Die Bundesrepublik und ihre Olympiabewerbungen – eine Tragödie. Sieben Mal scheiterte man bisher. Mit der de facto abgeschmetterten Bewerbung der Rhein-Ruhr-Region um die Sommerspiele 2032 kommt jetzt ein weiterer deprimierender Akt hinzu.
Da konnte sich Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee vor potenziellen Olympia-Gästen noch so sehr ins Zeug legen, virtuos auf dem Cello brillieren, die Nation zu Tränen rühren, am Ende reichte es für Leipzig vorn und hinten nicht. Die Bewerbung der mitteldeutschen Messestadt, im Sommer 2012 Gastgeber des weltgrößten Sportereignisses zu sein, scheiterte klar. Aber es war seinerzeit nicht vorrangig, wie Kritiker unterstellten, die mangelnde Unterstützung des politischen Berlin für eine ostdeutsche Stadt, die sich zuvor immerhin im Ausscheid gegen andere wie Hamburg und Düsseldorf durchgesetzt hatte. Es waren ebenso keine (durchaus vorhandene) handwerkliche Fehler der Bewerbung – nein, der deutsche Sport hatte sich, als er Leipzig aufs Schild hob, strategisch ganz einfach verhoben. Oder vertan, überschätzt.
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Gegen Mitkonkurrenten und Weltmetropolen wie Paris, New York, Madrid, Moskau oder London, dem späteren Sieger, hatte Leipzig einfach von Anfang an keine reelle Chance. Es war schlichtweg zu provinziell, zu klein (kaum mehr als ein halbe Million Einwohner), zu unerfahren bei der Ausrichtung von Mega-Großereignissen. Es mangelte an guter Infrastruktur und ausreichenden Transportmöglichkeiten. Und der erhoffte politische Faktor (Olympia in Deutschlands neuen Bundesländern) – er zog mehr als ein Jahrzehnt nach dem Mauerfall längst nicht mehr. Beziehungsweise hatte ohnehin kaum jemanden in der weiten Welt da draußen berührt.
Warum erzählen wir das hier? Weil Deutschland, dieses in seiner Selbsteinschätzung so große und großartige Sportland, derzeit wieder einmal dabei ist, eine Chance in den Sand zu setzen, als Ausrichter Olympischer Spiele in Frage zu kommen. Wenn man ganz ehrlich ist: Die Möglichkeit, im Jahr 2032 die Jugend der Welt zu den sommerlichen Ringe-Spielen zu empfangen (bis 2028 sind die Wettbewerbe vergeben), tendiert eher gegen Null. Damit muss sich der deutsche Olympiafreund wohl abfinden.
Als das Internationale Olympische Komitee (IOC) Ende Februar mehr oder weniger deutlich mitteilte, das australische Brisbane sei allererste Wahl für 2032 und mit ihm allein würden zielorientiert weitere Gespräche geführt, waren Erschrecken und Entsetzen in Deutschland gewaltig. Bei Sport und Politik gleichermaßen. Beide: kalt erwischt. Hatte man doch bis dato geglaubt, mit der privaten Initiative der Rhein-Ruhr-Region ein ganz heißes Eisen im Feuer zu haben. Heute sieht das alles wie ein 100-Meter-Lauf aus, bei dem der eine (Brisbane) kurz vor der Ziellinie ist, während die anderen (darunter Rhein-Ruhr) noch in den Startblöcken hocken.
Das Deprimierendste: Es wäre bereits die siebte Bewerbung, die durchfallen würde. Murks passiert offenbar nicht nur in der Pandemie. Nach Berchtesgaden 1992, Berlin 2000, Leipzig 2012, München 2018, München 2022 und Hamburg 2024 das siebte gescheiterte Olympiaprojekt der Deutschen. Schließlich ist es seit München, das die Spiele 1972 als letzte deutsche Stadt austrug, fast ein halbes Jahrhundert her; während in Australien noch im Jahr 2000 Sommerspiele veranstaltet wurden. Die Bewerbungs-Arie der Deutschen um die Spiele erzählt über Jahrzehnte vom Verlieren am laufenden Band. Mal scheiterte der organisierte Sport kläglich (Berlin für 2000), mal entschied er sich für den falschen Bewerber (siehe Leipzig), mal überschätzte er sich maßlos. Zuletzt verweigerten sich sogar die Bürger in und um München (für 2022) und Hamburg (2024) – auch mit Blick auf den Ruf des IOC, auf dessen Spiele, überladen mit Gigantismus, Pomp und Kommerz.
Inzwischen reichte es nicht mal mehr zu einer offiziellen deutschen Bewerbung. Denn das Rhein-Ruhr-Projekt, seit Jahren vom Privatmann Michael Mronz vorangetrieben, erlangte im Sinne des IOC nie den Status eines Bewerbers. Die Weltregierung des Sports, so sagt sie, habe sich im Januar um ein Treffen mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) bemüht. Denn nur der DOSB (und nicht eine Privatinitiative) hat das Mandat, sich zu bewerben. Der aber war laut IOC nicht ausreichend bereit, sich über eine nominelle Unterstützung hinaus hinter die Bewerbung zu stellen. Das hat Gründe. Ohne die Bundesregierung, so schrieb die „Frankfurter Allgemeine“, ohne den Segen der kaum am Sport interessierten Kanzlerin, bewege sich nichts für Olympia. „Sie wäre vielleicht aus der Reserve gekommen, wenn die Menschen in Rhein-Ruhr bei einem Volksentscheid für Olympia votiert hätten.“
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), in dessen „Hoheitsbereich“ sich Rhein-Ruhr befindet, war erzürnt über das Bewerbungsdesaster, fand aber in seiner Kritik einen anderen Adressaten als die Bundesregierung: „Im Deutschen Olympischen Sportbund hatte man offenbar kein Gespür dafür, was im IOC passiert.“ Er bestätigt damit indirekt, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Durchsetzungskraft des deutschen Sports für Olympia ist national wie international zu schwach. Sylvia Schenk, Leiterin der Arbeitsgruppe Sport bei Transparency International Deutschland, beklagte, dass Sport und Staat längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. „Deutschland droht international den Anschluss zu verlieren.“ Deutschland habe den internationalen Sport oft unkritisch mit Steuermitteln gefördert, ohne dies mit einem systematischen Einsatz für Werte im und durch Sport zu verbinden. Immer wieder zeigten sich Defizite bei deutschen Sportfunktionären, was die Verteidigung und Vermittlung von Werten sowie die Umsetzung von Good Governance angehe. „Damit wurde der wachsenden Skepsis gegenüber Sportgroßveranstaltungen in der Bevölkerung zu wenig entgegengesetzt“, erklärt Schenk: „Bei den in den letzten 30 Jahren gescheiterten Olympiabewerbungen wurde viel Geld verbrannt.“
Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die Initiative Rhein-Ruhr auch dann die Spiele 2032 nicht hätte an Land ziehen können, wenn das IOC in seinen Ausschreibungen für Olympia transparenter vorgegangen wäre. Seit der Olympismus in den zurückliegenden Jahren in eine unübersehbar Krise geraten ist und sich – von autoritären Staaten abgesehen – immer weniger akzeptable Ausrichter für die beiden Großereignisse im Sommer und Winter finden, ist das IOC umso mehr bemüht, die wenigen sicheren Kandidaten an sich zu binden. Und das möglichst früh. Also erhebt sich für die Herren der Ringe die nahezu (über)lebenswichtige Frage, welchem Land sie wohl das wertvollste, was sie zu vergeben haben, was Milliarden-Einkünfte verspricht, anvertrauen können.
Den Deutschen etwa? Einem Land, das in jüngster Zeit zweimal bei Volksbefragungen Olympiabewerbungen hat durchrasseln lassen, nämlich diejenige von München um die Winterspiele 2022, die angesichts des Kandidatenmangels wahrscheinlich ein Spaziergang geworden wäre, und die von Hamburg für die Sommerspiele 2024. Das IOC sieht eine privat initiierte Bewerbung in Nordrhein-Westfalen, zu der sich der Deutsche Olympische Sportbund, die höchste Organisation des deutschen Sports und gleichzeitig Nationales Olympisches Komitee, nur zögerlich bekannt und sich viel zu wenig um internationale Kontakte bemüht hat. Und die von der Bundesregierung in Berlin nicht einmal halbherzige Unterstützung erhielt. Das zuständige Bundesinnenministerium sagt, es könne Geld erst versprechen, wenn der Bewerber den Zuschlag bekommt. „Wenn wir dieses Henne-Ei-Problem nicht lösen“, sagt der sportpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Mahmut Özdemir, „brauchen wir uns in Deutschland nie mehr um eine Sport-Großveranstaltung zu bewerben.“ Die obersten Olympier sehen ein Land, das keinerlei Anstalten macht, seine Olympia-Athleten rechtzeitig für die Spiele in Tokio gegen Corona zu impfen, während im Land des „bevorzugten Kandidaten“ Brisbane den Sportlern empfohlen wird, das Angebot, bis Juni geimpft zu sein, auch ja anzunehmen.
Also: Wesentlich für den schnellen Zuschlag pro Brisbane war die schwierige Lage des IOC. Noch immer ist nicht sicher, ob sich die Jugend der Welt im Sommer 2021 in Tokio zu den wegen der Pandemie verschobenen Spielen treffen darf. Gleichzeitig wissen die Ökonomen im Kreis des deutschen IOC-Chefs, des Wirtschaftsanwalts Thomas Bach, dass der Pandemie in vielen Ländern eine Wirtschaftskrise folgen kann. Welche Regierung würde in den Wiederaufbaujahren Geld für das gewaltigste Spitzensportereignis übrig haben, geschweige denn von der Bevölkerung ermuntert werden, in der Krise ein gigantisches Sportfest zu finanzieren, während sich Insolvenzen türmen? Brisbane bietet politische Sicherheiten in der Phase großer Unsicherheiten: Die vollständige Unterstützung durch das Nationale Olympische Komitee (NOK), durch das NOK Ozeaniens und die australische Regierung wiegt schwer.
Da alles immer von Personen geregelt und beeinflusst wird, lohnt sich ein Blick auf den Australier John Coates. Er ist nicht nur IOC-Vize, sondern auch Präsident des australischen NOK und des Welt-Sportschiedsgerichts Cas. Coates zählt zu den wenigen IOC-Mitgliedern, die als Vertraute Bachs bezeichnet werden können. Ein Multifunktionär und Mann für alle Fälle: Er leitet für Bach die Koordinierungskommission für die Corona-Sommerspiele in Tokio – und er hat im Auftrag Bachs jene Kommission geführt, die 2019 das neue Olympiavergabe-System ausgearbeitet und vorgestellt hat. Ihm wird zudem nachgesagt, schon seit Jahren verdeckt, aber dennoch zielgerichtet auf eine erfolgreiche Brisbane-Bewerbung hingearbeitet zu haben.
Sollte es mit Brisbane doch noch Schwierigkeiten geben und das olympische Macht-Gefüge ins Wanken geraten, dann stünden Interessenten parat, die von heute auf morgen gewaltige Milliardensummen aufbringen können und bereits jetzt über alle nötigen Sportstätten verfügen: Katar war mit Doha ohnehin an den Spielen 2032 interessiert. Die Arabischen Olympischen Spiele, so der „Spiegel“, seien ohnehin mittelfristig ein großes Thema: die Gulf Olympics in Katar, Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, den Emiraten und Oman. Wenn nicht mehr für 2032, wovon inzwischen auszugehen ist, dann gewiss für 2036.
Obwohl das IOC sich für Brisbane ausgesprochen hat, will Nordrhein-Westfalen an der Olympia-Bewerbung weiter festhalten. Und falls es 2032 nichts wird, dann eben 2036 – dem historisch belasteten Datum zum Trotz. Dass eine Bewerbung für 2036 international ganz automatisch eine breite und hitzige politische Debatte über Olympia in Deutschland, genau 100 Jahre nach den Nazispielen von Berlin, auslösen würde, dass „alte Aufnahmen von ausgestreckten Armen in den Arenen mit neuen Bildern aus braunen Winkeln Deutschlands verknüpft werden könnten“ (FAZ), das lässt den NRW-Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden kalt. Eine schwere historische Hypothek sieht er in dem Datum offensichtlich nicht. Er habe damit „kein Problem“, so Laschet: Man könne damit ja sichtbar machen, dass „die Welt 100 Jahre später eine andere ist“. | Von Rudi Bartlitz