Ein Kanzler ohne Agenda
Ein Kanzler ohne Agenda Prof. Dr. Markus Karp Vollmundige Regierungsversprechen: Zeitenwende durch den Krieg in der Ukraine, wirtschaftlicher Aufschwung durch Energiewende, gesteuerte Zuwanderung, andere Bildungspolitik und Förderung von Nachwuchs, Entbürokratisierung und mehr digitale Dienstleistungen. Die Fakten sprechen vom Gegenteil. Das Land ist gelähmt und Kanzler Olaf Scholz kann das Ruder offenbar nicht herumreißen. Olaf Scholz 2021 auf dem Marienplatz in München. Von Fortschritts-Regierung keine Spur, ebenso wenig von einem Kurswechsel. Foto: 123rf.com/coffe72 Kompakt Zeitung Bei der Regierungskoalition ist nicht nur der Zauber des Anfangs verflogen und der politische Alltag eingekehrt. Nein, sie befindet sich in einer veritablen Krise und mit ihr das Land. Immer neue Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft – nicht mehr nur beschränkt auf einzelne kriselnde Industrien. Das gesamte ökonomische Gefüge gerät ins Rutschen. Die Verwaltung, einst wegen ihrer Effektivität und Zuverlässigkeit das Kronjuwel bundesrepublikanischer Staatlichkeit, analog verkrustet und ins Labyrinthische gewuchert. Die Energiewende führt zu horrenden direkten und indirekten Kosten, die Klimaziele werden dennoch verfehlt. Der höchst angespannte Wohnungsmarkt geht allmählich zur Wohnungsnot über. Die trostlosen Zustände in der Bildungspolitik lassen aus diesem Bereich keine Hoffnung für den vom Fachkräftemangel gebeutelten Arbeitsmarkt aufkommen. Während die gesteuerte Zuwanderung nicht so recht in Schwung kommt, herrscht bei der ungesteuerten Ratlosigkeit. Ausweislich der Meinungsforschung erodiert das Vertrauen in das politische System und das Vertrauen darauf, dass die Zukunft besser wird als die Gegenwart. Dass das nicht nur die Projektion aufmerksamkeitsheischender Demoskopen ist, zeigen die noch vor Kurzem für nicht möglich gehaltenen Höhenflüge der AfD, die nicht nur in der Sonntagsfrage stattfinden, sondern auf kommunaler Ebene schon politische Realität werden. Der Bundeskanzler gibt sich zwar „ganz zuversichtlich“, dass die Partei „bei der nächsten Bundestagswahl nicht viel anders abschneiden wird als bei der letzten“, das ist aber der überoptimistische Ansatz der meisten Problemlösungen, welche das Kanzleramt in Aussicht stellt: Erledigung durch Zeitablauf, ganz ohne Reform und Kurswechsel. Es liegt nicht daran, dass Olaf Scholz unter Realitätsverlust litte. Weil sich aber die ungleichen Ampelparteien so schwertun, tragfähige Kompromisse zu finden, kann sich sogar die innerlich zerrissene CDU leisten, die Regierungskoalition im Hessenwahlkampf als „Familie Frankenstein im Dauerstreit“ zu verhöhnen, ohne von dieser offensichtlichen Bigotterie eingeholt zu werden. Die trübe und gereizte Stimmung im Land, das weitverbreitete und bisweilen bis zum Exzess kultivierte Gefühl, dass es bergab geht, erinnert an die Zeit vor 20 Jahren. Damals waren auf die Euphorie des Wandels unter einem nie dagewesenen Regierungsbündnis Ernüchterung und schließlich Resignation gefolgt. Deutschland galt plötzlich als Land des Gestern, in dem vieles nicht mehr funktioniere und das seine besten Jahre hinter sich habe. Der damalige Bundeskanzler Schröder, der heute vor allem als toxischer Politzombie durch die medialen Randnotizen geistert, zerschlug diesen gordischen Knoten des politisch-ökonomischen Stillstands mit der sogenannten Agenda 2010. Wie alle großen Stunden des Politischen lebte auch diese davon, dass hier ein politischer Anführer die demoskopisch opportunistische Taktiererei sausen ließ und seine ganze Reputation in eine Idee investierte, von der er überzeugt war. Diese politische Kraftanstrengung erwies sich als derart durchschlagend, obwohl letztlich nur halbvollendet, dass die Bundesrepublik sich danach ungestraft wieder 16 reformpolitisch höchst geruhsamen Jahren hingeben konnte. Seine Nachfolgerin dankte Schröder dafür, dass er „eine Tür zu Reformen“ aufgestoßen habe, genierte sich aber nicht, sie umgehend wieder zu schließen. Die Regierungserklärung von damals, sicherlich eine der wichtigsten parlamentarischen Reden in der Geschichte der Bundesrepublik, lohnt sich noch immer nachzulesen. Es ist frappierend, wie sehr sich die Probleme gleichen: Überbordende Steuerlast und Staatsquote, fehlende Anreize zur Erwerbstätigkeit, Überbürokratisierung des Landes, die dringliche Notwendigkeit, ökologische Innovation anzukurbeln – weite Teile der adressierten Themen wirken regelrecht tagesaktuell. Sogar die anstehende Verwaltungsdigitalisierung wird in Schröders Rede angeschnitten, was beinahe schon an den Jokus über die Kernfusion erinnert, die bekanntlich ja auch seit Dekaden immer noch 30 Jahre von ihrer Verwirklichung entfernt sei. Nebenbei bemerkt kann die stete Sorge über die Verlotterung der parlamentarischen Debattenkultur an dieser Stelle ein Stück weit entkräftet werden – da gab es offensichtlich schon immer Defizite. Das dem damaligen Kanzler auf seinen Appell zum Zuhören vom parlamentarischen Geschäftsführer der größten Oppositionspartei beinahe schon kindisch „Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!“ entgegenschallt, ist ebenso wenig eine Debatten-Sternstunde wie die meisten anderen der an diesem Tag zahlreichen Zwischenrufe. Obwohl viel über das Momentum der Agenda 2010 geschrieben worden ist, ist es für die nächste Generation politisch Verantwortlicher weder Ansporn noch Inspiration gewesen. Das hat eine Reihe von Ursachen: Die der Reform inhärenten unpopulären sozialpolitischen Härten, das schlussendliche Scheitern Gerhard Schröders und seiner Koalition, der hier angestoßene politische Spaltungsprozess der Linken und das sich anschließende jahre- und jahrzehntelange Darben seiner sozialdemokratischen Partei wirkten in der Rückschau schlicht zu abschreckend. Trotzdem stellt sich die Frage, ob diese Lesart die einzig richtige ist. Das Scheitern des Politikers ist nicht gleichbedeutend mit dem Scheitern seiner Reformpolitik, die das Land aus der Depression führte, wenn auch unter erheblichen Schmerzen. Im Rückblick gerät außerdem oft in Vergessenheit, dass im Gefolge der Agenda 2010 dem Kanzler Schröder beinahe ein wahltaktischer Coup gelungen wäre, der trotz seines haarscharfen Scheiterns spektakulär genannt werden muss. Denn zwischenzeitlich schien es in damaligen Umfragen so, als wäre das Rennen für die SPD schon gelaufen, wohingegen die Union mit einem Traumergebnis rechnen könne. Tatsächlich aber kam es bei der Bundestagswahl 2005 zu einem Fotofinish, bei welchem Gerhard Schröder um ein Haar triumphiert hätte. Der Reformeifer des Kanzlers hatte bei CDU/CSU im Willen, diese zu übertrumpfen, zu derartig schrillen Vorschlägen geführt, dass es für das Regierungslager trotz tiefgreifender Umbauagenda möglich war, sich im Vergleich als behutsame Erneuerer zu präsentieren, welche bei vielen Wählern vergleichsweise weniger Skepsis auslösten. Generalsekretär des damaligen Bundeskanzlers und damit ein he-rausragender Vertreter dieser Reformpolitik war damals ausgerechnet Olaf Scholz. Er konnte seinerzeit eine unzweifelhaft prägende politische Nahtoderfahrung machen: Als Schröder seinen Parteivorsitz abgab, ein von der Parteikrise erzwungener Abtritt auf Raten, musste auch sein General abdanken. Nun ist er selbst Kanzler, seine Koalition Lichtjahre von einer neuen Kanzlermehrheit entfernt, dass Land in einer tiefen Strukturkrise, die mindestens so umfassend ist wie jene vor 20 Jahren. Demokratietheoretisch besonders bedenklich ist, dass die oppositionelle Volkspartei, die Union, angesichts dieser Ausgangslage für Kraft kaum