreitete, ist zu sehen, wie Kobayashi nach einem von Drohnen begleiteten Flug ein Schild mit der Aufschrift „291 m, Weltrekord“ in die Luft hält. Nahezu acht Sekunden soll der 27-Jährige dabei in der Luft gewesen sein. Er soll zunächst Flüge auf 259 und 282 Meter gestanden haben, ehe er auf 291 Meter segelte. Allerdings sei das Video, wie der „Spiegel“ berichtete, mehrfach geschnitten. „Ob es authentisch ist, blieb zunächst unklar.“

 

„Ich bin bis ans Äußerste gegangen, um so weit wie möglich zu fliegen“, wurde Kobayashi zitiert. „Dieser Sprung war schon lange ein Traum von mir, denn ich wollte schon immer weiter springen als alle anderen, und ich möchte die Grenzen immer weiter hinausschieben“, erklärte er, nachdem er sogar eine Telemark-Landung hingelegt hatte. „Ich habe alles aufs Spiel gesetzt, um in dieser unglaublichen Umgebung so weit wie möglich zu kommen.“

 

Klar war von vornherein, ein offizieller Weltrekord war das nicht. Der liegt bei 253,5 Meter, aufgestellt vom Österreicher Stefan Kraft 2017 im norwegischen Vikersund. In Island handelte es sich nicht um eine vom Internationalen Skiverband (FIS) zugelassene Schanzenanlage oder einen offiziellen Wettbewerb. In die Geschichtsbücher dürfte Kobayashi damit dennoch eingehen. Und Sponsor Red Bull hat sein Ziel erreicht – wenn auch mit einiger zeitlicher Verzögerung.

 

Rekorde wie dieser (Der „Spiegel“: „Die Weitenjagd im Skispringen nimmt groteske Formen an.“) gehören zur Konzernstrategie von Red Bull. Der österreichische Brause-Produzent betreibt ein weltweites Sportimperium und fördert viele Extremsportler, darunter Klippenspringen und Flug-Shows. Aber auch Stars der olympischen Sportarten, der Fußball (RB Leipzig) oder die Formel 1 gehören dazu. Gerade in den Extremsportarten geriet der Konzern in die Kritik, vor allem weil Sportler sich immer wieder in große Gefahr begeben. Wohl auch, um wertvolle Sponsorenverträge nicht zu verlieren.

 

Über die Zukunft des Skispringens tüftelt man nicht nur in der Red-Bull-Konzernzentrale. Auch der Weltverband FIS denkt darüber nach, wie sich die Sportart in den nächsten Jahrzehnten entwickeln soll. Sicher auch in Anbetracht der sich immer radikaler verändernden (sprich: verschlechternden) Umweltbedingungen. Stichworte: Erderwärmung und Schneemangel. Aber nicht nur dies treibt FIS-Verantwortliche um. Sie wollen ihren Sport an die moderne Welt anpassen. Die Skisprung-Elite muss sich in Zukunft wohl mit tiefgreifenden Veränderungen arrangieren.

 

FIS-Renndirektor Sandro Pertile sagt: „Die Zeiten ändern sich, das Publikum ändert sich.“ Man sehe auch in anderen Sportarten, dass sie mit der Zeit gingen und sich anpassten, wie etwa in der Formel 1 oder der MotoGP, die Sprintrennen einführten, oder gar im Fußball, wo über die Dauer von 90 Minuten diskutiert werde. Im Gegensatz zu vielen anderen Wintersportarten befindet sich das Skispringen in einer luxuriösen Ausgangssituation: Schon jetzt absolvieren die Profis gut 70 Prozent ihrer Sprünge jedes Jahr im Sommer auf Kunststoffmatten. Schnee ist für das Skispringen schon lange keine Grundvoraussetzung mehr. Es geht darum, das Skispringen vom Wintersportprodukt, das aktuell hauptsächlich für den europäischen Markt attraktiv ist, zu einer globalen Marke zu machen.

 

Die FIS kann sich deshalb sogar Wettkämpfe auch in Rio de Janeiro oder Dubai vorstellen. Möglich machen soll dies eine mobile Schanze mit Weiten von etwa 150 Metern. Mit ihr soll perspektivisch der Skisprung-Zirkus auf der ganzen Welt gastieren. Neben Brasilien sei China ein weiterer Markt für solche Show-Wettkämpfe, auch eine Indoor-Anlage mit Kunstschnee in Dubai ist denkbar.

 

„Man könnte diese Anlage temporär innerhalb von ein paar Wochen bauen. Und man kann mit dieser Anlage auf einer flachen Zone arbeiten, aber eben auch in einem großen Fußballstadion.“, so Pertile. Laut FIS ist das mediale Interesse am Springen bei Olympia in großen Ländern unglaublich hoch. Pertile: „Japan, China, aber auch Südafrika und Brasilien: Diese Länder haben bei den Spielen ein riesiges Interesse am Skispringen.“

Nr. 274 vom 26. Februar 2025, Seite 24

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