Scheinbar oder anscheinend?

 

„Achtung, Warnung! Seien Sie vorsichtig bei scheinbar hilfsbereiten Personen, insbesondere, wenn Sie sich an einem Geldautomaten aufhalten.“ Eine solche Warnung, liebe Leserinnen und Leser, ist angesichts der herrschenden Unsicherheit sicherlich berechtigt. Und wenn man dann noch etwas älter ist und nicht jeden Tag so einen Geldautomaten benutzt, dann könnte man manchmal Schwierigkeiten beim Geldabheben haben. 

 

Es geht uns hier und jetzt aber um ‚scheinbar‘. Könnte ich bei der oben geäußerten Warnung auch ‚anscheinend‘ sagen, nicht ‚scheinbar hilfsbereit‘? Ja, durchaus. Schließlich gibt es ja auch Personen, die nicht nur den Anschein von Hilfsbereitschaft erwecken, sondern tatsächlich auch hilfsbereit sind! 

 

Es scheint aber, als geht es bei ‚scheinbar‘ oder ‚anscheinend‘ ein bisschen oder doch ziemlich stark durcheinander. Wann gebrauche ich ‚scheinbar‘, wann ‚anscheinend‘? ‚Anscheinend‘ ist von der Wortart her ein sogenanntes Adverb. Adverbien gehören ursprünglich zum Verb eines Satzes (lateinisch ‚ad‘ = zu, bei) und sind unveränderlich. Um die Bedeutung dieses ‚anscheinend‘ zu bestimmen, gehen wir zurück zu dem Begriff, von dem es herstammt: ‚Anschein‘.

 

Eine Sache, ein Ding, ein Umstand hat einen bestimmten Anschein: ‚Es hat den Anschein, dass Opa Lampe krank ist‘. Mit anderen Worten gesagt: ‚Es sieht so aus, als ob Opa Lampe krank ist.‘ Mit diesen Worten äußern wir eine Vermutung. Noch ist nicht bewiesen, dass er tatsächlich krank ist. Aber die Tatsachen deuten darauf hin: Opa Lampe hat schon lange nicht mehr angerufen, nichts von sich hören lassen; er wurde in der Nachbarschaft seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, sein Briefkasten ist nicht geleert, usw. Dies alles veranlasst uns, den Satz  auch so zu formulieren: ‚Anscheinend ist Opa Lampe krank.‘ Nochmal: Mit dem Adverb ‚anscheinend‘ wird die Vermutung zum Ausdruck gebracht, dass etwas so ist, wie es erscheint: Augenscheinlich ist es so. Es ist wahrscheinlich so. Die Sache entspricht mit großer Wahrscheinlichkeit den festgestellten Tatsachen. Deshalb können wir sagen: ein Synonym (= Wort mit ähnlicher Bedeutung) zu ‚anscheinend‘ ist ‚wahrscheinlich‘. 

 

Bringen wir weitere Beispiele mit ‚anscheinend‘. Bei allen können Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, hinzudenken, was für äußere Umstände, Merkmale und Fakten uns zu diesem Anschein bewegen: ‚Anscheinend haben die Läden am heutigen Sonntag wegen der Vorweihnachtszeit geöffnet.‘ (viele Menschen in der Innenstadt, Straßenbahnen sehr voll, alle Parkplätze besetzt usw.). ‚Anscheinend haben wir gerade den Zug verpasst.‘ (es ist kein Zug zu sehen, der Bahnsteig ist leer, die Anzeigetafel zeigt bereits die nächste Zugabfahrt usw.). ‚Anna ist anscheinend eine sehr begabte Schülerin.‘ (nur Einsen auf dem Zeugnis, auf dem Bürgermeisteramt leistet sie manchmal Aushilfe). ‚Anscheinend hat der Direktor heute schlechte Laune.‘ (miesepetriges Gesicht, grüßt nicht). ‚Anscheinend hattet ihr einen schönen Abend.‘ (ihr habt gute Laune, sprecht nur im Guten davon).

 

Nun aber zum Gegenwort ‚scheinbar‘. Auch da wird mit einem Anschein gespielt, aber dieser Anschein wird künstlich, absichtlich gemacht: er wird vorgetäuscht. Die Wirklichkeit ist ganz anders. Etwas scheint nur so zu sein, es ist tatsächlich aber anders. Wenn ich ‚scheinbar‘ sage, dann weiß ich, dass die Tatsachen nicht so sind, wie ich es sage, sondern dass sie das Gegenteil sind. Die Sache sieht nur auf den ersten Blick so aus, aber in Wirklichkeit ist sie ganz anders. Der Anschein trügt also. Besser ist es dann, vom ‚Schein’ zu sprechen. 

 

Wieder Beispiele von Sätzen, dieses Mal eben mit ‚scheinbar‘: ‚Scheinbar sehen heute alle die Sendung von ‚Deutschland sucht den Superstar‘.‘ (Wir wissen, dass dem nicht so ist, denn zu gleicher Zeit gibt es ein spannendes Fußballspiel.) ‚Scheinbar mochte sie keinen Kuchen, tatsächlich aber ist sie Stammgast im Café nebenan und hat immer Naschereien in der Schublade.‘ (Die Dame täuschte dies bei Einladungen zum Kaffeetisch vor.) Nach außen hin etwas vortäuschen, aber in Wirklichkeit etwas anderes tun – eben zum ‚Schein‘, daher: ‚scheinbar‘. ‚Der Arbeitnehmer hat sich krankgemeldet. Doch sein Arbeitgeber vermutet hier eine scheinbare Krankmeldung, denn Nachbarn hatten von Renovierungsarbeiten am Haus des Betreffenden berichtet.‘ Noch bezüglich der Wortart: ‚scheinbar‘ kann Adjektiv und Adverb sein: ‚die scheinbare Krankmeldung‘ – hier handelt es sich um ein Adjektiv; ‚er ist scheinbar krank‘ – hier ist es Adverb. Die Bedeutung bleibt jedoch immer gleich: nur der Schein ist vorhanden, die Wirklichkeit ist anders, der Mann ist nämlich tatsächlich gesund.  

 

Noch einmal, wir wiederholen uns: ‚scheinbar‘ = es sieht so aus wie, als ob, ist aber in der Wirklichkeit anders. Es trügt der Schein. Wenn wir nochmals auf die anfängliche Warnung mit dem Geldautomaten schauen: Es gibt vielleicht dort Menschen, die einem scheinbar helfen wollen. Aber in der Wirklichkeit sind sie darauf aus, mit dem Vorspielen scheinbarer Hilfe Handlungen am Automat in der Weise zu vollziehen, dass für sie etwas herausspringt – sie versuchen zu betrügen.

 

Sie werden sich sicher erinnern, liebe Leserinnen und Leser, dass es bei den Gesprächen zwischen Präsident Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenskij zum Eklat kam. Kaum waren darüber die ersten Nachrichten verbreitet, tauchten sofort Meldungen im Internet ungefähr folgender Art auf: „Dass es zum Bruch zwischen beiden kam, das war doch nur scheinbar. In Wirklichkeit will die amerikanische Administration Europa zu mehr Rüstungsanstrengungen zwingen.“ Mit Meldungen dieser Art wird unterstellt, dass eine gewisse Täuschung der Öffentlichkeit und der europäischen Partner vorgenommen worden ist. Ernsthafte Beobachter der Szene gehen jedoch davon aus, dass das zeitweilige Zerwürfnis der beiden Parteien ernst war, nicht gespielt, nicht zum Schein abgelaufen ist. Es war doch kein scheinbarer Eklat!

 

Immer wieder unsere Wiederholung: ‚Schein‘ und ‚scheinbar‘ – das ist nicht die Wirklichkeit. Das ist Täuschung, das ist Etwas-Vormachen, das ist Annahme, das ist Irreführung, das ist falsche Darstellung. Am deutlichsten wird dies durch Beispiele: ‚Oft habe ich den Eindruck, dass im Bundestag während der Debatten Scheingefechte geführt werden.‘ Aber in der Ukraine, das können wir mit Gewissheit sagen, gibt es zwischen den Angreifern und den Verteidigern keine Scheingefechte!

 

Mit Ihrer Lebenserfahrung können Sie, liebe Leserinnen und Leser, beurteilen, was Scheingefechte zwischen politischen Parteien im Parlament sein können. In der Sache sind sie sich – also Abgeordnete gegensätzlicher Parteien – offenbar einig, aber man muss ja öffentlich auch zeigen, wie man gegen etwas sein könnte, auch, dass man gut Reden halten und sich gewählt ausdrücken kann, also rhetorisch beschlagen ist. Auf militärischem Gebiet kann es natürlich Scheinangriffe geben, und dies bedeutet, an einer Stelle einen Angriff vorzutäuschen, um den Gegner abzulenken und dafür an anderer Stelle einen tatsächlichen und erfolgversprechenden Einsatz zu starten. Unsere gegenwärtige Hoffnung ist, dass es gelingt, in der Ukraine nicht einen Scheinfrieden, sondern einen tatsächlichen Frieden zu erreichen.

 

Von Zeit zu Zeit gibt es in den Medien Meldungen über Steuerparadiese, mit deren Hilfe sich sehr reiche Menschen um die Zahlungen von Steuern drücken. Eine Rolle spielen dabei sogenannte Scheinfirmen, also Unternehmen, die nur zum Schein existieren und keine realen Aktivitäten im Wirtschaftsleben ausüben. Sie existieren also nur scheinbar. Aber auch bei uns in Deutschland gibt es Betrüger, die von gutgläubigen Geldanlegern mittels hoher Renditeversprechen große Geldbeträge einsammeln und dann mit Scheinadressen nicht mehr auffindbar sind. Wir brauchen aber gar nicht immer so weit zu gehen.

 

Vielleicht gibt es in Ihrer Verwandtschaft jemand, der scheinheilig versprochen hat, dass er Ihr renovierungsbedürftiges Haus wieder auf Vordermann bringt. ‚scheinheilig‘ bedeutet, dass er in großer theatralischer Pose etwas verkündet und dabei von vornherein weiß, dass aus der Sache nichts wird. Erwähnen wir auch noch die Scheinehe, mit der mancher Ausländer versucht, sich ein Bleiberecht in Deutschland zu verschaffen. Einen Scheintod sollten Sie in Deutschland nicht vortäuschen, denn wer weiß, was Ihnen nach ärztlicher Behandlung dann tatsächlich fehlt.   

 

Synonyme (= Wörter mit gleicher Bedeutung) zu ‘scheinbar’: nur zum Schein, angeblich, vorgeblich, nicht in Wirklichkeit, vorgetäuscht, vorgegaukelt. 

 

Zum Schluss zwei Sätze, ganz aus dem Alltagsleben genommen: 1. ‚Er ist scheinbar reich.‘ 2. ‚Er ist anscheinend reich.‘ Wenn Sie als junge Frau sich einen Mann suchen und aufs Geld gucken, dann nehmen Sie den Mann von Nr. 2. Bei Nr. 1 ist nichts zu holen, das ist ein Blender. 

 

Dieter Mengwasser

Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

 

Buch-Tipp: Die Beiträge von Dieter Mengwasser sind als Buch unter dem Titel „Ich spreche Deutsch! – Sprachbetrachtungen eines Sprachkundigen“ erhältlich. Die Bücher können im KOMPAKT Medienzentrum erworben oder online bestellt werden.

Nr. 282 vom 25. Juni 2025, Seite 15

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