Ans Internet verloren

Die Onlinewelt verspricht enorme Wachstumspotenziale, erzeugt jedoch dabei Schattenseiten. Hier werden ein paar negative Trends angedeutet. | Von Thomas Wischnewski

Im Frühstadium der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts in England gab es sogenannte Maschinenstürmer. Vor allem in der Textilindustrie traten solche Protestbewegungen auf. „Tuchscherer waren gelernte und privilegierte Arbeiter, während die Weber und Strumpfwirker Heimarbeiter mit einer langen Handwerkertradition waren. Alle drei Berufsgruppen erlitten eine Verschlechterung ihres Status durch den Wegfall von Schutzgesetzgebung und durch die Konzentration von Webstühlen in neu gegründeten Fabriken mit ungelernten und jugendlichen Arbeitern.“ So sind die Ursprungsgruppen und deren Motive in Wikipedia benannt. Insbesondere von Karl Marx und Friedrich Engels wurde dem Maschinensturm eine Technikfeindlichkeit unterstellt. Das eigentliche Motiv war jedoch der Protest gegen eine Verschlechterung des sozialen Status und den Verlust traditioneller Privilegien.

 

Moderne Maschinenstürmer

 

Heute gibt es erneut eine Erscheinung, die gegen technische Systeme ankämpft. Diesmal geht es um die Onlinewelt. Vor allem Kinder sollen vor dem Einfluss von Smartphones in ihrer Entwicklung geschützt werden. Und manche Berufsgruppen, an erster Stelle seien da inhaltliche Urheber genannt – also Kreative wie Autoren, Musiker, Grafiker und Videoerzeuger laufen gegen Anbieter Künstlicher-Intelligenz-Systeme  (KI) Sturm. Natürlich völlig zu Recht. Inzwischen gibt es Prozesse und erfolgreiche Einigungen, dass Urheber durch KI-Firmen finanziell entschädigt werden. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die Onlinewelt wird das Leben noch tiefgreifender verändern als wir das vielleicht wahrhaben wollen. Durch die Datenkrake Internet und alle daran mitwirkenden Konzerne und Institutionen werden nicht nur Inhalte, Ideen, persönliches Nutzungsverhalten u.v.a.m. abgesaugt, es geht eigentlich um den Diebstahl von Lebenszeit.

 

Insgesamt sind Menschen in Deutschland laut einer „Postbank Digitalstudie“ von 2024 69 Stunden pro Woche online, inklusive Smartphone. Bei den 16- bis 18-Jährigen wurden fast 72 Stunden Nutzungszeit pro Woche ermittelt. Man vergegenwärtige sich, dass eine Woche 168 Stunden umfasst. Zieht man bei der Annahme von täglich acht Stunden Schlaf eine Wochenruhezeit von 56 Stunden sowie rund 35 Stunden Schulzeit ab, verbleiben noch 77 Wochenstunden. Wieviel Zeit für gemeinsame Erlebnisse, Erledigungen oder andere reale Betätigungen verbleibt dann noch für die genannte Altersgruppe?

 

Der Bedeutungsglaube

 

Doch zeigen wir mit dem Finger nicht auf die offenbar an das Internet verlorene junge Generation. Im Übrigen macht sich dieser Trend längst in der Wirklichkeit bemerkbar. Beispielsweise sind in Schleswig-Holstein bereits 50 Prozent aller Diskotheken geschlossen. Für die sogenannte Generation Z hat das gemeinsame Partyerlebnis keine allzu große Bedeutung mehr. Dies wird ebenso bei anderen realen Freizeitangeboten sichtbar werden. Übrigens beträgt laut selbiger Studie die Gesamtonlinezeit der Deutschen pro Woche auch schon 69 Stunden, wobei hier Arbeits- und Freizeitnutzung schwer unterschieden werden können. Untersuchungen zeigen, dass private Aktivitäten am Arbeitsplatz bereits mehr als zwei Stunden pro Woche einnehmen. Wahrscheinlich werden es mehr sein. Selbsteinlassungen über eigenes Verhalten werden gewöhnlich schöngeredet.

 

Mit halbwegs wachem Verstand wird einem aufgehen, dass eine wachsende Onlinenutzung weniger an realen Aktivitäten nach sich zieht. Oder zugespitzt formuliert: Der Blick auf das Smartphone backt keine Brötchen, baut keine Brücken, repariert keine Straßen und errichtet keine Häuser. Indes diskutiert eine unübersehbare Masse an Menschen auf sogenannten Social-Media-Plattformen über die Probleme im täglichen Leben und bemerkt nicht, dass sie mit ihrem Hühnerschargegacker Teil des Problems sind. Mittels einer überschnappenden Online-Debatte wird nichts, aber auch gar nichts gelöst. Doch der Glaube daran, dass man mit mehr Aufklärung über die Onlinewelt, sprich Medienkompetenz oder über Fake News sowie über extremistisches Gedankengut etwas heilen könne, verbreitet sich weiter wie einst die Religionen über die Menschheit.

 

Dabei sind die Funktionsmechanismen im Großen wie im Kleinen gleich. Jeder Nutzer baut sich eine eigene Bedeutungswelt mit Gründen und Motiven, warum man permanent auf einen Bildschirm starrt. Die einen wollen nichts verpassen, andere meinen, dadurch informierter zu sein, wiederum andere suchen nach Selbstbestätigung für eigene Überzeugungen und Anerkennung. Dass sich viele von der Influencerwelt angezogen fühlen, hat etwas mit der menschlichen Anlage an Sendungsbewusstsein zu tun. Und dann schaut man wechselseitig, was die anderen machen, schaut sich bei jenen, die offenbar erfolgreich sind, deren Tricks ab. Letztlich dreht man damit die Informationsspirale schneller.

 

Sogar das Sich-Kennenlernen – heute sagt man ja Dating dazu – ist ins Internet abgewandert. Vermeintlich passende Partner werden nicht erlebt, sondern per Gedankencheckliste abgearbeitet und das in einer Quantität, die es noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab.

 

Ein daraus entstandenes Phänomen nennt sich „Ghosting“. Das Wort stammt aus dem Englischen und bedeutet sinngemäß den wortlosen Kontaktabbruch von Beziehungen und Freundschaften. Wie ein Geist (Ghost) verschwindet ein Mensch beim Ghosting aus dem Leben eines anderen. Nachrichten werden nicht mehr beantwortet, Anrufe blockiert und sämtliche Verbindungen gekappt. Kein Abschiedsgruß, keine erklärenden Worte, lediglich Fragen bleiben zurück. Inzwischen enden viele Dates und sogar Beziehungen per Ghosting. Ein jüngeres Phänomen nennt sich „Throning“. Bei „Throning“ werden Partner nach Status ausgewählt. Dieser Trend reiht sich in die Liste fragwürdiger Praktiken ein wie „Ghosting“ und „Slow Fading“, was ein langsames Distanzieren beschreibt. All diese Erscheinungen führen nachweislich zu Beziehungsabbrüchen und seelischen Belastungen. Anstatt, dass Menschen mehr Bedeutung im Leben eines anderen erlangen, wird durch das Springen von einem zum anderen immer weniger Bedeutung füreinander erzeugt.

 

Das Problem ist das Gehirn

 

In gesellschaftlichen und politischen Debatten wird nun über Nutzungszeit und deren Beschränkung insbesondere für Kinder geredet. Genau das hat jedoch etwas vom historischen Phänomen der Maschinenstürmer. Es sind nämlich nicht die technischen Systeme, die uns diese destruktiven Entwicklungen einbrocken. Es sind immer noch wir selbst sowie unsere biologischen und psychischen Funktionsmechanismen.

 

Das menschliche Hirn ist 24 Stunden am Tag an. Da gibt es keine Ruhe- oder Auszeit. Selbst im Schlaf nimmt es Reize wahr. Das können akustische, Temperatur-, haptische oder optische Signale sein. Genau diese „Reizsucht“ unseres Steuerungsapparates ist es, dass es permanent gefüttert werden will. Und die Onlinewelt bedient genau diese Dopamin-Suchtmaschine Hirn. Welche Argumente wir auch immer vortragen, um unser Nutzungsverhalten zu rechtfertigen, im Inneren laufen unabhängig von der Bedeutungssetzung stets dieselben hormonellen Prozesse ab. Die persönlichen Motive, die wir uns zurechtlegen, um von der Wichtigkeit irgendwelcher Inhalte überzeugt zu sein, sind letztlich eine Illusionsleistung unseres Gehirns. Und wir können noch soviel über Vor- und Nachteile der virtuellen Welt in der virtuellen Welt reden, es wird sich dort nicht lösen. Im Gegenteil: wir ziehen uns nur tiefer in den Sumpf.

 

Der Mensch hat es in der Hand

 

Inzwischen intensivieren politische Akteure ihre Online-Aktivitäten. Vor allem bei solchen, die sich authentisch und privat-menschlich zeigen wollen, entsteht unter dem Strich der Eindruck, dass sie sich mehr fürs Essen und Trinken (s. Markus Söder) interessieren als für politische Problemlösungen. Auch nutzt es letztlich dem deutschen Bürger wenig, wenn Politiker massenhaft Informationsschnipsel und Polit-Infotainment verbreiten. In dieser Art von Kommunikation sind weder Lösungen noch politische Veränderungen enthalten. Das digitale Geschwafel von Politikern ist genauso bedeutsam wie die Beauty-Tipps von Influencern. Die Sprechakte der Welt haben ein Ausmaß angenommen, dass sich die menschliche Vergeistigung über die Wirklichkeit legt. Man kann gern die Tech-Milliardäre wie Mark Zuckerberg & Co. für die Manipulation der Menschheit verantwortlich machen. Doch letztlich ist dies nur eine Verdrehung der Ursache. Diese liegt ausschließlich in unserem Illusionsapparat Gehirn. Wir Menschen neigen nur allzu gern dazu, uns für unser Verhalten zu rechtfertigen und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Der eigene Anteil an einer Entwicklung kann dabei so schön ausgeblendet werden. Zwei Drittel der Menschheit sind bereits online. Die virtuelle Welt wird wachsen und der Mensch gibt sich dafür gern hin.

Nr. 289 vom 8. Oktober 2025, Seite 4/5

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