Wenn in Peking die Kunstschnee-Flocken leise rieseln: In weniger als 100 Tagen beginnen in der chinesischen Hauptstadt die XXIV. Olympischen Winterspiele. Der Veranstaltungsort ist von Anfang an höchst umstritten. | Von Rudi Bartlitz
Noch sind, zumindest in Mitteleuropa, knackige Vorboten des Winters nicht so richtig auszumachen – und doch spielen Eis und Schnee im Alltag vieler Spitzenathleten schon längst eine dominierende Rolle. Denn es sind keine 100 Tage mehr, bis sie in Peking die Flamme der XXIV. Olympischen Winterspiele entzünden. Dabei wird es an jenem 4. Februar nicht einmal sechs Monate her sein, dass in Tokio das Feuer der (wegen der Pandemie um ein Jahr verschobenen) Sommerspiele erloschen ist. Einen derart geringen Abstand zwischen zwei Olympia-Top-Events gab es noch nie. Und noch etwas ist ebenfalls neu: Peking, schon 2008 Gastgeber für die Sportjugend der Welt, ist die erste Stadt in der 126-jährigen Geschichte der Spiele der Neuzeit, die dieses Ereignis im Sommer und im Winter austrägt.
Dass es zu einer derartigen Entwicklung kommen konnte, hat viel mit Olympiamüdigkeit gerade in angestammten Wintersportländern Europas zu tun. So verzichtete auch München wegen Bürgerbedenken seinerzeit auf eine Bewerbung für 2022. Am Ende hielten nur Almaty in Kasachstan und Peking ihre Bewerbung aufrecht. Wenn heute Vorwürfe laut werden, beiden Städten hafte der Makel an, Länder zu vertreten, die nicht gerade als Ausbund der Demokratie gelten und in denen es schlecht um die Menschenrechte stehe, heißt es von Seiten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mit Blick auf die Deutschen lakonisch: Ihr hättet die Wettbewerbe doch haben können – nun beschwert euch nicht auch noch. Letztlich setzte sich Peking im Juli 2015 knapp mit 44:40-Stimmen gegen Almaty durch. Jetzt werden wir also erneut Zeuge der chinesischen Variante von olympischen Spielen.
Achsenverschiebung
Was wir derzeit erleben, lässt jene Recht behalten, die seit längerem von einer olympischen Achsenverschiebung sprechen. Weg von Europa, wo die Wettbewerbe mit den fünf Ringen einst ihren Ursprung hatten, hin nach Fernost. Ähnlichkeiten mit geostrategischen Entwicklungen in Politik und Wirtschaft sind wohl alles andere denn rein zufällig. Erstmals in der Geschichte der Ringe-Spiele werden zwei aufeinanderfolgende Winterspiele nämlich in asiatischen Städten ausgetragen – für 2018 hatte das südkoreanische Pyeongchang den Zuschlag erhalten. Nimmt man Tokio 2021 hinzu, findet das weltgrößte Sportereignis dreimal in Folge auf dem asiatischen Kontinent statt. Erst 2024 und 2026 geht die Reise mit Paris (Sommer) sowie Mailand/Cortina d‘Ampezzo (Winter) wieder zurück nach Europa.
Nun also erst einmal Peking. Die Wettbewerbe vor dem Coronavirus zu schützen, stelle für die Organisatoren “die größte Herausforderung” dar, sagte OK-Vizepräsident Zhang Jiandong jüngst. Chinas strenge Corona-Regeln könnten „die Risiken und Auswirkungen von Covid-19 verringern”, ergänzte Zhang, der sein Land ansonsten für das Mega-Event gewappnet sieht: „Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen.” Die Volksrepublik, die eine Null-Covid-Strategie verfolgt, reagierte jüngst mit strikten Maßnahmen auf leicht steigende Corona-Fallzahlen. So wurden die rund 20 Million Einwohner Pekings aufgefordert, die Stadt nur in Ausnahmefällen zu verlassen und ganze Wohnkomplexe abgeriegelt. Flüge wurden gestrichen, auch viele Züge fielen aus.
Keine ausländischen Fans
Am meisten zu spüren bekommen Chinas strikten Kurs die Ausländer: Internationalen Fans bleibt der Zugang zu den Winterspielen verwehrt. Ungeimpfte Athletinnen und Athleten dürfen zwar teilnehmen, müssen sich aber auf eine kompliziertere Einreise einstellen. Bei den Restriktionen erreichte das IOC hingegen jüngst Zugeständnisse von Peking. So soll es, meldete die „Frankfurter Allgemeine“, sogenannte Mixed Zones geben, in denen Athleten und Journalisten sich für Interviews treffen können, wenn auch unter stark regulierten Bedingungen. Im Olympischen Dorf müssen solche Interviews einen Tag im Voraus gebucht werden. Im Gegensatz zu anderen Einreisenden in China müssen vollständig geimpfte Athleten, Betreuer und Berichterstatter keine Quarantäne durchlaufen. Für Nichtgeimpfte gilt hingegen eine dreiwöchige Isolationspflicht. China verzichtet zudem auf den bei Einreisen sonst geforderten Bluttest. Dafür müssen alle Beteiligten täglich einen PCR-Test abliefern und dürfen sich während ihres Aufenthalts nur in einer Blase mit vorgegebenen Transportmitteln zwischen Sportstätten und Unterkünften bewegen. Wer gegen die Auflagen verstößt, kann disqualifiziert werden. Vorfreude auf die Olympischen Spiele ist in China bisher nicht zu spüren.
Rufe nach Boykott
Seit der Austragungsort Peking bekannt ist, zieht sich nahezu überall die Frage eines Boykotts der Spiele wie ein roter Faden durch die Debatten. Mal heftig, mal weniger heftig. Neben generellen massiven Menschenrechtsverletzungen werden dem Land vor allem sein Vorgehen gegen die moslemische Uiguren-Bevölkerung in Xinjiang (die manche sogar mit einem Genozid vergleichen), die Unterdrückung der Tibeter und die Einschüchterungspolitik gegenüber Hongkong zum Vorwurf gemacht. Selbst wenn Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, einen diplomatischen Boykott der Winterspiele in Peking anregte und damit auf viel Unterstützung stieß, ist unmissverständlich klar: Einen sportlichen Boykott wird es nicht geben.
Ein Fernbleiben von den Spielen durch internationale Spitzenpolitiker hingegen hält auch SPD-Politikerin Dagmar Freitag, scheidende Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, für einen wünschenswerten Protest. „Zumindest die führenden Vertreter und Vertreterinnen demokratischer Staaten könnten durch ihr Fernbleiben IOC-Präsident Thomas Bach und seiner Entourage zeigen, was sie von Vergaben der Spiele in Staaten halten, in denen Werte des Sports und einer freien Gesellschaft mit Füßen getreten werden“, sagte Freitag. „Natürlich können Spiele unter den genannten Bedingungen keine unbeschwerten Spiele sein.“ Freitag sagt aber auch: Bei aller Kritik dürfe man nicht vergessen, wie lange Athleten auf diese Olympischen und Paralympischen Spiele hingearbeitet hätten.
Wirtschaftliche Interessen
Ungeachtet dessen: Chinas Führung wird auch ohne Staatschefs auf der Ehrentribüne ihre Show durchziehen. Die Propaganda-Maschine, die das Land des Drachens als künftige Weltmacht Nummer eins in schillernden Farben zeigen soll, ist längst angeworfen. Boykotte würden daran nichts ändern. Selbst eine politische Ächtung, wie jene kleine zu den Winterspielen 2014 in Russland, dient dem Westen vor allem der Selbstachtung: Bundespräsident Gauck beispielsweise reiste damals nicht an. Das löst aber nicht den Kernkonflikt. Es gäbe nur ein Mittel, Regierungen wie in China oder Machthabern anderer Länder deutlich zu machen, dass olympische Sportfeste nicht auf blutigem Boden stattfinden dürfen: der Rückzug einer Reihe namhafter Olympiateams. Dass es dazu nicht kommen wird – dafür sprechen zudem wirtschaftliche Gründe. Kein Land will die Kontakte zu dem Riesenreich aufs Spiel setzen. Das klappte schon im Sommer 2008 nicht.
Das IOC selbst hat eine deutliche Haltung dazu. Sein Präsident, der Deutsche Thomas Bach, sagt das lapidar so: „Das IOC ist keine Super-Weltregierung, die die Probleme der Welt lösen könnte.“ Das Olympische und Paralympische Komitee der Vereinigten Staaten (USOPC), die formal einen Boykott beschließen müssten, haben sich bereits dagegen positioniert. „Boykotte haben noch nie gewirkt“, sagte Präsidentin Susanne Lyons, „besonders nicht 1980.“ Damals waren fast alle West-Nationen einschließlich der Bundesrepublik unter dem Druck ihrer Regierungen den Spielen in Moskau ferngeblieben. „Diese Boykotte schaden nur Athleten“, sagte Lyons. Es folgte ein Gegenboykott der Spiele 1984 in Los Angeles. Dort finden, Achtung!, 2028 wieder Sommerspiele statt.
Um 109 Goldmedaillen
In Peking kämpfen die Athleten insgesamt um 109 Goldmedaillen (52 für Männer, 46 für Frauen und 11 Mixed-Wettbewerbe) in sieben Sportarten (15 Disziplinen). Das wären sieben Wettbewerbe mehr als in Pyeongchang 2018 – die Anzahl der Sportarten beziehungsweise Disziplinen sollen jedoch gleich bleiben. Was schon im Sommer dieses Jahres in Tokio evident war, setzt sich also fort: Die Entwicklung zu Trendsportarten, die Olympia vor allem der Jugend mehr als bisher öffnen sollen, ist auch bei den Winterdisziplinen nicht zu übersehen. So stehen Snowboard Cross, Ski Freestyle (Big Aerials) sowie Big-Air-Events im Ski Freestyle für Frauen und Männer erstmals im Programm. Hinzu kommen neu Mixed-Wettbewerbe im Skispringen sowie Team-Staffel im Short Track und der Monobob der Frauen.
Während es im Sommer in Tokio für das deutsche Team mit Rang neun in der Nationenwertung weiter kontinuierlich bergab ging, sieht es in Eis und Schnee wesentlich verheißungsvoller aus. Mit dem Rekordergebnis von 14 mal Gold, zehn mal Silber und sieben mal Bronze wurde die Mannschaft in Pyeongchang erst im letzten Wettbewerb von Norwegen (14-14-11) noch von der Spitzenposition verdrängt. Für Deutschland bedeutete Platz zwei eine deutliche Steigerung gegenüber der Enttäuschung von Sotschi 2014, wo es mit acht Gold, sechs Silber und fünf Bronze lediglich zu Platz sechs gereicht hatte. Geht es nach Dirk Schimmelpfennig, dem Sportchef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), sollte in Peking ein Rang unter den ersten drei auf jeden Fall drin sein.
Sachsen-Anhalt dabei
Einige Hoffnungen im schwarz-rot-goldenen Team ruhen auf Sportlern aus Sachsen-Anhalt. Im Juli 2021 hatte das Land ein siebenköpfiges Team für Peking berufen. Es sind die Bobsportler Thorsten Margis, Alexander Schüller (beide SV Halle), Kevin Korona, Paul Krenz und Henrik Bosse (alle Mitteldeutscher SC) sowie Rennrodler Toni Eggert (BRC Ilsenburg). Dazu gehören ebenso Parasportlerin Andrea Eskau (USC Magdeburg). Medaillenchancen gibt es vor allem für Eggert, für den es mit seinem Partner Sascha Benecken (Suhl) die dritten Spiele wären. 2018 in Pyeongchang gewannen sie Bronze. Bei den Bobsportlern aus Sachsen-Anhalt, die bis vor wenigen Tagen auf der Olympiabahn von Peking Testwettkämpfe bestritten, stehen die Chancen bei den Hallensern Thorsten Margis und Alexander Schüller am besten. Beide gehören zu den festen Anschiebern der Bobs von Super-Pilot Francesco Friedrich, der im Jahr 2021 den Zweier- und den Viererbob zum Weltmeistertitel führte.
Rätsel bei den Kosten
Genaue Angaben zu den Kosten der Spiele (sie lagen ausländischen Quellen zufolge zuletzt zwischen drei und vier Milliarden Euro) halten die Chinesen bewusst zurück. Vielleicht um den Eindruck zu verwischen, Peking 2022 könnte irgendwelche Ähnlichkeiten mit Sotschi 2014 aufweisen, das mit seinem Monster-Etat von 35 Milliarden Euro die Welt schockierte. Peking gibt sich zumindest nach außen rechnerisch Mühe, den Anforderungen der olympischen Agenda 2020 zu entsprechen, die ein weg vom Gigantismus propagiert. Dass die Athleten diesmal auf drei olympische Dörfer verteilt werden sollen, ist wiederum nicht im Sinne der Reformen.
Olympische Spiele gelten inzwischen als Minusgeschäft. Der Veranstalter der vergangenen Winterspiele zog nun allerdings eine positive Bilanz. Das IOC kann solche Nachrichten gut gebrauchen. 2018 wurde ein Überschuss von mindestens 47,8 Millionen Euro erwirtschaftet. Das sei möglich geworden, nachdem im Zuge der Agenda 2020 eine Reihe von Kürzungen vorgenommen worden seien, sagte der Leiter des Organisationskomitees von Pyeongchang, Lee Hee Beom. Mit jener Agenda 2020 will das IOC die Kosten für die Bewerbung und das Ausrichten Olympischer Spiele drücken. Dazu zählen kleinere Übertragungszentren, mehr Tickets für den freien Verkauf und die intensivere Nutzung von bestehenden Strukturen. „Früher haben wir von den Städten gefordert, dass sie unsere Bedingungen erfüllen”, sagte IOC-Präsident Bach. „Heute fragen wir uns, wie wir die Olympischen Spiele an die Möglichkeiten der Städte und Regionen anpassen können.” Ob diese Strategie gerade in Peking aufgeht, da melden viele Beobachter berechtigte Zweifel an.