Vom Gänseblümchendorf zur Stadtwiese

Mit meinen Schwestern in einem großen Haus Verstecken spielen, durch unseren Garten rennen, frisches Obst von unseren Obstbäumen pflücken, samstagmorgens zum Bäcker gegenüber laufen, um Brötchen zu holen, laut sein, da ich eh keinen stören konnte. Ungefähr so gestaltete sich meine Kindheit auf dem Dorf. Im Herbst waren wir Pilze sammeln, im Winter rannten wir in unseren Stiefeln durch den verschneiten Wald, im Frühling bastelten wir Gänseblümchenkränze und im Sommer erlebten wir ein regelrechtes Bullerbü-Abenteuer. Gerne erinnere ich mich an diese schönen Momente, die mir das Dorfleben boten und die mein Aufwachsen prägten. Dinge, die ich nicht vergessen möchte. Die Tatsache, dass wir etwa eine halbe Stunde zur Schule fahren mussten, der nächste Supermarkt in einem anderen Ort war, öffentliche Verkehrsmittel zu wünschen übrigließen und ich ganze 15 weitere Leute in meinem Alter kannte, werde ich allerdings auch nicht so schnell vergessen. Und vor allem, dass ich schon immer das Bedürfnis hatte, mehr zu sehen, mehr zu entdecken und rauszukommen.
Und dabei stellen diese Argumente nicht mal den Anfang der langen Liste von Umständen dar, die sich in einer Stadt attraktiver anfühlen. Ich möchte erwähnen, dass ich hauptsächlich von meiner eigenen Erfahrung und von der meiner Mitmenschen sprechen kann.
Aufgewachsen bin ich auf einem kleinen Dorf in Brandenburg, das an Sachsen-Anhalt grenzt. Häufig sind wir umgezogen, doch die Bedingungen änderten sich kaum. Nun lebe ich in Magdeburg, was ehrlich gesagt auch nicht wirklich dem Großstadtflair meiner Erwartungen entspricht, wodurch sich aber dennoch ganz andere Unterschiede ergeben. Nicht ohne Grund entscheiden sich laut dem RWI 81 Prozent der 18- bis 29-Jährigen für ein Leben in der Stadt. In diesem Zuge habe ich mich gefragt, warum der Anteil tatsächlich so hoch ist. Es liegt für viele auf der Hand, nach ihrem Schulabschluss auszuziehen. In vielen Fällen in eine Stadt, um eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen. Ich muss gestehen, dass für mich persönlich gar nichts anderes in Frage kam. Schließlich bieten Orte, in denen mehr Menschen leben, auch gleichzeitig mehr Möglichkeiten. Dabei spreche ich nicht nur von Karrieremöglichkeiten, sondern auch das Nutzen von Freizeitangeboten, wo sich junge Menschen in einer Stadt entfalten können. Seien es Sport-, Kultur-, oder Kreativangebote – Städte bieten viele Optionen, sich weiterzuentwickeln. Und dabei spielt ein Faktor eine wichtige Rolle, und zwar das soziale Umfeld. Mein Abiturjahrgang bestand mit mir aus zwölf Leuten. Und da es keine Möglichkeit gab, andere Gleichaltrige kennenzulernen, freundete man sich besser mit diesen elf Gleichgesinnten an.
Als ich das erste Mal auszog, um ein Jahr in Lissabon in Portugal zu leben, begegnete ich vielen mir zunächst Unbekannten. Dabei stellte ich fest, dass man sich Freunde auf Gemeinsamkeiten basierend aussuchen kann und nicht mit Menschen befreundet sein muss, die sich im selben Lebensabschnitt befinden. Und genau das bietet eine Stadt. Super viele Leute, mit denen man Hobbys, Interessen und auch Probleme teilen kann. Freundschaften, für die ich mich bewusst entscheide. Freundschaften, von denen ich nicht erwartet hätte, dass sie überhaupt zustande kommen.
Sind wir Menschen nicht immer auf der Suche nach im Geiste Verbundenen? Schließlich suchen wir lieber Bestätigung für unser Tun, statt Kritik daran. Und diese Bestätigung bekommt man von Menschen, mit denen man gleiche Interessen teilt. Also Freunde. Besonders vorteilhaft und erleichternd kann diese Tatsache für Randgruppen sein. Nehmen wir das Beispiel der queeren Community. Zwar lässt sich nicht pauschal sagen, dass auf dem Dorf weniger Toleranz für Mitglieder dieser Gruppe herrscht, allerdings findet die LGBTQ+ Gemeinschaft in einer Stadt mehr Anlaufstellen für Beratung und ein breiteres Angebot. Und durch die Tatsache, dass hier nicht jeder jeden kennt, behaupte ich, dass es dieser Community leichter gemacht wird, einen Alltag mit weniger Anfeindungen zu erleben. Die Anonymität einer Stadt kann also durchaus positiv für ihre Bewohner sein. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt. Es hört sich danach an, als wäre jeder in einer größeren Stadt offener dafür, sich mit dir anzufreunden. Aber so ist es nämlich nicht. Die Anonymität, die in Städten herrscht, sorgt auch oft für ein kaltes Klima des Desinteresses.
In meinem Heimatdorf grüße ich jeden, dem ich begegne. Ein einfaches „Hallo”, ein freundliches Lächeln und die Vertrautheit der Dorfgemeinschaft lebt auf. In Magdeburg wurde ich bisher nur stirnrunzelnd angeguckt, wenn ich die Menschen, deren Weg ich kreuzte, grüßte. Also entschied ich mich nach wenigen Tagen, mich anzupassen und unterließ diese nette Geste. Die Menschen in der Stadt sind sich in aller Regel fremd. Und sie machen auf mich nicht den Anschein, dass sie diesen Umstand ändern wollen oder könnten. Auch dass die Bäckerin von gegenüber, bei der ich regelmäßig das gleiche bestelle, mich nicht wiedererkennt, beweist mir, dass man nur einer von vielen ist.
Ich habe festgestellt, je mehr Menschen auf einem Fleck leben, desto anonymer verhalten sie sich. Studien des Deutschen Ärzteblatts haben gezeigt, dass Stadtbewohner eher zu psychischen Erkrankungen neigen. Ich nehme es mir mal heraus, zwischen den beiden Zuständen Anonymität und psychischer Beeinträchtigung einen Zusammenhang herzustellen. Das Stadtleben führt erwiesenermaßen durch Faktoren, wie erhöhte Bevölkerungsdichte, Verkehrslärm und Umweltverschmutzung zu bspw. Depressionen und Angststörungen. Mein Punkt ist, dass Menschen aus der Stadt ganz andere Probleme haben, als irgendwelche fremden Menschen auf der Straße zu grüßen oder regelmäßig Smalltalk mit den Nachbarn zu führen. Und damit möchte ich nicht sagen, dass jeder, der mir ohne Gruß begegnet, unter Depressionen leidet. Aber vielleicht trägt die Anonymität zur Stärkung der Probleme bei und vielleicht ist es auch eine der Ursachen.
Ich sehe hinter der Unbekanntheit der Stadtmenschen also durchaus die Schattenseite und bin umso dankbarer, dass in meinem Heimatdorf andere Sitten herrschen, die für eine warme Atmosphäre sorgen. Dennoch bin ich froh, nun Magdeburg mein Zuhause nennen zu können und die Vorteile einer Stadt in vollen Zügen genießen zu können. Die Vorteile der Stadt überragen für mich die Schattenseiten. Bis mich städtische Nachteile einholen, werde ich mich meiner persönlichen Entfaltung im Magdeburgischen Pool der Möglichkeiten und Chancen widmen und vielleicht doch wieder anfangen, die Stadtmenschen zu grüßen.
Soraya Damer (20 Jahre)
Nr. 279 vom 14. Mai 2025, Seite 17
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