Brief entdeckt: Heinrich Zille schrieb 1924 an Bruno Taut

Was haben Berlin und Magdeburg Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam? Heinrich Zilles „Milljöh“ prägt in der Gründerzeit beide Städte mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Obdachlosenasyl, Destille, Mülltonnen-Berufe. In Berlin wächst mit Glanz der Westen mit noblen Wohnvierteln, während die Arbeiterviertel von Armut geprägt sind. Das Arbeitsfeld über Jahrzehnte von Heinrich Zille (1858-1929). 1958 gab Gerhard Flügge ein Jubiläumsband mit dem Titel „Heinrich Zille Vater der Straße“ heraus, in dem er die Entscheidung zum sozialen Engagement, zum Schritt auf die Straße in Berlin beschreibt, den schon William Hogarth (1697-1764) in England eindrucksvoll getan hat. „Die Armut zeichnen, Anklage erheben, um die Menschen zu bessern, ihnen die Augen zu öffnen, um helfen zu können“.
Auch in Magdeburg prägt wie im Westen Berlins die Gründerzeit nach dem Abriss der Festungsanlagen das südliche Stadtzentrum, Stadtfeld, und im „Rayonviertel“ Klausener Straße glänzten die prachtvollen Villen. Der Bau der Eisenbahn, die Industrialisierung (u. a. Krupp, Gruson) und die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz zogen um 1900 viele Menschen in die ehemals eingeschnürte Festungsstadt. Die Einwohnerzahl Magdeburgs stieg von 20 Tausend (1820) auf 220 Tausend Einwohner an (1900). Die Wohnungsnot war groß, die hygienischen Zustände in den Mietskasernen unerträglich, das Trinkwasser oft verunreinigt und wiederholt wurde die Bevölkerung Opfer von Seuchen. Obwohl viele Gebäude im Bereich der Altstadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, existiert im Volksmund für die Altstadt (Bereich an der Jakobstraße) noch heute der Begriff „Knattergebirge“. Die Gründerzeit zeigte keine eigene Formsprache – bis auf die Prachtfassaden an den Hauptstraßen für eine zahlungskräftige Mieterschaft, dann folgten schmucklose Hinterhöfe, Mietskasernen, Seitenhäuser aneinandergebaut und wieder enge, feuchte Hinterhöfe mit Plumsklos in Reihe – mir ist die Benutzung mit Zeitungspapier noch heute in anrüchiger Erinnerung. Zilles „Milljöh“ war auch in Magdeburg.
Zu dieser Zeit, in diesem sozialen Spannungsfeld, waren mit Unterstützung des Stadtbaurates Otto Peters (nicht mit mir verwandt) in Magdeburg sieben Wohnungsgenossenschaften entstanden. Ihre Ziele waren das Leben in der Gemeinschaft, in Harmonie mit Gleichgesinnten und genossenschaftliches Wirtschaften, gesunde Wohnverhältnisse und sparsame Grundrisse in den Wohnhäusern bei vergleichbar geringen Mieten – beeinflusst von den französischen Sozialisten ein utopisches Ikarien in Magdeburg ?!! Weit außerhalb der Altstadt wurde kostengünstig Land gekauft, eine Alternative gegen die Bodenspekulation und den Mietwucher in der Innenstadt. Bereits 1912 waren die ersten Wohnungen in der Gartenstadt Reform (heutige Gartenstadt-Kolonie Reform) gebaut worden – nicht akademisch, sondern modellhaft für die Gartenstadtbewegung. So planten die Köpfe für die neue Gartenstadtbewegung Hans Kampffmeyer (1876-1932) und Hans Bernouille (1876-1959) in Magdeburg die ersten Konzepte für die Gartenstadt Reform und Hopfengarten. Bruno Taut (1880-1938) hat nicht nur mit der Gartenstadt Reform ein Zeichen für das soziale, genossenschaftliche Bauen gesetzt, sondern hatte 1914 mit seinem Glashaus auf der Werkbundausstellung in Köln die Moderne eingeläutet. Ein Pavillon aus Stahl, Beton und buntem Glas bereichert durch geistige Beiträge von Paul Scheerbart (1863-1915). Der Avantgard Bruno Taut wird 1921 nach Magdeburg berufen, die Magdeburger Moderne beginnt, von „Magdeburg geht ein Frühlicht“ aus und prägt bis heute das Stadtbild, obwohl er schon 1924 „mangels Arbeitsaufträgen“ Magdeburg Richtung Berlin verlassen hat.
Der sehr persönliche Brief von Heinrich Zille aus Berlin Charlottenburg an Bruno Taut am 25. August 1924 ist beeindruckend und spiegelt die soziale Einstellung. Aus meiner Sicht ein besonderes Fundstück in dem Atelier Kraft in Dömitz, das wesentlich zur Bereicherung der Sammlung des Architekten Bruno Taut in Magdeburg beiträgt. Die MWG-Wohnungsgenossenschaft eG Magdeburg hat den Brief inzwischen für die Sammlung zur Magdeburger Baugeschichte erworben.
Dr. Eckhart W. Peters, Besandten an der Elbe
Text des Briefes von Heinrich Zille
25/8.24 Charlottenburg, Sophie-Charlottestr. 88
Lieber, verehrter Herr Bruno Taut!
Auf Ihr Schreiben betreff Zeichnung. Lege Ihnen anbei eine Pause, nach einem Bilde aus meinem Buch, bei. Vielleicht könnten Sie die Skizze gebrauchen (?) Ich komme nicht zum Zeichnen, neues, bin jetzt müde u. kränklich, warte auf Besserung.
Die Pause habe ich, heut, Sonntag, gemacht u. würde mit 12 m. berechnen, das Geld käm einem 73 jähr. hilflosen Mann, der in einem naßen Keller wohnt, zu gute.
Wünsche daß es Ihnen gut gehe. Wir haben uns Jahre nicht gesehen zum Freund Dr. Behne komme ich auch nicht – es hat jeder seine eigenen Sorgen.
Mit ergebenem Gruß
Ihr H. Zille
Nr. 277 vom 9. April 2025, Seite 10
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