Wenn diese Ausgabe der KOMPAKT-Zeitung erscheint, werden es weniger als acht Wochen sein, bis in Japan die Olympischen Sommerspiele beginnen sollen. Wobei die Betonung – immer noch – auf dem Verb „sollen“ liegt. Denn noch weiß niemand so ganz genau zu sagen, ob die Wettbewerbe um olympisches Gold, Silber und Bronze wegen der weltweiten Pandemie überhaupt stattfinden können. Bereits im Frühjahr 2020 waren die Ringe-Spiele von Tokio wegen der weltweiten Corona-Gefahren um ein Jahr verschobenen worden. Doch halt! Einer weiß es diesmal mit einhundertprozentiger Sicherheit, dass es nunmehr klappt: Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Und mit dem Deutschen weiß es eben seine Organisation, die dieses größte Festival des Weltsports seit 1896 alle vier Jahre austrägt; lässt man einmal die durch zwei Weltkriege erzwungenen Absagen außen vor.
„Wir bewegen uns mit Volldampf voran“, ließ Bach seinen Sprecher Mark Adams, nur folgerichtig, Mitte Mai bei einer virtuellen Pressekonferenz ausrichten. „Wie ein Ozeandampfer“, notierte die „Frankfurter Allgemeine“, stampfe das IOC in Richtung Tokio. Und man weiß ja: Sind sie erst einmal in Fahrt, das haben die schwimmenden Riesen der Weltmeere so an sich, sind sie kurzfristig kaum noch aufzuhalten. Trotz drohender Gefahren. Am 23. Juli soll die Eröffnungsfeier steigen. Dass Japans Bevölkerung seit Monaten mittels diverser Umfragen die Austragung der Spiele in diesem Sommer aus Angst vor Virus-Einschleppung vehement ablehnt (sie lag unterschiedlichen Umfragen zufolge zwischen 60 und 70, zuletzt sogar bei 80 Prozent), scheine das IOC nicht weiter zu beunruhigen.
An ihrer Seite wissen die höchsten Olympier die japanische Regierung – selbst wenn aus dem offiziellen und semioffiziellen Apparat dieser Tage die unterschiedlichsten Signale kommen. Diese weisen, das macht die Sache noch undurchsichtiger, durchaus in unterschiedliche Richtungen. Selbst Regierungsvertreter sind sich nicht mehr sicher, ob man Olympia überhaupt noch wollen könne. Die Angst vor den Spielen geht um. Die Krankenhäuser sind überfüllt. Vor allem von den eigenen Ärzten und Wissenschaftlern kommt massiver Widerstand. Zuletzt hatte die Tokioter Ärztevereinigung eindringlich vor den Spielen gewarnt. Eine sichere Austragung der Spiele sei „unmöglich“, eine Absage unbedingt erforderlich. Wirtschaftsführer Hiroshi Mikitani vom Großsponsor Rakuten (Online-Handel) bezeichnete die Show gar als „Selbstmordkommando“.
Für die Regierenden in Japan ist Olympia inzwischen zur Sache des nationalen Stolzes geworden. Eine Absage – die zweite dann schon nach 1940 – käme einem internationalen Gesichtsverlust gleich. Zumal sich ausgerechnet der große asiatische Rivale China anschickt, ein halbes Jahr später in Peking die Olympischen Winterspiele 2022 auszutragen. Dort wird es, da darf man sicher sein, keine interne Diskussion über eine Absage geben. Also wird, so sieht es gegenwärtig zumindest aus, die Feier durchgezogen, obwohl es fast nichts mehr zu feiern und zu gewinnen gibt. Ein möglicher Ausweg: Andere müssten für die Japaner Fakten schaffen. So wie es im vergangenen Jahr schon einmal geschah, als der internationale Druck fürs IOC und die Regierung in Tokio zu groß wurde und erste Länder bereits ihre Absage formuliert hatten. Regierungen, Verbände und Aktive müssten einsehen und gegebenenfalls kundtun, dass die Zeit noch nicht reif ist für unbeschwerte Spiele und den Japanern eine ehrenwerte Absage ermöglichen. Natürlich, das wäre traurig für alle, die auf Olympia und die Paralympics hingearbeitet haben. Aber die Coronavirus-Kurven weltweit sinken einfach nicht wirklich ab. Die Impfprogramme laufen weltweit schleppend.
Zumal auch die Bedingungen, unter denen das 16-tägige Ereignis stattfinden soll, nicht mehr viel mit dem gemein haben, was den olympischen Gedanken in seinem Wesen ausmacht: unbeschwerte Spiele der Sportjugend aus aller Welt. Denn seit längerem ist klar: Ausländische Besucher wird es in Tokio definitiv nicht geben. Die Grenzen sind dicht. Die Organisatoren setzen darauf, die Athleten und Beteiligten in einer Blase von den Japanern weitgehend abzuschotten.
Nach einer zweiten Version des „Playbooks“, das sozusagen die wichtigsten Durchführungbestimmungen bündelt, sollen alle Teilnehmer vor Abflug nach Fernost zweimal auf das Virus getestet werden. Die Athleten werden in Japan dann täglich getestet, alle anderen Beteiligten regelmäßig. Japan verzichtet im Gegenzug auf die Quarantäne nach der Einreise. Sportler können so direkt weiter trainieren, dürfen sich aber auch nur vom Olympischen Dorf zu den Trainings- oder Wettkampfstätten bewegen. Ob es Eröffnungs- und Schlussfeier – für viele Nicht-Hardcore-Fans der Höhepunkt der Spiele schlechthin mit Milliarden TV-Zuschauern weltweit – geben wird, das steht ebenfalls noch in den Sternen. Alle olympischen Gäste dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen und müssen auf Restaurantbesuche außerhalb ihrer Hotels verzichten.
Für die japanischen Sportfans werden die Spiele zusätzlich zur Geduldsprobe. Erst im Juni, wenige Wochen vor Beginn, wollen die Organisatoren entscheiden, ob und wie viele Zuschauer die Wettkämpfe in den Stadien verfolgen dürfen. Optionen, die zwischen dem IOC, dem Vorbereitungskomitee und der japanischen Regierung diskutiert werden, sind die Halbierung der Zuschauerkapazität in den Sportstätten oder der komplette Verzicht auf Publikum. Der für die Impfstoff-Verteilung zuständige Minister Taro Kono wurde dieser Tage ziemlich deutlich: Die aktuelle Lage könne bedeuten, „dass es wahrscheinlich keine Zuschauer” in den Arenen geben werde. Also nicht einmal Japaner. Die Spiele würden „deutlich anders” als frühere Auflagen sein.
Stellt sich die Frage: Muss die schöne olympische Idee wirklich auf dem Altar des Kommerzsports geopfert werden? Muss das Event wirklich durchgezogen werden? Wenn Olympische und Paralympische Spiele Ereignisse verkörpern, die Menschen zusammenbringen und Atmosphären der Vielfalt erschaffen, dann kann man sich mittlerweile nicht mehr vorstellen, wie diese Spiele noch ein Erfolg werden sollen. Zumal der Einreise-Bann auch die meisten Volunteers aus dem Ausland betrifft, die mit ihren Sprachkenntnissen und ihrer unverfälschten Begeisterung sicher Lichtblicke gewesen wären.
Nein, kommentiert die „Süddeutsche Zeitung“, mit Blick auf die Werte des Großereignisses könne man „im Grunde schon jetzt sagen, dass die Spiele ein Misserfolg sind.“ Wie wolle man ein Weltsportfest retten, das die Welt nicht ins Stadion lassen kann? „Diese Spiele sind wegen der Pandemie bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie werden zu einem sterilen Theater mit Trennwänden, Kontaktverboten und Zugangsbeschränkungen getrimmt. Der tiefere Sinn erschließt sich nicht mehr.“
Wer beispielsweise in London 2012 miterleben durfte, wie und was Olympia wirklich sein kann (und sollte), wie das Event ein ganzes Land in einen gut zweiwöchigen Sport-Trance versetzte – der kann dieser Aussage nur zustimmen. Für London könnten auch Sydney, Athen oder selbst Peking (klammert man die politischen Umstände dort ausnahmsweise einmal aus) stehen. Überall hat die Idee des Sports, bei aller verbissenen Rivalität im Kampf um Medaillen und Spitzenpositionen in der Nationenwertung, obsiegt. Es war mit Händen zu greifen, wie an den Wettkampfstätten und im olympischen Dorf der Geist der Spiele wirklich lebt. Warum fast alle Spitzenathleten dieser Welt – selbst x-fache Sport-Millionäre wie Dirk Nowitzki, Roger Federer oder einst die Basketballer des US-Dream-Teams – unbedingt einmal bei Olympia dabei sein wollen.
Was es stattdessen in Tokio nun möglicherweise geben wird: Eine geballte Ladung aneinandergereihter einzelner Weltmeisterschaften, wie sie der Erdball in dieser Zahl bisher noch nicht gesehen hat. Die – und das wäre tatsächlich neu – zur selben Zeit am selben Ort über die Bühne gehen. Unbestritten mit Leistungen auf höchstem Niveau. Aber, wie gesagt, im schlimmsten Fall ohne jegliches Publikum. Ohne Begeisterung von den Rängen. Ohne Atmosphäre. Ohne Flair.
Natürlich gibt es neben IOC und japanischer Regierung auch andere Befürworter der Spiele in diesem Sommer. Das ist – verständlicherweise – zuallererst der überwiegende Teil der Athleten selbst. Sie wollen sich für jahrelange Schinderei und viel Verzicht endlich belohnen. Wollen nach Gold greifen. So mancher Ältere von ihnen hat, obwohl er nach Olympia eigentlich seine Karriere beenden wollte, 2020 entschieden, noch einmal zwölf Monate dranzuhängen, um bei diesem Höhepunkt dabei zu sein. Für 70 Prozent der Olympioniken, so stellte Leichtathletik-Weltpräsident Sebastian Coe dieser Tage fest, bestehe nur einmal im Leben die Chance, diesen Höhepunkt erleben zu können. Hinzu kommt, olympische Auftritte bedeuten eine einzigartige Vermarktungschance für die meisten Sportler, besonders für Medaillengewinner. Zwar bleiben in Deutschland Leistungen von Sporthilfe und Sportförderung konstant, doch ein olympischer Erfolg steigert die Verdienstaussichten deutlich. Durch eine Tokio-Absage entginge vielen diese Karrierechance.
Andere Befürworter der Spiele im Sommer 2021 sagen: Viele Sportarten, in Europa angeführt vom Fußball, ziehen ihren Ligenbetrieb auch in der Pandemie durch. In den USA spielen die vier großen Profiligen schon in der zweiten Saison ihre Geisterspiele, inzwischen sogar wieder vor Fans. Klar, Spiele müssten wegen Corona schon mal verschoben werden – aber das Virus spiele eben nicht die Hauptrolle. Und sollte es, so die Argumentation, auch nicht jetzt in der Hauptstadt Nippons.
Wenn das IOC geradezu verbissen an den Wettkämpfen festhält, gibt es – aus seiner Sicht – dafür handgreifliche Gründe. Sie lassen sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Geld. Olympische Spiele sind das Kern-Produkt des Ringe-Zirkels. Die Vermarktung bringt längst Milliarden. Für den Vierjahreszeitraum von 2013 bis 2016 mit den Spielen in Sotschi und Rio wies das IOC einen Umsatz von 5,7 Milliarden Dollar aus, nach derzeitigem Kurswert wären das 4,7 Milliarden Euro. Rund drei Viertel des Geldes kommen aus dem Verkauf der TV-Rechte. Für Tokio dürften diese Rechte bis zu 2,5 Milliarden Euro wert sein. Die sogenannten Top-Sponsoren überweisen ebenfalls hunderte Millionen an das IOC. Fallen die Tokio-Spiele komplett aus, würden die bereits vom IOC verkauften Rechte massiv an Wert verlieren. Rückforderungen oder ein anderer Ausgleich wären zu erwarten. Also hält man an der „TV-Olympiade“, und darauf würde es Stand jetzt hinauslaufen, fest.
Im Falle einer Komplett-Absage droht enormer finanzieller Schaden. Die Olympia-Macher rechnen offiziell mit Ausgaben von rund 12,66 Milliarden Euro, das wäre mehr als eine Verdopplung gegenüber den Plänen bei der Vergabe der Spiele 2013. Andere Berechnungen gehen sogar von rund 20 Milliarden Euro aus. Die Verschiebung um ein Jahr und die Kosten für die Corona-Maßnahmen allein treiben das Budget um mindestens 2,3 Milliarden Euro in die Höhe. Laut einer Studie der britischen Universität Oxford sind die Spiele in Tokio schon jetzt die teuersten in der Geschichte der Sommerspiele. Das IOC weist diese Berechnung zurück, weil zum Beispiel staatliche Ausgaben für die Infrastruktur nicht allein den Spielen zugutekommen.
Übrigens, nicht nur die Mehrheit der Japaner lehnt es ab, die Spiele in diesem Jahr in Tokio abzuhalten. Genauso sieht es die Mehrheit der Briten und der Deutschen. Das zeigt eine international vergleichende Umfrage des Beratungsunternehmens Kekst CNC. Die Studie deutet darauf hin, dass sich Widerstand gegen die Spiele während der Corona-Pandemie nicht nur im Gastgeberland, sondern auch international aufbaut. Im Vereinigten Königreich sprachen sich 55 Prozent und in Deutschland 52 Prozent dagegen aus. Weniger als 20 Prozent der Befragten in diesen drei Ländern äußerten Zustimmung zu dem Plan, das Sportereignis in diesem Jahr stattfinden zu lassen. Auch in Frankreich und Schweden gehört die Bevölkerung zu den olympischen Skeptikern. Allein in den Vereinigten Staaten zeigt die Umfrage ein ausgewogenes Bild zwischen Befürwortern und Gegnern Olympias, die jeweils 33 Prozent erreichten. Wahrlich kein gutes Omen für Olympia und seinen Ruf. Schon gar nicht langfristig.