Nestor der Magdeburger Neurowissenschaften

Am 6. März wäre der Magdeburger Hirnforscher Hansjürgen Matthies 100 Jahre alt geworden. Anlass genug, sich seiner Person und seiner Leistungen für eine nachhaltige Entwicklung des Wissenschaftsstandortes Magdeburg zu erinnern. Hansjürgen Matthies gilt als Nestor der Neurowissenschaften der DDR. Generationen von Magdeburger Medizinstudenten haben ihn als hervorragenden akademischen Lehrer erlebt und schätzen gelernt. Viele seiner unmittelbaren ehemaligen Schüler haben ihn als einen Menschen mit einer außergewöhnlichen Kreativität, mit einem nicht versiegenden Wissensdurst und dem Bedürfnis ständig Neues zu schaffen, in dankbarer Erinnerung behalten.
Hansjürgen Matthies wurde 1925 in der Familie eines kaufmännischen Angestellten in Stettin geboren. 1943 folgte das Abitur, der Arbeitsdienst und anschließend der Beginn einer Sanitätsoffizierslaufbahn der Reserve mit Aussicht auf ein Medizinstudium in einer Studentenkompanie. 1944 begann Hansjürgen Matthies sein Studium der Medizin in Wien, konnte dieses aber durch Kommandierung an die Ostfront nicht beenden. Erst nach erlebtem Bombenterror, Judenverfolgung und britischer Gefangenschaft konnte er nach Ende des Krieges im Wintersemester 1946 sein Medizinstudium in Berlin fortsetzen. Zunehmend begeisterten ihn die experimentellen Fachgebiete, der praktische ärztliche Beruf schien ihm nicht so erstrebenswert. So begann er 1952 eine Assistenten-Laufbahn in der Pharmakologie der Charité bei Professor Friedrich Karl Jung, der ihn mit seiner erfrischenden und unkonventionellen Art begeisterte. 1953 promovierte Hansjürgen Matthies an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Dr. med. 1954 folgten am gleichen Ort eine Oberassistentenstelle und 1957 die Habilitation über den Stoffwechsel roter Blutkörperchen.
Danach empfahl Jung den 33-Jährigen für eine Berufung an das neugegründete Institut für Pharmakologie an der Medizinischen Akademie Magdeburg. Nach einer Tätigkeit als kommissarischer Direktor erfolgte 1960 seine Berufung zum Professor mit Lehrstuhl. Ab 1966 betrieb sein Institut einen Toxikologischen Auskunftsdienst. Zu DDR-Zeiten wurde das auf einer Anhöhe der früheren Medizinischen Akademie (jetzt Uniklinik) gelegene Institut für Pharmakologie und Toxikologie“ wegen der „SED-Nähe“ eines Teils der Mitarbeiter im Volksmund als der „Rote Hügel“ bezeichnet.
Schon sehr früh entschied sich Matthies für eine Profilierung der zukünftigen Forschung in Richtung Psychopharmakologie und Neurotransmitterforschung. Die entscheidende Profilierung des Instituts auf die neurobiologischen Grundlagen von Lern- und Gedächtnisprozessen erfolgte in den 70er und 80er Jahren. Ausgangspunkte waren internationale Untersuchungen zur Bedeutung von Eiweißen und Ribonukleinsäuren im Gehirn für die Gedächtnisbildung. Aus den gewonnenen Kenntnissen der tierexperimentellen Arbeiten mit Laborratten entwickelte Matthies eine theoretische Grundkonzeption und ein daraus abgeleitetes Modell der molekularen Prozesse der Gedächtnisbildung in den Nervenzellen. Zu seinen wegweisenden Verdiensten gehören u. a. ein Mehrphasen-Modell für Lernprozesse und zelluläre Modelle für Langzeitplastizität des Gehirns, sowie ein für seine Zeit revolutionäres interdisziplinäres Forschungskonzept in den Neurowissenschaften, das von der Neurochemie über elektrophysiologische, pharmakologische und systemische Ansätze bis hin zur Psychologie alle Betrachtungsebenen vereinte. Mit diesem Ansatz gelang es, die Rolle von Proteinsynthese und „verstärkender“ Transmitter wie Dopamin für die Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses nachzuweisen. Diese Ergebnisse hat Matthies 1989 in zwei international hochangesehenen Zeitschriften veröffentlicht. Die gemeinsam mit seinen Magdeburger Mitarbeitern entwickelten Hypothesen zu den Phasen der synaptischen Langzeitpotenzierung fanden Verwendung in den nachfolgenden Arbeiten des späteren US-amerikanischen Nobelpreisträgers Eric Kandel.
Als langjähriger Rektor der Medizinischen Akademie Magdeburg setzte sich Matthies erfolgreich für die Schaffung von übergreifenden interdisziplinären Schwerpunkten und die Etablierung der Neurowissenschaften als eines der Schwerpunktthemen der biomedizinischen Forschung der DDR ein. 1975 begann er mit Vorbereitungen zur Schaffung eines neuen, außeruniversitären neurobiologischen Forschungsinstituts in Magdeburg. Als Gründungsdirektor leitete Matthies dieses Institut für Neurobiologie und Hirnforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1981 bis 1991, parallel zu seiner Funktion am Pharmakologie-Lehrstuhl. Seiner Zielstrebigkeit ist es zu verdanken, dass der lange und steinige Weg von der formalen Gründung 1981 bis zur Inbetriebnahme eines neuen Gebäudes im Oktober 1989 mit mehr als 150 Mitarbeitern bewältigt wurde. Aufgrund der exzellenten Vorleistungen und auf Empfehlung des deutschen Wissenschaftsrats gelang nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 die Umgründung und Weiterentwicklung dieses „Matthies‘schen“ Instituts, dem heutigen Leibniz-Institut für Neurobiologie Magdeburg. Dieses zunächst vom Nachwende-Gründungsdirektor Professor Henning Scheich geführte Institut erhielt im Jahr 2011 wiederum ein modernes Forschungsgebäude in der Magdeburger Brenneckestraße und beschäftigt heute über 230 Mitarbeiter.
Matthies‘ hohes wissenschaftliches und organisatorisches Können, aber auch die schöpferische Zusammenarbeit mit allen Mitarbeitern, ermöglichten es ihm und seinem Team eine hohe nationale und internationale Anerkennung auf dem Gebiet der zellulären Gedächtnisforschung zu erringen. Die von ihm im Jahr 1967 ins Leben gerufenen Magdeburger Symposien für Lern- und Gedächtnisforschung sind bis in unsere Zeit ein wichtiger Treffpunkt für die auf diesem Gebiet weltweit führenden Neurowissenschaftler. Vor 1989 waren diese Symposien mit starker internationaler Beteiligung eine sehr gute Möglichkeit zur Vorstellung der eigenen Forschungsergebnisse und des internationalen Leistungsvergleichs, also eine hervorragende Möglichkeit die praktisch fehlenden Möglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter zur Teilnahme an Kongressen im westlichen Ausland zu kompensieren. Daraus ergab sich dann bereits vor der Wende eine enge Zusammenarbeit über Gedächtnismechanismen mit zahlreichen Arbeitsgruppen aus Ost- und West-Europa. Bis 1989 arbeiteten mehr als 40 Gastwissenschaftler aus aller Welt am Magdeburger Pharmakologischen Institut.
Bemerkenswert waren die von Matthies durchgesetzten wissenschaftsorganisatorischen Arbeitsstrukturen und sein Leitungsstil als Institutsdirektor, der ganz im Gegensatz zu den damals oft streng hierarchisch geführten Instituten und Kliniken stand. Er pflegte einen kollegial-freundschaftlichen Umgang mit seinen Mitarbeitern und verstand es dennoch, hohe wissenschaftliche Leistungsbereitschaft einzufordern. Trotz zahlreicher zentraler Leitungsfunktionen war er oft bis in die frühen Morgenstunden im Labor. Das war natürlich eine Herausforderung für viele Mitarbeiter. Er schuf um sich herum eine offene und kritische Atmosphäre, in der die wöchentliche Arbeitsbesprechung eine wichtige Rolle spielte. Matthies ließ den jungen Assistenten einen großen Spielraum im Interesse ihrer wissenschaftlichen Entwicklung, forderte aber gleichzeitig hohe Leistungsbereitschaft und die kritische Wertung der erzielten Ergebnisse im Lichte des internationalen Erkenntnisstandes.
Sein Wort und seine Stimme waren in Wissenschafts- und wissenschaftsorganisatorischen Gremien des In- und Auslands gefragt und geschätzt. Als Mitglied und im Auftrag des Forschungsrates der DDR, einer sehr lebendigen Forschungsgemeinschaft, gründete er die Hauptforschungsrichtung Neurobiologie in der DDR. Er war Mitglied des Central Council der IBRO, DDR-Vertreter in INTERMOZG, Mitherausgeber zahlreicher nationaler und internationaler Zeitschriften. Anerkennung fand er u. a. als Vorsitzender mehrerer medizinischer Fachgesellschaften, darunter der ersten Neurowissenschaftlichen Gesellschaft im deutschen Sprachraum. 1973 erfolgte seine Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ihm wurden der Virchow-Preis, der Buchheim-Preis und Nationalpreise verliehen. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig und der Semmelweis-Universität Budapest. Die stattliche Zahl von 15 Habilitanden und späteren Professoren, die Betreuung von über 200 Promotionsarbeiten, 467 Originalarbeiten sowie Autorschaft oder Mitherausgeber von zahlreichen Lehrbüchern und Sammelbänden, sind überzeugender Ausdruck seiner Leistungen.
Hansjürgens Ehefrau Renate unterstützte seine Forschungsarbeit auch als MTA am Institut. Einer der beiden Söhne promovierte nach der Wende und war noch einige Jahre fachlich in den „Fußstapfen“ seines Vaters tätig. In den Jahren nach der politischen Wende bedrückte Matthies so mancher herabwürdigende Umgang mit ihm und seinen Leistungen. So wurde beispielsweise ein anlässlich seines 75. Geburtstages geplantes Symposium zur Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen kurzfristig politisch verhindert. Danach zog er sich weiter zurück, fand Entspannung und Freude in seiner Familie, der Kakteenzucht und der Malerei, wobei eine beachtliche Zahl bemerkenswerter Gemälde entstand. Hansjürgen Matthies wurde 1990 emeritiert. Am 22. August 2008 verstarb er im Alter von 83 Jahren nach einem Schlaganfall und langer Krankheit.
Prof. Klaus Reymann – unter Verwendung seines Beitrags ,Hansjürgen Matthies’ in ,Geschichte und Wirken der pharmakologischen, klinisch-pharmakologischen und toxikologischen Institute im deutschsprachigen Raum‘, hg. von Athineos Philippu, erschienen 2017 im Berenkamp Buch- und Kunstverlag (ISBN 978-3-85093-383-4), Innsbruck.
Nr. 275 vom 12. März 2025, Seite 4 und 5
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