Drei Sekunden Gegenwart
Täglich prasseln unzählbare Information auf uns ein. Manche wiederholen sich, andere verbreiten genau das Gegenteil – egal, was verbreitet wird. Alles vollzieht sich in rasender Geschwindigkeit und einer unübersichtlichen Fülle. Dann melden sich die sogenannten Einordner – Journalisten, Wissenschaftler, allerlei Experten oder Politiker. Sie wollen das Chaos an Worten, Parolen, Interpretationen und Ansichten erklären. Am Ende verwirren sie auch. Ein nebulöser Versuch eines Zustandsbericht über die Gegenwart.

Die Gegenwart dauert gerade mal drei Sekunden. so sagt es uns die Hirnforschung. Das ist Wahrnehmungsspanne eines Momentes. Alles, was danach kommt, gleicht schon einer Verzerrung des eben Erlebten. Nun reihen wir heute Informationen in einer Geschwindigkeit und Fülle aneinander, so dass die Möglichkeit, sich auf das Erlebte bzw. Aufgenommen verbindlich berufen zu können, eher zerfällt, als dass sich daraus eine verbindliche Orientierung entwickeln könnte. Soweit eine verkürzte theoretische Erklärung.
Als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, dauerte es oft Minuten, bis ein Modem eine Verbindung aufgebaut hatte und Domänen auf- oder E-Mails abgerufen waren. Und doch war das bereits eine Revolution gegenüber dem Schreiben eines Briefes, egal ob handschriftlich oder an der Schreibmaschine. Kürzlich beobachtete ich einen jungen Mann im Café. Seine Finger tippten ultraschnell Zeichen in sein Smartphone. Manches Mal stieß er einen empörten Seufzer aus, verfinsterte sich seine Miene, und wieder hob er zu tippen an. Offenbar waren ihm die Reaktionen auf sein Geschreibsel nicht willkommen und er schrieb mit Empörung und reichlich sichtbarer Gestresstheit gegen irgendwelche Widersacher im Internet an. Solche Verhaltensphänomene kann man heute überall sehen. Sie sind Ausdruck dessen, dass da jemand andere von der Richtigkeit seiner Argumentation überzeugen will. Die Auswüchse davon nennt man einen Shitstorm. Ändert das die Realität? „Die Höflichkeitsformeln ‚Danke‘ und ‚Bitte‘ bei KI-Abfragen erfordern letztlich mehrere Millionen Dollar Stromkosten“, schrieb OpenAI-Chef Sam Altman in einem Post auf X. Energie wird verbraucht, und wir haben alle keine Ahnung, was unser täglicher Absonderungsmüll an Strom frisst.
Aber was ist der Treibstoff für all diese Auseinandersetzungen mit dem Zeichenwirrwarr anderer? Wir brauchen Überzeugungen und Orientierung, um uns im Leben zurechtzufinden. Haben wir dann über manche die Einsicht gewonnen, dass wir damit die richtige Sichtweise vermitteln, schalten Menschen in den Überzeugungsmodus. Historisch war das in den Kämpfen, um die wahre Religion zu sehen. Heute ist es ein täglicher Kulturkampf in unüberschaubaren Themenfeldern. Und das alles mit drei Sekunden Wahrnehmungsspanne. Noch ein Orakel: Da wir Informationen nun mehr und mehr durch KI verbreiten lassen, kann man annehmen, dass einerseits Sinnloses und andererseits Einseitiges zunehmen werden. Und das Auge des Menschen mit seinem Suchtappart Hirn im Hintergrund glotzt mit Spannung auf erzeugte Bilder, hört virtuellen Stimmen zu und glaubt, dadurch klüger zu werden. Bei drei Sekunden Gegenwart werden Gewissheiten tiefer in einen Nebel tauchen.
Doch nicht nur in der Onlinewelt spielt sich das Tohuwabohu ab. Es ist heute allgegenwärtig, nicht nur drei Sekunden lang. Wir hören es in politischen Reden, in gesellschaftlichen Diskursen, auf so ziemlich jedem Medienkanal und natürlich auch in privaten Gesprächen. Alle Auseinandersetzung, die uns begegnet, ist eine Erscheinung, die sich auf die Informationsbreite der Moderne zurückführen lässt. Deshalb entstehen im Gegenzug solche Tendenzen, die versuchen, das vermeintlich Falsche, Böse oder Gegenteilige zu bekämpfen. Und die jeweilige überzeugte Gruppe versucht, noch immer schärfere verbale Geschütze aufzufahren. Inzwischen versammeln sich politische Kräfte im Überzeugungskampf ihrer Wahrheiten und drohen mit Gesetzen, um unliebsame Meinungen niederzuhalten. Die eigentliche Erkenntnis müsste lauten: Ihr habt das Gespräch aufgegeben oder es gar nicht erst zustande kommen lassen. Im Übrigen waren ab 2015 die Feinde schon ausgemacht. Als Kritiker vor möglichen Folgen einer ungesteuerten Zuwanderung warnten, wurden diese mit Etiketten des Bösen beklebt. Nun kann man die Folgen nicht mehr wegreden. Sie erfüllen sich hierzulande. Es hieß, die Flüchtlingskrise hätte die AfD groß gemacht. Es war wohl eher die Ablehnung eines Diskurses. Und zweifelsfrei radikalisieren sich unter einem nicht stattfindenden Diskurs verbal, jene, die argumentativ kleingehalten werden sollen.
Als Geschichtsbeispiel soll hier die Bewilligung von Kriegsanleihen 1914, die nur durch die Stimmen der SPD im Reichstag aufgelegt wurden. Kriegstreiber und -befürworter wurden mal politisch ganz rechts verortet. Wollte man diese Definition heute über das Spektrum politischer Argumente im Bundestag stülpen, würden links von der AfD eine Menge Rechte sitzen. Das ist jedoch nur ein herausragendes Geschichtsverdikt. Die sogenannte Corona-Zeit kann als Lehrszenario herhalten, wie man sich Feinde quer durch die gesamte Bevölkerung schafft. Ähnlich ist es bei Debatten um Identitätsfragen, vorgeworfene kulturelle Aneignung oder Moralverbreitungen über manch angeblich böse – allen voran die Buben. Eine gesetzliche Einhegung von definiert unliebsamen Meinungen wird selbige nicht auslöschen. Da haben wir den einst „Real existierenden Sozialismus“ als bestes Beispiel der jüngeren Geschichte vor uns. Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich Unmut und Frust von der Seele zu reden. Da das jedoch immer seltener Auge in Auge erfolgt, sondern im virtuellen Raum ohne Handlungskonsequenzen, wird sich die digitale Sinnlosigkeit weiter Bahn brechen, und das alle drei Sekunden in jedem Individuum, das in diesem Energiemeer mitschwimmt.
Von Thomas Wischnewski
Nr. 279 vom 14. Mai 2025, Seite 4
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