Gedanken- & Spaziergänge im Park: Enttäuschte Erwartungen

Nachdem der alte und abgewählte Bundestag noch einmal reanimiert wurde, um mit den Stimmen der von der CDU/CSU angeblich so verachteten Grünen das Billion-Schuldenpaket von CDU und SPD durchzudrücken, durfte er sich endgültig zur Ruhe legen, denn am 25. März konstituierte sich der neue Bundestag. Dieser begann seine Tätigkeit nach der Eröffnung mit dem schon beim Vorgänger üblichen Gehabe, dem Kandidaten der AfD das Amt eines Bundestagsvizepräsidenten zu verweigern. Man kam sich vor wie im Kindergarten: „Mit dem spielen wir nicht“. Gerd fühlte sich dabei an das Lied von Franz Josef Degenhardt erinnert, in dem spießige Eltern ihren freiheitsliebenden Sohn vergeblich ermahnen: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder!“ „Ja“, antwortete ich, „es wirkt wirklich ausgesprochen kindisch, dass sie in drei Wahlgängen den Kandidaten der AfD, Gerold Otten, für das Amt des Vizepräsidenten haben durchfallen lassen. Dabei gibt es an diesem Mann doch nichts auszusetzen. Seit 2017 sitzt er für die AfD im Bundestag. Er ist Major der Reserve, hat also einen Eid auf unseren Staat geschworen, studierte Elektrotechnik und war Pilot und Fluglehrer, ist nie durch irgendetwas Rechtsextremes aufgefallen. Es reicht also allein seine Parteizugehörigkeit, um ihn nicht zu wählen. Für eine demokratische Reife spricht das nicht.“ „Nur für eine von ideologischen Vorurteilen getrübte Haltung. Offenbar begreifen diese Volksvertreter nicht einmal, dass sie damit Wahlhilfe für die AfD betreiben, denn Otto und Ottilie Normalverbraucher bestrafen solch albernes Verhalten oft trotzig nach dem Motto: Nun gerade, eben weil ihr es nicht wollt!“

 

Die Toleranz nach links

 

Nach links außen ist man nicht so zimperlich. Von 2006 bis 2025 war eine der Vizepräsidenten die Abgeordnete der Linken Petra Pau. Nach dem Abschluss der Schule 1979 begann Pau mit 16 ein Fachschulstudium am Zentralinstitut der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, das sie 1983 als Freundschaftspionierleiterin und Unterstufenlehrerin abschloss, um dann von 1985 bis 1988 an der Parteihochschule „Karl Marx“ Gesellschaftswissenschaften zu studieren. Danach arbeitete sie im Zentralrat der FDJ bis zu dessen Auflösung. Also eine lupenreine SED-Karriere, was aber offenbar die Mehrheit der Abgeordneten nicht störte. Ganz ähnlich liegt die linksseitige Toleranz bei dem Alterspräsidenten, der die erste Sitzung eines neugewählten Bundestages eröffnete und leitete, Gregor Gysi. Ursprünglich war der Alterspräsident, wie allgemein üblich, wirklich der an Jahren älteste Abgeordnete. 2017 änderte man diese Regel plötzlich so, dass der Alterspräsident der Abgeordnete sein solle, der am längsten Mitglied des Bundestages ist. Was war der Grund für diese Änderung? Die AfD kam 2017 erstmals in den Bundestag! So konnten die Altparteien vermeiden, dass auf lange Zeit kein Abgeordneter der AfD dieses Ehrenamt übernehmen würde. So eröffneten 2017 Otto Solms (FDP), 2021 Wolfgang Schäuble und 2025 Gregor Gysi die jeweils neue Legislaturperiode. Auch ein Beweis für die unendliche Toleranz gegenüber links, denn schließlich war Gysi der letzte Vorsitzende der SED, die er in SED-PDS umtaufen ließ, um dann nach der Wahl der ersten freien Volkskammer 1990 die vom Volk ungeliebte Abkürzung SED ganz zu entsorgen. Von seinem Witz und Esprit war in seiner Eröffnungsrede nicht viel zu spüren. Er wirkte eher hölzern und angespannt und erhielt von den anderen Parteien kaum Applaus. Zu allem Überfluss versuchte er, die in seinen Augen guten Seiten der DDR hervorzuheben. In der Erinnerung daran wurde Gerd ärgerlich: „Gysi brach sogar für die Stasi noch eine Lanze und forderte, dass doch anerkannt werden solle, dass weder Stasi noch Volkspolizei auf die Demonstranten geschossen hätten, als diese gegen die DDR-Regierung auf die Straßen gingen.“ Erregt fuhr er fort: „Das kann doch nicht wahr sein! Im Juni 1989 hatte Egon Krenz China noch zur blutigen Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gratuliert! Ich erfuhr von Freunden aus Leipzig am 5. Oktober 1989, dass die Kliniken angewiesen waren, für den kommenden Montag Betten freizumachen und größere Mengen an Blutkonserven bereitzuhalten. Auf meiner Arbeitsstelle wurden wir zu Arbeitsbeginn am 9. Oktober 1989 zusammengetrommelt und die Parteisekretärin warnte in einer kurzen Ansprache alle Mitarbeiter davor, am Abend zum Montagsgebet in den Dom zu gehen, denn die staatlichen Organe wären darüber informiert, dass Provokateure gewalttätige Ausschreitungen planten. Durch diese Provokateure könnte es zu Gewaltakten kommen, sodass die „staatlichen Organe“ dann energisch und notfalls mit Waffengewalt einschreiten müssten. Es stimmt, dass die Stasi oder die Vopo nicht geschossen haben. Aber nicht, weil sie sich geweigert hätten. Nein, sondern weil der Befehl zur gewaltsamen Niederschlagung nicht erteilt wurde. Und das, du kennst meine Meinung, haben wir der sowjetischen Führung unter Gorbatschow zu verdanken und nicht der SED, der Stasi oder der Volkspolizei!“

 

Kritik-Theater

 

Reg dich ab“, sagte ich, „vor nicht allzu langer Zeit hat sich Gysi auf TikTok mit einer Sturmhaube gezeigt, also einer Kopfbedeckung zur Vermummung, wie sie gewöhnlich gewalttätige Extremisten oder Einbrecher tragen und niemand hat sich daran gestört. Stell dir vor, Chrupalla hätte sich so maskiert. Das hätte Medien und andere Parteien tagelang beschäftigt. Toleranz kann sehr einseitig sein. Aber eigentlich waren wir doch gerade beim neuen Bundestag.“ Das neue Parlament scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Wurde zuerst, statt seiner, noch einmal das alte Parlament benutzt, um den neuen Schuldenberg zu legalisieren, so wurde jetzt der Neue, kaum dass er zusammengetreten war, erst einmal wieder in den Ruhezustand versetzt, indem die erste Sitzungswoche, die vom 7. bis 11. April vorgesehen war, auf Antrag von CDU und SPD abgesagt und auf Mai verschoben wurde. Linke und AfD protestieren dagegen und auch die Grünen üben Kritik an der Verschiebung. Der Linken-Geschäftsführer Christian Görke, sagte: „Es ist ein Affront, dass der neue Bundestag nächste Woche nicht wie geplant einberufen wird. Während der Koalitionsverhandlungen soll politisch Grabesruhe herrschen, die Opposition soll nicht stören – das ist ein Unding.“ Gerd meint über die Empörung der Linken, dass das nur Theaterdonner wäre, denn zusammen mit der AfD hätten sie über ein Drittel der Stimmen der Abgeordneten und damit die Macht, entsprechend den Regularien den Bundestag dennoch einzuberufen. „Aber das wollen sie lieber nicht, denn dann könnten sie die CDU nicht mehr mit dem Vorwurf, die Brandmauer einzureißen, fesseln. Also bleibt’s so, wie SPD und CDU das möchten.“

 

Die CDU-Basis rebelliert

 

Die Ursache für die Verzögerung sind mit Sicherheit die schwierigen Verhandlungen zwischen SPD und CDU zur Bildung der „Kleiko“, wie Gerd das künftige Gebilde nennt, denn analog zur „Groko“ seligen Angedenkens kann es nur eine kleine Koalition werden. Eine wirklich große Koalition könnte die CDU nur mit der erstarkten AfD bilden, doch das wäre eine große Sünde gegen den derzeit noch vorherrschenden heiligen politischen Geist. So hat die geschrumpfte SPD, die mit 16,4 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik eingefahren hat, eine erhebliche Macht bei den Verhandlungen über die deutlich stärkere CDU. Merz hatte vor der Wahl starke Entscheidungen verkündet, wie die Schuldenbremse und sichere Grenzen, von denen er sich nun Stück für Stück verabschiedet. Das schadet ihm und der Partei. In den jüngsten Umfragen waren etwa 70 Prozent sehr unzufrieden mit Merz. Für die CDU/CSU sieht es nicht besser aus: Hatten CDU und CSU bei der Bundestagswahl zusammen 28,6 Prozent erreicht, so kamen sie bei der letzten Umfrage nur noch auf 24. Und die AfD hat gleichgezogen. Sie nahm im gleichen Zeitraum in der Wählergunst zu und steht nun ebenfalls bei 24 Prozent. „Das Verrückte daran ist“, meinte Gerd, „dass die AfD dafür nicht das Geringste tun muss. Sie kann das ganz der CDU überlassen.“ „Vielleicht sollte die AfD Friedrich Merz zu ihrem Ehrenmitglied ernennen“, schlug ich vor.

 

Aber es sind nicht nur die Wähler, die mit der CDU jetzt unzufrieden sind. Viel schlimmer für die Partei und ihre Führung ist es, dass es in der CDU selbst rumort. Die erste Meldung kam aus Kühlungsborn, wo ein großer Teil der CDU-Stadtratsmitglieder demonstrativ aus der Partei austrat und das öffentlichkeitswirksam kundtat. Seitdem häufen sich solche Meldungen über Austritte und Protestbriefe an den Parteivorstand. Aus allen Teilen Deutschlands kommen Beschwerden von Parteimitgliedern, die sich bitter beklagen, dass sie im Winter auf Straßen und Plätzen an den Ständen für ihre CDU-Wahlkampf gemacht haben und mit der Schuldenbremse und der ernsthaften Begrenzung der Migration durch die CDU für ihre Partei geworben hatten und nun gewissermaßen als Schwindler betrachtet werden. Das sei schwer zu ertragen. Leider kam bisher so gut wie nichts aus dem Parteivorstand über diese Krise mit der Basis an die Öffentlichkeit. Man darf gespannt sein, wohin dieser interne Prozess noch führt.

 

Inzwischen kamen wir durch die Sternstraße am Hasselbachplatz an. „Mal was anderes“, sagte ich zu Gerd, „ich las kürzlich ein Zitat des griechischen Philosophen Platon (428-348 v. Chr.). Es lautet: Die Stadt ist das Abbild der Seele des Menschen.“ „Wenn da was dran ist, dann sind wir schlecht dran“, erwiderte er und verabschiedete sich.

 

Paul F. Gaudi

 

Die Kolumnen von Paul F. Gaudi sind als Buch unter dem Titel „Der Spaziergänger“ Teil I (Nr. 1 bis 54) und Teil II (Nr. 55 bis 100) erhältlich. Erschienen ist inzwischen Teil III. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum oder im Online-Shop erworben werden.

Nr. 277 vom 9. April 2025, Seite 7

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