Schlank, aber trotzdem adipös!

Auch schlanke Menschen können den gesundheitlichen Risiken von Adipösen ausgesetzt sein. Das ist dann der Fall, wenn Schlanke viel Bauchfett haben. Ursache dafür kann ein Erbe aus der Steinzeit, chronischer Stress oder der übermäßige Genuss von Zucker sein.

Die Straße, Ernst Ludwig Kirchner (Museum of Modern Art, New York). Die Straßenszenen bilden eine Werkgruppe, die der Maler zwischen 1913 und 1915 geschaffen hat.

Die oft in Zeitungsartikeln und Werbungen eingestreuten englischen Wörter und Abkürzungen machen es reiferen Lesern nicht leicht, den Geschehnissen unserer Zeit zu folgen. Neulich bin ich beim Lesen über TOFIs gestolpert. Zuerst dachte ich, dass TOFIs verwandt sind mit TOFU, dem aus Sojamilch hergestellten Bohnenquark. Für Asiaten ist das nichts anderes als eine „geronnene Bohne“. Deshalb sagen sie TOFU. Aber Sojabohneneiweiße sind die TOFIs nicht. Dann vermutete ich, dass es sich um eine verniedlichende Bezeichnung für die TOFFIFEEs handelt, den caramel-, nougatcreme- und schokoladelastigen Süßigkeiten. Vielleicht verbirgt sich aber hinter TOFI auch nur der Markenname von einer neu eingeführten süßen Versuchung? Mit all diesen Vermutungen lag ich falsch. Ärzte kreierten die Abkürzung TOFIs für Menschen, die oft schlank erscheinen, aber viel Fett im Bauchraum (viszeral) haben. Wenn diese Fetteinlagerung ausufert, wird die Figur von Männern apfelförmig.

 

Außen dünn, innen dick

 

TOFI (engl. thin on the outside, fat on the inside) muss also mit „außen dünn, innen dick“ übersetzt werden. Im Unterschied zu den TOFIs ist bei den unübersehbaren Dicken viel Fett unterhalb der Haut (subkutan) eingelagert. Auffällig sind die TOFIs geworden, weil ihre Blutfett-Werte so hoch sind, wie die von extrem Übergewichtigen. Deshalb werden sie auch als „metabolische Adipöse“ bezeichnet. Auf diese spezielle Form des Dickseins haben erstmals amerikanische Ärzte vor etwa 40 Jahren aufmerksam gemacht.

 

Im Vergleich zu dem stoffwechselträgen Fettgewebe unter der Haut hat das Fett im Bauchraum einen aktiven Stoffwechsel, es besitzt mehr Immunzellen und wird besser mit Blut und Nerven versorgt. Der schwerwiegende Nachteil des Bauchfetts ist allerdings sein größeres Risikopotential für die Gesundheit. Abgesehen davon, dass es ähnlich dem Unterhautfett die Anfälligkeit für Bluthochdruck und Diabetis erhöht, wird im Bauchfett eine große Zahl von Signalstoffen gebildet und in den Körper „versandt“.

 

Diese können in den Hormonhaushalt eingreifen und zum „Absturz“ des Testosterons führen. Die sogenannten Zytokine (Wachstumsregulatoren von Zellen) unter den Signalstoffen werden zum Auslöser von „stillen“ Entzündungen im Körper. Still heißen die Entzündungen deshalb, weil sie sich nicht durch die klassischen Merkmale (Schwellungen, Rötungen und Schmerzen) bemerkbar machen und trotzdem das Immunsystem auf Trab bringen. Durch das häufige „um Hilfe rufen“ der Entzündungsorte wird das Immunsystem geschwächt. Es wird vermutet, dass „stille“ Entzündungen den Weg für solche Zivilisationserkrankungen wie Diabetes oder Arteriosklerose bereiten.

 

Außerdem kann sich bei einer dauerhaften Deponierung von Fett in der Leber eine Leberzirrhose entwickeln. Wenn das passiert, kann die Leber nicht mehr ihren Dienst für den Körper erbringen, wie die Entgiftung des Blutes, die Bildung vieler Bluteiweiße oder die Versorgung des Gehirns mit Energie bei anhaltendem Hungern.

 

Was ist Fett? Es ist ein Gemisch von Triglyzeriden. In diesen körpereigenen Molekülen für die Speicherung von Energie, genauer gesagt von Wasserstoff, ist der Alkohol Glyzerin mit drei langkettigen Fettsäuren verknüpft. Das in Zellen eingelagerte Fett kann sich so breit machen, dass der Zellkern an den Zellrand gedrängt wird. Wenn das passiert, dann ähnelt die Zelle einem Siegelring.

 

Ein Erbe aus der Steinzeit

 

Es gibt TOFIs, die an ihrem Bauchfett schuldlos sind. Schuld hat in diesen Fällen ein Erbe aus der Steinzeit, ein aus heutiger Sicht mutiertes Gen mit der Abkürzung PNPLA3.

 

Obwohl davon ausgegangen wird, dass damals fast alle Menschen diese Risikovariante besaßen, war das kein wirklicher Nachteil für sie. Ihre körperliche Aktivität hätte es gar nicht zugelassen, dass sich bei ihnen viel Fett im Bauchraum einlagert. Außerdem hat ihre kurze Lebenserwartung verhindert, dass die Nachteile der Risikovariante in ihrer Lebenszeit zu einer Gefahrenquelle geworden wären.

 

Heute ist dagegen die nicht-mutierte Genvariante weit verbreitet. Diese enthält den Bauplan für ein Leberprotein, das die Fettsäuren aus ihrer Liaison mit dem Glyzerin im Leberfett freisetzt. Im Gegensatz dazu begünstigt die Risikovariante des Steinzeit-Menschen den Verbleib des Fetts in der Leber, was wegen der schwierigen Nahrungsbeschaffung für das Überleben von Vorteil war. Wildgänse profitieren von der Fettleber, denn nur mit einer solchen können sie einen Langstreckenflug antreten. Übrigens, in Frankreich gilt die „foie gras“ der Gänse und Enten als besondere Delikatesse. Das Bauchfett scheint aber auch für die Anpassung an Kälte vorteilhaft zu sein, denn warum sollten sonst die im sehr kalten Nordostsibirien lebenden Jakuten im Besitz der Risikovariante sein?

 

Chronischer Stress

 

Von der ererbten Risikovariante des PNPLA3-Gens einmal abgesehen, trägt auch chronischer Stress zur Vermehrung des Bauchfetts bei. Für diesen gibt es äußere, aber heute auch viele psychische Ursachen. Aber wie kommt es nun durch chronischen Stress zur Vermehrung des Bauchfetts?

 

Stress signalisiert dem Körper einen höheren Energiebedarf. Damit dieser die zusätzlich benötigte Energie aufbringen kann, wird eine vom Gehirn bis zu den Nebennierenrinden reichende Signalkette aktiviert. An deren Ende wird das Stresshormon Cortisol (lat. Cortex = Rind) in das Blut ausgeschüttet. Das Cortisol wiederum aktiviert die Stoffwechselwege, die Brennstoffe für die Energieerzeugung der Zellen liefern können. Hierbei wird Glucose aus Muskeleiweiß neu gebildet und Fettsäuren werden aus dem gespeicherten Unterhautfett mobilisiert.

 

Im Unterschied zu den Steinzeit-Menschen oder zu Extremsportlern werden bei chronisch gestressten, aber bewegungsfaulen Zeitgenossen die freigesetzten Fettsäuren nicht verbrannt. Stattdessen wird bei diesen wieder Fett aus den Fettsäuren gebildet und anschließend zum großen Teil in den Bauchraum eingelagert. Somit können TOFIs ihr Bauchfett auch einer Fettwanderung von der Peripherie in den Bauchraum verdanken.

 

Diese Sicht auf die Herkunft des Bauchfetts wurde ursprünglich durch eine hormonelle Erkrankung, dem Cushing-Syndrom, nahegelegt. Bei diesem sind hohe Cortisol-Blutwerte mit bauchbetontem Übergewicht assoziiert. Nach seiner Ausschüttung wird das Cortisol in das wirkungslose Cortison umgewandelt. Im Fettgewebe gibt es aber ein Enzym (11HSD1), welches das Cortisol aus dem Cortison erneuert. Auf diese Weise wird einmal ausgeschüttetes Cortisol im Fettgewebe länger „am Leben gehalten“.

 

Der Querulant unter den Kohlenhydraten

 

Es ist eine alte Binsenweisheit, dass ein Zuviel an verspeisten Kohlenhydraten dick macht. Der Name für diese Quelle des Dickwerdens verwundert vielleicht einige Leser, weil es sich dabei nicht um vom Wasser „ummantelte“ Kohlen handelt.

 

Stattdessen bestehen Kohlenhydrate aus kurzen Ketten von Kohlenstoffatomen, an die sich je ein Wassermolekül angelagert hat. Kohlenhydrate nehmen wir vorwiegend mit der im Mehl enthaltenen Stärke und dem gewöhnlichen Zucker (Saccharose) aus der Rübe oder dem Zuckerrohr auf. Beide enthalten Glucose. Wenn zu viel Glucose im Angebot ist, dann macht die Leber über eine Vielzahl von Einzelreaktionen aus der gut wasserlöslichen Glucose wasserunlösliches, energiereiches Fett.

 

Nun zurück zum Bauchfett. Schon lange wird vermutet, dass Speisen und Getränke mit viel Fructose das Bauchfett vermehren. Fructose gibt es nicht nur in Früchten, sie ist auch Bestandteil des normalen Haushaltszuckers. Der besteht aus Molekülen, in denen Glucose und Fructose miteinander verknüpft sind. Im Darm werden beide voneinander getrennt und gelangen danach über das Blut zu den Zellen des Körpers. Übrigens, wenn man ein Honigesser ist, erspart man dem Darm den Arbeitsaufwand für die Trennung, denn Glucose und Fructose sind im Honig reichlich enthalten. 

 

Im Unterschied zur Glucose wird der Gehalt der Fructose im Blut nicht durch das Insulin reguliert. Außerdem wird Fructose im Gegensatz zur Glucose anders, fast nur von der Leber und ungebremst abgebaut. Bei Nichtbedarf wird Fructose auch nicht in der Muskulatur abgespeichert. Damit sind aber die Besonderheiten der Fructose noch nicht ausgereizt. Fructose kann auch direkt „stille“ Entzündungen auslösen, und wenn sie in das Gehirn eingedrungen ist, kann sie auch über die oben erwähnte Signalkette eine Ausschüttung des Cortisols aus den Nebennieren in Gang setzen.

 

Resümee mit Nachgeschmack

 

Unsere sehr frühen Vorfahren, die Jäger und Sammler der Steinzeit, fanden das Süße nur in Beeren, und das auch nur im Herbst. Brot lange zu kauen, um ein bisschen süßen Geschmack genießen zu können, war für sie keine Alternative, denn das Brot wurde erst sehr viel später erfunden. Das mag erklären, dass unsere Heißhunger-Attacken auf Süßes ein Erbe aus der Steinzeit sind, und wir deshalb so schwer darauf verzichten können.

 

Weil Süßes außerdem schnell verfügbare Energie für den Körper liefert, haben wir einen angeborenen Geschmackssinn für das Süße. Deshalb können Neugeborene auch ihren Dank für erhaltenes Süßes mit ihrer Mimik zum Ausdruck bringen. Nicht zu vergessen, dass sich mit Süßem leichte Depressionen bekämpfen lassen, weil der darin enthaltene Zucker im Körper die Glückshormone Serotonin und Dopamin freisetzt.

 

Heute ist der aus Rüben oder Zuckerrohr gewonnene Haushaltszucker allgegenwärtig. Er ist in Konserven und Fertigprodukten enthalten, wo wir ihn eigentlich nicht erwarten würden. Sogar in der Wurst gibt es Zucker. Dadurch wird sie länger haltbar und bleibt gut anzuschauen. Gemessen am Haushaltszucker ist Fructose eine größere Herausforderung für den Körper.

 

Seit Jahren gibt es dafür eine sprudelnde Quelle, den aus Genmais hergestellten Sirup, mit dem in den USA nahezu alle Softdrinks gesüßt werden. Nach einer etwas zurückliegenden Schätzung konsumieren die Nordamerikaner durchschnittlich 50 g Fructose am Tag. (Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt dagegen nur 25 g Haushaltszucker pro Tag.) Die Allerwenigsten kennen sicher nur ungenügend deren negative Wirkungen auf den Körper. Im Hinblick auf die ständig steigenden Ausgaben für das Gesundheitswesen ist es irritierend, dass seit Oktober 2017 in Deutschland Maissirup in unbegrenzter Menge bei der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden darf.

 

Noch eine Bemerkung zum Cortisol, denn das kann für uns ein Freund, aber auch ein Feind sein. Zu Letzterem wird es dann, wenn die „stillen“ Entzündungen ständig dessen Ausschüttung aus den Nebennieren stimulieren. Aber warum wird es dann zum Feind? Damit die durch das Cortisol angestoßene Bereitstellung von Energie (Glucose und Fettsäuren) vorwiegend zur Stressbewältigung eingesetzt werden kann, muss das Cortisol die Immunabwehr wegen seines Energiebedarfs unterdrücken. Mit der Schwächung des Immunsystem wird aber unser Körper anfälliger für Angriffe von Erregern, auch für die der Krebszellen.

 

Prof. Dr. Peter Schönfeld

Nr. 275 vom 12. März 2025, Seite 22

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