Die Zerzählung der Welt

“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.”

Das schrieben Karl Marx zur 11. Feuerbach-These. Blicken wir heute auf das Erzählung-Wirrwarr über die Welt, müsste man eher schreiben: Die Menschen reden über die Welt, während sie nicht merken wollen, wie ihr Gerede sie verändert. Eine Interpretation von Thomas Wischnewski  

Irgendwann in der Menschwerdung gelang es dem Homo sapiens, das Feuer zu bändigen. Es brauchte wohl zunächst jemanden, der die Feuerstelle hütete, damit die eingehegten Flammen nicht erloschen. Vielleicht war das ein Ausgangspunkt, um Ideen über das Sein zu entwickeln. Menschen, die diese Aufgabe ausfüllten, mussten sich sicher nicht mehr an der Nahrungsbeschaffung beteiligen. Sie wurden von der Sippe mitversorgt. Bei dieser Augaben könnte der Keim fürs Aufblühen erster Welterklärungen gesteckt haben. Unerklärliche Phänomene erhielten Götternamen. Beschwörungen, Zauber-und Heilvorstellungen konnten sich in der Interpretation verbreiten. Das Benennungspotenzial gegenüber der Außenwelt wuchs. Mit Sesshaftwerdung, Ackerbau und Viehzucht sowie einziehender Arbeitsteilung wurden weitere Personen vom Dienst an der Nahrungsbeschaffung frei. Priester, Schamanen, Medizinmänner oder ander Funktionen konnten sich etablieren. Macht und Mächtige etablieren sich und bestimmten fortan, wie die Welt erklärt werden sollen. Das Fundament für Religionen war gelegt.

 

Im Verlauf weiterer Jahrtausende wurden die Erzählungen vielfältiger und ausgeschmückter. Mit Schriftzeichen wurde Gedanken manifestiert und materialisiert. Sie erhielten Überzeugungskraft. Über unterschiedliche Ideen wurde stets gern gestritten, bishin zu bewaffneten Auseinandersetzungen oder Kriegen. Mathematik und Empirie waren wichtigen Voraussetzungen für die Entstehung von Wissenschaft. Daraus entstanden neue Interpretationen und verbriefte Erklärungen, wie was miteinander zusammenhängen könnten. Riesiege Wissensareale – auch Bibliotheken genannt – entstanden. Und noch mehr Menschen beugten sich über die Schriften, lernten, interpretierten weiter bzw. zogen neue Schlüsse.

 

Fünf Milliarden Sendungsbewusste

 

Springen wir in die Gegenwart. Bücher existieren weiter, aber neben ihnen sind riesige Speicherfarmen entstanden, in denen menschliche Gedankenkraft in elektrische Energie umgewandelt ist und bereitsteht, um von Milliarden Köpfen angezapft und weiterverarbeitet zu werden. Laut Statista werden jeden Tag etwa 328,77 Millionen Terabyte oder 0,33 Zettabyte an Daten erzeugt. Dies entspricht etwa 2,31 Zettabyte pro Woche und 120 Zettabyte pro Jahr. Ein Zettabyte entspricht 1021 Bytes. In ausgeschriebener Form sind das 1.000.000.000.000.000.000.000 Bytes bzw. eine Trilliarde Bytes. Der Ausdruck der Speichermenge sagt nichts über eine inhaltliche Qualität aus. Und darin enthalten sind unheimliche Mengen an Messdaten aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Im Jahr 2024 gab es schätzungsweise etwa 170 Millionen einzigartige Bücher auf der Welt. Die Zahlenangaben sollen nur ein Verständnis dafür erzeugen, welche inhaltliche Erzählquantität die Menschheit hervorgebracht hat. Übrigens schätzt man die Zahl aller bisher auf der Erde existenten Menschen auf rund 100 Milliarden. Aber noch nie haben so viele Menschen Inhalte erzeugt. Das Internet macht es möglich. Inzwischen schätzte ein russischer Sprachwissenschaftler alle Menschen, die von 1990 bis 2022 irgendetwas schriftlich veröffentlicht haben, auch keine Online-Posts auf rund fünf Milliarden Autoren. Zum Vergleich: Von etwa 3000 vor dem Jahre Null bis 1990 sollen es vermutlich nur 300 Millionen Autoren gegeben haben.

 

Allgemein diskutieren wir über veröffentlichte Inhalte, verstärken diese, stimmen ihnen zu oder lehnen sie ab bzw. veröffentlichen Gegenargumentationen. Kaum jemand fast diese gewaltige Erzählquanität der Menschheit ins Auge. Über alle Lebensbereiche werden Videos, Podcasts oder Artikel in der Öffentlichkeit gehalten. Heute geht es nicht mehr nur um politische, kulturelle, religiöse, wissenschaftliche oder literarische Schriften – es geht um das sprachliche Aushandeln von allem, was denkbar ist.

 

Die gegenseitige Lebensberatung ist dabei zu einem modernen Schamanentum avanciert. Unzählige Stimmen hallen durch das Online-Universum und wollen Lösungen und Erklärungen kennen, mit denen ein jeder sein Leben gelassener oder glücklicher gestalten und Konflikte bzw. gar Krankheiten überwinden könnte. Ob es da um irgendwelche Energieflüsse gehe, um Mikromengen an Substanzen, beruhigend wirkende Klänge oder meditierende Ansprachen. In Sachen Gesundheit-tipps ist das Feld ebenfalls völlig undurchschaubar geworden. Man die Betrachtung auf das weite Feld der Ernährungsgurus erweitern, auf die Liebes- und Paarberatungs-Empfehlungen und vieles andere mehr. Der Kreativität des menschlichen Geistes sind keine Grenzen gesetzt. Selbst die krudesten Ideen finden ihre Anhänger. Oder nennen wir sie Gläubige. Man muss nur von einer Idee ausreichend fasziniert sein , dann steigt die Neugier auf weiterführende Inhalte durch selbsternannte Weise dieses Gebietes. In der Folge entstehen sich verfestigende Überzeugungen, die häufig in Ablehnung anderer Erzählungen umschlagen. Der Keim der gesellschaftlichen Spaltung ist nicht allein im politischen zu suchen. Die Spaltung ist derart komplex und vielfältig, dass diese nicht mit beispielsweise einem politischen Rechts-Links-System beschrieben werden kann.

 

Im Geschichtenmeer ertrinken

 

Wir sind im Zeitalter der Zerzählung angekommen. Noch jede einstige Grundfeste, die das Verstehen über die Welt möglich machte, wird heute von Gegenpolen und neuen Ideen verbal zerfleddert. Da jeder die unfassbare Welt außerhalb von uns nur in Ausschnitten und Abstraktionen begreifen kann, bleiben die unzählbaren Erzählungen ein undurchdringlicher kryptischer Zeichennebel. Aber dieser erzeugt z. B. Wissensverfall und befördert Geschichten und märchenhaft erscheinende Berichte ans Licht.

 

Was besonders auffällt, ist, dass sich Menschen mit Menschen online vernetzen, die sie gar nicht kennen. Es reicht, vom selben Nektar einer angeblichen Erkenntnis gekostet zu haben, um in wildfremden Individuen Gleichgesinnte zu sehen. Doch oftmals stecken dahinter auf anderen Gebieten völlig konträr denkende und handelnde Leute, mit denen man im Alltag gar nichts zu tun haben möchte. Genauso werden sicher Menschen als Gegner, Feinde oder falsch tickende Zeitgenossen angesehen, mit denen man vielleicht eine viel größere Schnittmenge an Wissen oder Überzeugungen teilt. Nur wegen einer vermeintlich „falschen“ Äußerung werden sie sofort aussortiert und abgelehnt. Diese destruktive Kraft, die aus dem massenhaften Sendungsbewusstsein aller hervorquillt, muss als ein wichtiger Grund eines gesellschaftlichen Verfalls angesehen werden.

 

Es muss festgestellt werden, dass über diese Zerzählungs-Maschinerie kaum gesprochen wird. Ein jeder von uns benötigt eine sich ständig selbst stabilisierende Persönlichkeit. Deshalb ist es auch so schwer, über den eigenen Schatten seiner Überzeugungen zu springen. Es wird in der Regel gegenseitig nur ausgehandelt, was jeder sich denkt. Aber warum welche Gedanken in den Denkapparat Einlass gefunden und dort zu einem Selbsterklärungsphänomen heranreiften, darüber wird selten nachgedacht.

 

Unser Autor Gerald Wolf hat in einem Beitrag dieser Ausgabe (Seite 10), Gott und/oder Urknall infragegestellt und über bzw. unter alles das Wort Information gestellt. Ob wir Menschen noch weitere Begriffe erfinden, die wir einer Unfassbarkeit anheften, es wird dadurch nichts wahrer, was außerhalb unserer Existenz ist. Ein Begriff wie Ewigkeit konnte nur erzeugt werden, weil wir dazu verdammt sind, in Endlichkeit zu existieren. Dieses gegenpolige Erzählen, um das Erklärbare vom Unerklärlichen zu unterscheiden, ist uns Menschen wesenseigen. Nur haben wir heute beide Pole in einem Meer an Geschichtenverbreitung ertränkt und rudern hilflos in alle Richtungen.

 

Ein ebenso wichtiger Grund, warum es ein Fortschreiten der Aufspaltung der Gesellschaft gibt, ist, dass wir am Ende doch die schlichte Form der Erklärung anstreben. Es ist der kurze Satz, der fasziniert – aber den gibt es heute in millionenfachen Varianten. Im positiv gemeinten Sinn nutzt man heute gern das Wort Diversität. Allerdings werden dabei negativ wirkende Aspekte ausgeblendet. So entsteht unter einer schnell fassbaren Losung oft eine ideologische Überzeugung, ein Glaube oder ein falsches Wahrheitsverständnis.

 

Es ist oft erschreckend, mit welchen Totschlagargumenten über die Ursachen des Russland-Ukraine-Kriegs geredet wird. Es kann weder Erklärung über die eine alleinige Putin-Schuld noch die des Westens ausreichen, um dem Geschehen gerecht zu werden. Und obwohl es unzählige Möglichkeiten gibt, sich über viele Aspekte dieses Konflikts und seiner Herausbildung zu informieren, hält und verfestigt sich die gegenläufige Argumentation. Inzwischen müssen wir solche Statements hinnehmen: „Russland wird für immer ein Feind für uns bleiben“, sagte der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul Ende April. In Russland werden nach einer Umfrage die Deutschen als der größte Feind betrachtet.

 

Solche gegnerischen Sichtweisen sind das Ergebnis von Konflikt- und Schulderzählungen. Solche haben sich massenhaft im Internet verbreitet.  Und dieser akute sich zuspitzende Konflikt ist nur einer, der aktuell andere überragt. So ist es mit Israel und Gaza, mit sich bekämpfenden Ethien in Afrika oder in Asien. Und neben diesen massenhaften Konflikterklärungen lechzt eine bunte Glaubensschar nach mehr Kosmetik- und Diät-Tipps. Wenn einer Zelle durchs Fasten weniger Energie zugeführt wird, ist deren Energieverbrennung eingeschränkt, und im sich selbst organisierenden Wunderwerk Zelle wird plötzlich Schlacke freigesetzt, von der man sich laut Fasten-Erzählung befreien wollte.

 

Inzwischen konsumiert man sicher oft unfreiwillig auch noch Inhalte, die durch die KI erzeugt wurden. Das sind dann also gar keine durch Menschen verbreitete Erzählungen. Der Technik wird es möglich sein, das menschliche Sendungsbewusstsein und das Erzählpotenzial noch weit zu übertreffen. Man darf auf die Folgen gespannt sein. Ob sie letztlich zu Wissensgewinn, Orientierung oder genau das Gegenteil davon führen werden, bleibt offen. Nur sehen wir bereits jetzt, dass die Zerzählung der Welt nicht zu mehr Verständnis übereinander, sondern zu Ablehnung und Spaltung untereinander führt.

 

Im Vergleich zu unseren Vorfahren sitzen wir heute alle am Bildschirm-Lagerfeuer, werden im Supermarkt jederzeit mit Nahrung versorgt und machen uns milliardenfach Gedanken über die Welt. In diesem Vergleich sind wir heute alles moderne Schamanen, die sich einen Reim über Götter, Natur, Informationen, Formeln oder Zauberkräfte machen. Nur erzählen wir dies alles in Richtung einer anonymen anderen Schamanenschar.

Nr. 281 vom 11. Juni 2025, Seite 4

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