Goethes Geheimnis

„Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, der froh von ihren Taten, ihrer Größe den Hörer unterhält und, still sich freuend, ans Ende dieser schönen Reihe sich geschlossen sieht“ – wohlgesetzte Worte, die der große Dichterfürst seine Iphigenie 1787 sprechen lässt, nur hat er sich zeitlebens, was seine väterlichen Vorfahren betrifft, wenig daran gehalten.

 

Seine soziale Prägung erhielt er ausschließlich durch die mütterliche Textor-Familie, die zum Frankfurter Patriziat, wenn auch nicht zur ersten Reihe, so doch zu den angesehensten Familien der Stadt gehörte. Schultheiße, Juristen, Schöffen und Bürgermeister der Stadt stellten die Textors, die aber nicht über nennenswerte Vermögen verfügten. Großvater Johann Wolfgang Textor musste, obwohl schon als Bürgerlicher bis zum Kaiserlichen Rat aufgestiegen, die Erhebung in den Adelsstand, die ihm Kaiser Karl VII. antrug, ablehnen, da er befürchtete, seine Töchter unter den prekären finanziellen Bedingungen nicht in die dann standesgemäßen adligen Ehen vermitteln zu können glaubte.

 

Die väterlichen Vorfahren waren aus anderem Schrot und Korn. Sie, die Göthes, stammen aus dem hinterwäldlerischen, damals wie heute unbedeutenden Artern an der Unstrut, wo Großvater Friedrich Georg Göthe als Sohn eines Hufschmieds zur Welt kam. Er war ein Selfmademan, wie man heute sagen würde, und dem Sohn Johann Caspar, also Goethes Vater, möglicherweise zeitlebens peinlich, denn dieser sprach so gut wie nie über ihn. Friedrich Georg war der klassische Emporkömmling, wie er am Anfang einer jeden großen Familie steht. 1657 wurde er geboren und besuchte zunächst die auch in Artern existierende Lateinschule, um anschließend eine Schneiderlehre zu absolvieren. Danach ging er, wie alle Gesellen, auf Wanderschaft. Schließlich landete er in Lyon, dem europäischen Zentrum der Seidenmanufakturen, wo er offensichtlich zu bleiben gedachte. Integration und Assimilation aktiv lebend, änderte er seinen Namen in „Fridericus Georg Göthé“ – mit Accent aigu! Aufenthalt in Paris und wieder Lyon lassen eine Lebensplanung in Frankreich vermuten, denn er avancierte zu einem Spezialisten für barocke Seidenmoden. Bald war er der gefragte Schneider für die Hautevolee. 1685 war nach zwölf Jahren Frankreich Schluss mit lustig, denn die einsetzende Hugenottenverfolgung zwang den Protestanten zur Rückkehr nach Deutschland. In Artern konnte der zum Karl Lagerfeld seiner Zeit Mutierte mit seiner Haute Couture nicht landen. In der damaligen Großstadt Frankfurt dagegen versprach er sich einen größeren Kundenkreis – eine Erwartung, die sich bald bestätigen sollte. Der inzwischen polyglotte Neuankömmling fasste schnell Fuß mit den komplizierten französischen Schnitten seiner Mode, machte sein Meisterstück und heiratete praktischerweise eine Schneiderstochter. Der die aufwendige Pariser Mode beherrschende Göthé machte viel von sich reden und belieferte bald sogar den Darmstädter Hof – und das alles bei den Fesseln anlegenden Zunftgesetzen seiner Zeit, die ihm überall Knüppel zwischen die Beine warfen. So musste er von seinen sechs Gesellen zwei entlassen, um Strafandrohungen zu entgehen. 1695 klagte er gegen den o. g. Stadtschultheiß Johann Wolfgang Textor wegen nicht bezahlter Rechnungen, nicht wissend, dass beider Nachkommen dereinst verbunden sein würden.

 

1700 stirbt seine Frau im Kindbett. Fünf schwierige, für seine Zeit ungewöhnliche Jahre ist er alleinerziehender Witwer und Unternehmer. Dann heiratet er, 47-jährig, die frischverwitwete Cornelia Schellhorn, die eine ansehnliche Mitgift hat: Zwei Häuser und den lukrativen Gasthof („Weidenhof“) auf der Zeil.

 

Göthé hängt das Schneiderhandwerk von heute auf morgen komplett an den Nagel und wird Gastwirt – im Ansehen der damaligen Zeit ein sozialer Abstieg! Ökonomisch aber ist es das große Los seines Lebens! Und er wusste, was er tat. Ausgestattet mit dem Talent der Vielsprachigkeit und den besten französischen Manieren ergriff er die Chance seines Lebens. Er riss die alte Kneipe ab und errichtete dafür ein supermodernes Hotel mit Gastwirtschaft in der allerbesten Lage für die vielen anspruchsvollen in- und ausländischen Messegäste und für Festlichkeiten der Frankfurter Honoratioren. Kurzum: Es wurde das Walldorf Astoria seiner Zeit, mit dem er viel, ja sehr viel Geld verdiente. Seinen jüngsten Sohn Johann Caspar (Goethes Vater) aus der zweiten Ehe mit Cornelia Schellhorn förderte er mit besonderer Sorgfalt. Im Gymnasium Casimirianum in Coburg erhielt er eine gediegene Ausbildung unter Patrizier- und Adelssöhnen. Seinen Namen latinisierte dieser dort in „Goethe“ mit Umlaut und ohne Accent aigu. Im Matrikelverzeichnis bezeichnete er sich als „cauponis filius“, also als Sohn eines Gastwirts! Mit diesem Sohn wollte Vater Göthé in die erste Reihe der geburtsadligen Frankfurter Ratsfamilien aufsteigen, was ihm ja schließlich auch gelang.

 

Über Großvater Göthés Finanzen ist einiges bekannt und einiges nebulös. Sein Aufstieg nahm die Rockefellers der neuen Welt vorweg. Seine Schneiderkarriere in Frankfurt begann er 1686 mittellos. 1701 hatte er bereits die höchste Steuerstufe erklommen. Als Hotelier stieg sein Vermögen ins Unermessliche. 1730 starb er im Alter von 72 Jahren und hinterließ neben einem wertvollen Weinvorrat mehrere Häuser, Grundstücke und natürlich den „Weidenhof“. Im Keller befand sich ein Depot von sage und schreibe 16 (!) schweren Säcken Gold- und Silbermünzen. Ein Vermögen, dass sich bis heute keiner erklären konnte und kann. Spekulationsgeschäfte mit Immobilien und Wein Richtung Frankreich heizten die Gerüchteküche immer wieder an. Witwe Cornelia verkaufte den Hotelkomplex auf der Zeil und erwarb im Großen Hirschgraben ein mittelalterliches Doppelhaus mit natursteinernem Erdgeschoss und aufsitzenden drei Fachwerkgeschossen im altfränkischen Stil mit viel Holz und kleinen Gefachen, worin sie später ihren Sohn Johann Caspar mit Frau und Enkel Johann Wolfgang und seiner Schwester Cornelia aufnahm.

 

Mit dem Tod der Witwe Cornelia Göthé wurde das alte Doppelhaus abgerissen und 1755 ein neues repräsentatives barockes Stadtpalais mit 20 Zimmern errichtet. Eine neue Wappenkartusche musste her, die keinerlei Hinweis auf den geldgebenden Göthé-Großvater enthielt. Drei Leiern als Symbole für Kunst und Kultur wurden mit dem Textor Wappen in Allianz verbunden.

 

Die Existenz des Vaters und Großvaters sowie deren unstandesgemäße Linie wurde bei den nunmehrigen Goethe-Patriziern verleugnet – man nahm zwar alles Geld und Vermögen, wusste Bescheid, aber man sprach nie darüber. Da Goethes Geschwister alle verstorben waren – Schwester Cornelia geistig umnachtet im Jugendalter, die anderen bereits in früher Kindheit – fiel dem Herrn Geheimrat in Weimar das ungeschmälerte Gesamterbe zu. Woher das viele Geld für das in seiner Stellung ganz ungewöhnliche Vermögen kam, und das ihm ein Leben in Luxus und Sorglosigkeit ermöglichte, blieb sein Geheimnis. Nie hat er je darüber ein Wort verloren! Für den jungen Studiosus Johann Wolfgang Goethe müssen die unstandesgemäßen Arternschen Familienangehörigen schon völlig unbekannt gewesen sein. Bei seiner Reise nach Leipzig zur Immatrikulation 1765 verunglückte er in Auerstedt schwer. Nach Artern wären es rund 20 Kilometer gewesen, stattdessen schleppte er sich ins 100 Kilometer entfernte Leipzig, wo er zunächst niemanden kannte. In keiner seiner umfangreichen schriftlichen Hinterlassenschaften ist auch nur ein einziger eindeutiger Hinweis auf diesen Großvater nachweisbar.

 

Bismarcks Bankier Bleichröder hat 100 Jahre später das Schicksal dieser Familien so treffend wie kein Zweiter beschrieben: Die erste Generation (also der Emporkömmling) erwirbt das Vermögen, die zweite (Goethes Vater) verwaltetet es, die dritte studiert Kunst (Johann Wolfgang) und die vierte bringt alles durch (Sohn August im Suff verstorben). Die beiden einzigen Enkel verstarben kinderlos.

 

Woher wissen wir das alles: Von Friedrich Georg Göthe ist eine Lebensbeschreibung als Zuarbeit für seine Leichenpredigt 1730 erhalten geblieben!

Nr. 275 vom 12. März 2025, Seite 17

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