Im deutschen Handball-Nationalteam vollziehen sich derzeit Veränderungen, die einer Mini-Revolution nahekommen. Der Magdeburger Linksaußen Lukas Mertens ist einer, der von der neuen Aufbruchstimmung profitieren könnte. | Von Rudi Bartlitz
Als Lukas Mertens erstmals so richtig ins Blickfeld der Kameras geriet, waren schon mehr als 20 Minuten absolviert. „Und jetzt ist auch der Magdeburger Linksaußen bei seiner Premiere auf dem Parkett“, rief der Reporter beim Länderspiel der deutschen Handballer gegen Portugal frohgelaunt ins Mikrofon. Was den Zeitpunkt betraf, da irrte er allerdings. Die Begegnung war nämlich schon mehr als 20 Minuten alt – und Mertens hatte von der ersten Sekunde an auf dem Spielfeld gestanden. Er war aber eben überhaupt noch nicht in die Aktionen einbezogen worden. Minutenlang harrte er bei Angriffen in seiner Ecke; wie in einem toten Winkel. Kein Anspiel, nichts. Die Episode mag unbedeutend sein, eines illustriert sie jedoch: Nicht nur im Kleinen, wie bei Mertens eben, auch im Großen, den ersten beiden Auftritten des neuformierten deutschen Nationalteams (mit Sieg und Niederlage gegen Portugal), lief längst nicht alles nach Plan.
Dennoch, Bundestrainer Alfred Gislason haderte nicht. Immerhin hatte er, der bei seinen bisherigen Trainerstationen in Magdeburg, Gummersbach und Kiel eher als Traditionalist galt, nach den Enttäuschungen bei der WM und bei Olympia quasi einen Neustart gewagt. Er probierte munter Debütanten wie Mertens aus; sogar Spieler aus der zweiten Liga waren dabei. Gislason versucht, das Flaggschiff des deutschen Handballs gerade zukunftssicher zu machen, sieben Spieler gaben ihre Länderspiel-Heimpremiere, angeführt vom neuen Kapitän Johannes Golla. Und wie das mit sportiven Umbauprojekten so ist: Da kann es schon mal ein bisschen scheppern. Insbesondere mit dem zuweilen körperlosen Agieren der Abwehr zeigte sich der Isländer unzufrieden.
Viele Asse von einst hatten sich zuvor entweder aus dem Nationalteam verabschiedet oder waren vom Isländer nicht mehr berücksichtigt worden. „Ich spüre Aufbruchstimmung“, sagte Gislason, der auf seinem Weg Rückendeckung von Axel Kromer bekommt, dem Sportdirektor des Deutschen Handball-Bundes (DHB): „Wir meinen es ernst mit dem Umbruch.“ Im deutschen Handball stehen die Zeichen also auf Erneuerung. Vor Olympia sei die Mannschaft kaputt gewesen, meinte Gislason. „Wir konnten uns gar nicht richtig vorbereiten, weil ich ständig Rücksicht nehmen musste. Die Leute, die ich jetzt dabei habe, sind frischer als die gestandenen Spieler.“ In Tokio war die Nationalmannschaft vom Ziel Halbfinale meilenweit entfernt, bei der WM zuvor in Ägypten gab es mit Rang zwölf die schlechteste Platzierung bei einem Weltchampionat.
Der Weg des DHB hin zur Mitte Januar beginnenden Europameisterschaft in der Slowakei und Ungarn lässt sich folglich so beschreiben: lieber mit unerfahrenen, frischen Spielern in ein Turnier gehen als mit alten Profis, die auf Lehrgängen ihre Wunden lecken. Das ist tatsächlich eine erstaunliche Abkehr vom bisherigen Nominierungsverhalten der Bundestrainer, die in der Regel gestandene Teams an den Start brachten. Nun sagt Gislason: „Wir gehen mit einer unerfahrenen Mannschaft zur EM und gehören schon gar nicht zum Kreis der Favoriten. Wir wollen dort Erfahrungen sammeln und gute Spiele abliefern.“
Einer, der vom Aufbruch richtig profitieren könnte, ist Mertens. Was Schnelligkeit und Sprungkraft betrifft, kann er es mit jedem in der Liga aufnehmen. Er spielt „eine ganz starke Saison“, wie Sky-Experte und Ex-Nationalspieler Pascal Hens befand. Nach dem Rücktritt des einstigen Weltklasse-Linksaußen Uwe Gensheimer werden die Karten auf dieser Position ohnehin neu gemischt. Viele meinten, jetzt schlage die Stunde des Göppingers Marcel Schiller, der schon in Tokio mehrfach den Vorzug vor Gensheimer bekommen hatte. Und nicht nur Mertens war deshalb überrascht, als der Bundestrainer den Magdeburger bei dessen Debüt gleich in die Anfangsformation stellte.