Die Triebkräfte Angst und Bequemlichkeit
Angst und Bequemlichkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Uns allen wohnt ein gewisses Potenzial von Angst und Trägheit inne. Oft werden Ängste oder Faulheitsbeispiele medial verhandelt. Aber wer schaut auf das Wachstum von Angsterzählungen und Möglichkeiten, es sich bequem zu machen? Thomas Wischnewski hat in diesem Beitrag mal ein wenig nachgeschaut und weist darauf hin, dass wir uns allzu gern von beiden Kräften treiben lassen und sie auf diese Weise zu gesellschaftlichen Triebkräften machen.

Als am 16. März 2020 wegen der Verbreitung des Corona-Virus der erste Lockdown mit Geschäftsschließungen und Einschränkungen im Alltagsleben beschlossen wurde, hat das die Mehrheit hingenommen. Die Argumente dafür lagen auf dem Tisch: Die Wirkungen des Virus waren noch weitgehend unbekannt, es existierte kein Impfstoff und die Angst, bei einer Infektion sterben zu können, verbreitete sich schneller als das Virus selbst. Die Bevölkerung teilte sich in Corona-Maßnahmen-Befürworter und -Gegner. Dies war eine Zäsur in der jüngeren Geschichte.
Aber schon zuvor gab es manche angstmachenden Erzählungen. Der Zusammenbruch des Finanzsystems, die Gefahr durch genmanipulierte Lebensmittel, die Unbewohnbarkeit der Erde durch den Klimawandel oder Krankheitsrisiken, die von Stickstoffdioxid ausgehen. Letztere Angsterzählung ist weitestgehend aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Hier sollen nicht die Gefahren, die einzelne Stoffe mitbringen können, verharmlost werden, sondern ausschließlich auf die mit zunehmender Angst verfasste Gesellschaft geblickt werden.
Je mehr Menschen ängstlicher werden, umso mehr ändert sich ihr Alltagsverhalten. In der Summe werden daraus spürbare Veränderungen für das öffentliche Leben. Wegen der Nachrichten über Messerattacken mit lebensbedrohlichem oder tödlichem Ausgang verlassen vor allem ältere Menschen abends ihre Wohnungen nicht mehr. Das schreckliche Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 hat dazu geführt, dass Großveranstaltungen mit einem Sicherheitsaufwand belegt werden, die für Veranstalter die Organisation von Events schwierig bis unmöglich machen.
Das traditionelle Laternenfest in Halle kostete für Künstlergagen und Technik rund 500.000 Euro. In diesem Jahr werden durch den Sicherheitsaufwand 1,3 Millionen Euro aufzubringen sein. 800.000 Euro mehr für Absperrungen und Sicherheitskräfte. Kunst im Namen der Sicherheit – ist das noch Begegnung, die Frohsinn und Leichtigkeit erzeugen soll? Die Angst reist überall mit.
Zu diesen großen Ängsten türmen sich noch eine ganz Menge kleiner, persönlicher im Leben eines Menschen auf. Solche können existenzieller Art sein oder durch Erkrankungs-, Ernährungs- oder Arbeitsrisiken gespeist werden. Über die anfangs so zauberhafte Online-Welt haben sich längst Betrug, Cyberangriffe, Manipulation und Falschinformationen gelegt. Dennoch haben Menschen Angst davor, wenn sie zu lange offline wären, etwas zu verpassen.
Angst ist eine enorme Triebkraft. Sie wird umso wirkungsvoller, je mehr Individuen von einer bestimmten Angst angesteckt werden. Jede Angst hat natürlich einenrealen Kern, aber das massenhafte Verhalten dazu bringt komische Effekte hervor. Ein Magdeburger Beispiel: Als am 14. April die Sperrung der Ringbrücke am Damaschkeplatzverkündet wurde, blieb ein Kollege im Homeoffice. Er wolle sich nicht in das Verkehrschaos auf Magdeburgs Straßen einreihen. Von dieser Angst waren anscheinend so viele getragen, dass das prophezeite Chaos ausblieb und die Straßen in der Innenstadt an diesem Tag ziemlich leer waren.
Die uns innewohnende Natur der Angst als Schutz vor Gefahren hat sowohl positive als auch negative Folgen. Nur machen wir uns oft nicht bewusst, dass eine kollektive Angstverbreitung einerseits und die zunehmende Verbreitung von möglichen Gefahren in der Anzahl sowie in der Verbreitungsgeschwindigkeit und der häufigen Wiederholung das Phänomen einer hysterischen Gesellschaft schürt. Auch in der Menschheitsgeschichte gab es schon manche Risikobeschreibung. So warten Experten im 19. Jahrhundert, dass Menschen ernsthaft Schaden nehmen würden, wenn sie mit der Eisenbahn schneller als 30 km/h fahren. Man darf also schlussfolgern, dass mehr Angstintensität und -quantität häufiger zu Fehleinschätzungen führen. Entwicklungen können verhindert oder zumindest gebremst werden.
Blicken wir auf die Kriege zwischen Russland und der Ukraine und aktuell auf die militärische Eskalation zwischen Israel und Iran, sind die Geschehnisse berechtigte Angstauslöser. Wenn aber mit den realen Ereignissen Zukunftsängste verbreitet werden – z. B. die eines russischen Überfalls auf Nato-Territorium in den nächsten Jahren – führt das zu kuriosen politischen Fehlern. Aufgabenprioritäten des Staates werden verschoben. Die Rüstung wird angeheizt und weitere dringende Investitionen in die Infrastruktur fallen aus oder werden auf einen Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Unter der Verbreitung von Ängsten erfüllt sich immer wieder der Ausspruch des deutschen Philologen Friedrich Nietzsche: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Man kann die Wechselwirkung in jedem Lebensbereich finden. Ob eine Gefahr von rechts oder links größer ist, kommt hauptsächlich daher, wie oft man in eine Richtung schaut. Und damit sind nicht reale Taten gemeint, sondern die Schauenden, die sich einen Reim auf die Gefahr machen und das Infektionsrisiko von Angst verbreiten helfen.
Aber neben der Angst existiert eine zweite bedeutende Triebkraft, die dem Menschen wesensinhärent ist. Nur wenn sie sich in einem wachsenden Massenverhalten widerspiegelt, verändert sie die Qualität des Lebens entscheidend. Gemeint ist die Bequemlichkeit. Von Natur aus vermeiden wir gern Anstrengungen, vor allem wenn diese häufig wiederkehren. Aller technischer Fortschritt, den die Menschheit erzeugt hat, findet auch eine Wurzel in der Bequemlichkeit.
Oder anders gesagt: Der innere Schweinehund hat mit seiner negativen Energie vielen Systemen zum Durchbruch verholfen. Ob das Mobilität ist, fließend warmes Wasser aus der Wand, Telekommunikation und Internet – persönlicher Aufwand und eingesetzte Energie eines Menschen wurden zurückgefahren. Zwar musste Energie dafür an anderer Stelle erzeugt werden, aber dieser Zusammenhang bleibt im Alltag oft ausgeblendet. Auf welche Weise diese Energie erzeugt wird, welche Rohstoffe verbraucht werden und vieles andere mehr, wird oft gar nicht gewusst. Bei der KI stehen wir erst am Anfang. Aber schon jetzt ist klar, dass sich der Stromverbrauch der ständig wachsenden Rechenzentren weltweit exorbitant steigern wird.
Wir wollen leichter von A nach B kommen, leichter lernen, leichter in der Welt umherreisen, bequemer unterhalten werden und einkaufen vom Smartphone aus, egal, ob zuhause oder während der Arbeit. Sichtbare Ergebnisse einer fortschreitenden Bequemlichkeit sind beispielsweise mehr Menschen mit Adipositas oder allgemeine Wissensverluste. Scheinbar herrschen heute solche Ansichten vor, als ob dem Hirn Wissen wie gebratene Hühner im Paradies zufliegen würden und es sich ohne Anstrengung daran sättigen würde.
Dass Hirn als Organ wie jeder Muskel trainiert werden muss, damit man bestimmte Leistungsniveaus erreichen kann, wird unter den Tisch gekehrt. Außerdem werden für die Wissensanreicherung und Denkflexibilität Geduld und Konzentration benötigt. Bei der Förderung solcher Eigenschaften geben Eltern wohl heute häufiger auf und lassen Kinder gewähren bzw. stellen sie mit Onlinespielen still. Im Gegenzug sind sie dann enorm engagiert, wenn es darum geht, dass Lehrer sich auf die individuellen Besonderheiten eines Kindes einrichten mögen. Manche Pädagogen klagen schon darüber, dass sie mehr Zeit mit Elternanliegen verbringen müssten, als sie in der Schule mit deren Kindern zu tun hätten. Diese Erscheinung hat eine Angst zur Ursache, dass der Nachwuchs nicht angemessen behandelt würde und Schaden nehmen könnte. Die Nichtförderung von Geduld ist Ausdruck von Bequemlichkeit.
Man kann die Betrachtung dieser Triebkräfte mit sich selbst und anderen, aber auch mit Gruppen oder ganzen Menschheitserscheinungen verbinden. Man findet die Wechselwirkung auch unter Politikern. Einerseits bleiben sie von Angst getrieben, etwas Falsches sagen zu können, um an Ansehen oder Wählbarkeit zu verlieren, andererseits ist es bequem, sich am Versorgungstropf der Parlamente einzurichten, um dort besser nichts zu verändern. Politiker sind eben auch nur Menschen.
Es ist ebenso bequem, stets mit dem Finger auf andere zu zeigen, die etwas lösen sollen, damit es im eigenen Leben besser würde. Aber die Angst davor, sich öffentlich zu engagieren, weil man möglicherweise dafür falsch angeschaut wird, ist ebenso groß. So verändern Angst und Bequemlichkeit heute in einem Ausmaß das Leben, wie das die Menschheit in ihrer Geschichte noch nicht erlebt hat. Und dies schlichtweg durch die Heutigen Verbreitungsmöglichkeiten.
Nr. 282 vom 25. Juni 2025, Seite 4
Veranstaltungen im mach|werk
KOMPAKT Salon mit Dr. Dieter Böhm: Vom Gehirnbesitzer zum Gehirnbenutzer
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Gary O‘Connor & Friends
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
United Earth
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Kopf & Kragen mit Henryk M. Broder
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Hyparschall
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Pete Anthony Alderton
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Dancing Queen auf Nulldiät mit Ilka Hein
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Kaffeekränzchen mit Jörg Ratai
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
be-swingt trifft auf …
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Kopf & Kragen mit Tom Lausen
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Boogieman’s Friend
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg
Kaffeekränzchen mit Flunder
mach|werk - KOMPAKT Medienzentrum
Breiter Weg 114a, 39104 Magdeburg