Der abkippende falsche Neuner
Nicht nur bei der derzeitigen Europameisterschaft zu beobachten: Es hat sich längst eine eigene Sprache des Fußballs herausgebildet. Aber ihre Auswüchse stoßen bei weitem nicht überall auf Begeisterung.
Scharfe Sprüche: Sprachneutrale Würstchen
Derzeit schreiben viele an einem neuen Sommermärchen und setzen damit die Fußball-Europameisterschaft mit der WM gleich. Na ja, Märchen bleiben Märchen.
Erlebnis Fußball gemeinsam beim Public Viewing
Erlebe die Fußball-Europameisterschaft 2024 hautnah bei den spektakulären Public-Viewing-Veranstaltungen auf der Wiese vor der imposanten Festung Mark in Magdeburg!
MVB unterstützt Fußballeuphorie
Die Magdeburger Verkehrsbetriebe setzen ein Zeichen für die Begeisterung rund um die Fußball-Europameisterschaft 2024 im eigenen Land.
Die besten, die gerade zu finden waren
Die besten, die gerade zu finden waren Rudi Bartlitz Bei der in dieser Woche in Deutschland beginnenden Handball-Europameisterschaft zählt das schwarz-rot-goldene Team nicht zu den Favoriten. Bundestrainer Alfred Gislason zeigt sich risikofreudig und ganz schön mutig. Kompakt Zeitung Die Prognosen streuen wie bei einer alten Schrotflinte, die schon ein wenig Rost angesetzt hat. Egal, mit wem man zuletzt über die in dieser Woche hierzulande beginnende Handball-Europameisterschaft und das Abschneiden des schwarz-rot-goldenen Teams auch sprach. Die Extrempositionen: Ein junges hoffnungsvolles deutsches Team und dazu noch der Heimvorteil – wir spielen um den Titel mit, jubilieren die einen. Spätestens in der Zwischenrunde ist definitiv Schluss – meinen andere, die sich als Realisten bezeichnen. Ja, es ist schon ein eigen Ding, Voraussagen über den Ausgang des 18-tägigen Turniers abgeben zu wollen. Am einfachsten erscheint es noch an der Spitze. An Dänemark, den Olympiasieger von Tokio und dreifachen Weltmeister des letzten halben Jahrzehnts (2019, 2021 und 2023) führt natürlich kein Weg vorbei. Selbst wenn es für „Danish Dynamite“ bei europäischen Titelkämpfen zuletzt nicht so richtig rund lief. 2022 sprang, an den hohen eigenen Ansprüchen gemessen, „nur“ Rang drei heraus, davor gab es sogar das Vorrunden-Aus (2020) und Rang vier (2018). Diesmal jedoch soll, da schlägt der dänische Ehrgeiz durch, erstmals das Championat des Kontinents gewonnen werden. Koste es, was es wolle. Frankreich und Spanien (Europameister von 2018 bzw. 2020) zählen ebenfalls zum Favoritenkreis, genau wie Titelverteidiger Schweden. Beim deutschen Team wird es, wie eingangs festgestellt, schon schwieriger. Die Tendenz ist klar: Nur noch vier Europameister von 2016 stehen im Kader. Dagegen sind sieben Spieler 22 Jahre alt und jünger – neben den vier Junioren-Weltmeistern von 2023 David Späth (Rhein-Neckar Löwen), Renars Uscins (Hannover), Nils Lichtlein (Füchse Berlin) und Justus Fischer (Hannover) sind das auch Juri Knorr (Rhein-Neckar Löwen), Julian Köster (Gummersbach) und Martin Hanne (Hannover). Fünf von ihnen haben noch nie ein großes Turnier im Männerbereich gespielt, Hanne hatte bis zu den Portugal-Tests Anfang 2024 nicht mal ein Länderspiel auf dem Konto. Ist das riskant? Gewiss. Und ziemlich mutig. Dies seien die besten Handballer, die er gerade finden kann, sagt Alfred Gislason, der deutsche Nationalcoach. Trotzdem ist manche Entscheidung aus der Not heraus getroffen: Könnte der Isländer tatsächlich aus den besten Handballern des Landes wählen, wäre vielleicht der ein oder andere Junioren-Weltmeister weniger dabei. Und auch kein zunächst mächtiger Block mit vier Spielern des Tabellensechsten der Bundesliga aus Hannover (Marian Michalczik fiel noch kurzfristig aus). Dafür aber vermutlich die Abwehrstrategen Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek (beide THW Kiel) oder die Rückraumspieler Fabian Wiede, Paul Drux (beide Füchse Berlin) und Luca Witzke (Leipzig). Dass sich vor großen Turnieren einige der Besten verletzen oder nicht rechtzeitig fit werden, ist gute deutsche Tradition. Andere wollen nicht mehr. Der letzte Titel für die deutsche Nationalmannschaft stammt aus dem Januar 2016, die letzte Medaille aus dem folgenden Olympia-Sommer: Nach dem Abschied von Dagur Sigurdsson gelang Christian Prokop noch einmal eine Halbfinal-Teilnahme. Danach gab es nichts mehr. Selbst ein Gislason, als Vereinscoach mit dem SC Magdeburg und dem THW Kiel ein Riese seines Gewerbes, lief dem absoluten Erfolg bislang hinterher. Schaut man sich die bisherigen Platzierungen unter seiner Regie an, liest sich das zumindest nicht atemberaubend. Bei Großturnieren langte es 2021 zu einem 12. und zwei Jahre später zum 5. Platz bei den letzten beiden Weltmeisterschaften, sowie Rang 7 bei der EM 2022. Bei den Olympischen Spielen von Tokio 2020 hingegen musste man bereits im Viertelfinale gegen Ägypten enttäuschend die Segel streichen. Nun also die Heim-EM. Der erste Stresstest für die junge Mannschaft könnte nicht größer sein: Am 10. Januar, wenn es losgeht, trifft Deutschland zum Auftaktspiel auf die Schweiz. Nicht in irgendeiner Handballhalle, sondern vor mehr als 50.000 Zuschauern im Düsseldorfer Fußballstadion – ein neuer Weltrekord für diese Sportart. Mehr Druck geht kaum, und vielleicht braucht ein deutsches Team dann umso mehr die Begeisterung im eigenen Land, die viele noch von den Heim-Weltmeisterschaften 2007 und 2019 kennen. Dass sich diese besonders gut wecken lässt mit jungen Handballern, die gerade selbst ein WM-Turnier gewonnen haben und bei jeder Aktion spielen, als gäbe es kein Morgen mehr, ist eine zulässige Vermutung. Dennoch, zu den Medaillenanwärtern zählen die Deutschen nicht. „Aus meiner Sicht gehört sie nicht zum Favoritenkreis”, sagt selbst Uwe Gensheimer, der möglicherweise beste Linksaußen, den dieses Land je hatte. „Es wird die Frage sein, ob sie die unbestritten vorhandene Qualität im gesamten Turnier und in jedem Spiel über 60 Minuten auf die Platte bringen.“ Nur dann wäre es möglich, mit Handball-Übermächten wie Dänemark oder Frankreich mitzuhalten. Auch Spielmacher Juri Knorr wich der Qualitätsfrage zuletzt in der „Frankfurter Allgemeinen“ nicht aus. Sportlicher Erfolg sei nicht planbar, sagte der 23-Jährige. „Natürlich haben wir eine talentierte Truppe, aber jetzt auch keine Mannschaft, die Weltklasse bewiesen hat in den letzten Jahren.“ Es sind zwei Dinge, die den Deutschen zur absoluten Spitze fehlen. Zum einen die Abwehr. Deren Agieren monierte Gislason nicht erst seit den letzten beiden Tests gegen Portugal. Eine der größten Baustellen dabei: die fehlenden Alternativen im Innenblock. Zum anderen: Es fehlen in den Reihen des DHB-Teams die absoluten Stars. Leute, die, wenn es sein muss, aufgrund ihrer individuellen Qualität auch einmal ein Spiel fast im Alleingang entscheiden können. „Sport Bild“ hat kurz vor EM-Beginn eine Top-Ten-Liste der besten europäischen Spieler aufgestellt. Darin finden sich zwar Namen wie Gidsel, Landin, Karabatic, Sagosen, Dujshebaev und Kristjansson. Wenig überraschend taucht aber kein einziger (!) Deutscher auf. Überraschend außerdem: Nur drei der zehn Top-Akteure stehen derzeit in der Bundesliga („die stärkste Liga der Welt“) unter Vertrag. Aus dem deutschen Team, das im Januar vor fünf Jahren Vierter in Dänemark wurde, ist auf zentraler Position nur Torwart Andreas Wolff geblieben. Uwe Gensheimer, Martin Strobel, Steffen Weinhold, Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler: alle Handball-Rentner oder auf dem Weg dahin. Über die letzten beiden Jahre hat Gislason seine Achse gebildet. Es schwingt Stolz mit, Julian Köster und Juri Knorr in jungen Jahren als Nationalspieler etabliert zu haben – und das in der bekannten Problemzone, dem Rückraum. Wolff, Golla, Knorr und Köster bilden „eine Achse, die in jeder Nationalmannschaft der
Wir waren auch mal gut
Wir waren auch mal gut Rudi Bartlitz Ein paar schwummrige Gedanken zur Zukunft des deutschen Sports. Kompakt Zeitung Im deutschen Spitzensport springen sie derzeit im Quadrat. Ein Misserfolg jagt den anderen. Die Fußballer (und Innen!) bewegen sich in erfolgloser Dauerschleife, sieht man einmal von Vize-EM-Titel der Frauen 2022 ab. Die Schwimmer (zumindest die im Becken) folgten bei der jüngsten WM mit der Minimalbilanz von einmal Bronze, und zuletzt setzten die Leichtathleten mit einem Salto Nullo beim Weltchampionat in Budapest dem Ganzen die Krone auf. Es war das schlechteste Abschneiden seit 40 Jahren. Ein absolutes Tief. Bleiben wir kurz bei der Leichtathletik, immerhin die Nummer eins unter den olympischen Sportarten. In den Wochen nach Budapest überboten sich Verantwortliche ebenso wie Fachleute anderer Couleur, Athleten und Ex-Sportler in Analyseversuchen. Da kam viel Wahres zusammen. Fast schon zu viel. Bemerkenswert die Parallelen, die zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland gezogen werden. „Ich glaube“, sagt die ehemalige Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius, „dass sich unsere Gesellschaft gewandelt hat. Wir schaffen Bundesjugendspiele ab, erste, zweite, dritte Plätze werden abgeschafft, es soll keinen Schnellsten und keinen Langsamsten geben.“ Auch im Fußball, das hat Nerius nicht gesagt, wollen sie bei den Jüngsten Ergebnisse und Tabellen liquidieren – wo soll da der Leistungsgedanke später herkommen? Auch die Elterngeneration habe sich geändert. Das sagt wiederum Nerius. Ergebnis: Die Kinder müssten sich nichts mehr erkämpfen, wollten gar nicht mehr besser werden, so die heutige. Es geht weiter. Die nächste und übernächste Generation mache ihm Angst, erklärte der Olympiazweite von 1996 im Zehnkampf und ARD-Experte, Frank Busemann. Mit dem „laschen Umgang“ in Deutschland schaffe man „keine Siegertypen“. In dieselbe Kerbe schlägt Diskus-Legende Robert Harting. „Es krankt überall“, konstatiert er. „Deutschland ist eigentlich fett, unkreativ und alt.“ Einer, der die gesamte Entwicklung in der Leichtathletik mit einigem Bedenken sieht, ist Paul Hünecke. „Uns fehlt ganz klar die Strategie“, analysiert der Leichtathletik-Chef des SC Magdeburg. Bereits 2019 bei der WM in Doha habe die Ampel „auf Gelb gestanden, jetzt zeigt sie klar auf Rot,“ sagte er im MDR. Es reiche nicht, „klein-klein an den Stellschrauben zu drehen, wir müssen das große Ganze neu machen.“ Es gelte sich dabei auf lange Zeitspannen einzustellen. Er nennt das Jahr 2032. Leicht vorwurfsvoll hält Olympiasiegerin Heike Drechsler dagegen, die Deutschen wollten eben immer nur Medaillen. Die Gegenfrage kann ihr nicht erspart bleiben: Wofür ist sie denn einst selbst (übrigens sehr erfolgreich) im blauen Trikot in die Gruben dieser Welt gesprungen? Für Reiseandenken? Fürs persönliche Amüsement des knallharten DDR-Sportchefs Manfred Ewald (Lieblingslied der alte Petry-Gassenhauer: „Bronze, Silber und Gold hab` ich nie gewollt“)? Also Vorschlag zur Güte: Wie wäre es denn mit einem flammenden Appell an IOC und Weltfachverbände, doch bitte, bitte endlich diese blöden Medaillen abzuschaffen. Eine Urkunde für jeden, das wäre viel gerechter. Und lebensbejahender. Keiner müsste mehr Tränen vergießen. Und keiner würde mehr mit dem Finger auf die Nationenwertung zeigen; die manche Zeitungen hierzulande ohnehin bereits abgeschafft haben. Ob nun in weiser Voraussicht oder ob Feigheit und Schönmalerei die Gedanken leiten, sei einmal dahingestellt. Keine Plaketten, es würde der Work-Life-Balance sehr dienen, niemand müsste sich mehr schinden – und alle wären zufrieden. Oder doch nicht? Nun begab es sich zu jener Zeit, würde es vielleicht in einem beliebten Hausmärchen heißen, dass sich der deutsche Sport ohnehin gerade auf der Suche nach einem Erfolgsrezept für die Zukunft gemacht hat. Irgendwie muss es einigen schon vor der jüngsten Negativserie gedämmert haben: So kann es nicht weitergehen. Wir waren doch auch mal gut. Es bestehe „Reformbedarf“, wird das heute verbrämt genannt. Ein „Strukturwandel“ müsse her, wurde gefordert. 2016 war das. Ende 2022, also geraume sechs Jahre später, muss man konstatieren, dass alle Suche nicht dazu geführt hat, dass der „Abwärtstrend bei der deutschen Medaillenbilanz gestoppt werden konnte oder sich Rahmenbedingungen für Athletinnen und Athleten ausreichend verbessert haben“. Endlich mal deutliche Worte. Oder nur ein Versehen? Also setzten der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und das Innenministerium, wie das hierzulande so üblich ist, erneut Kommissionen ein, um zu beratschlagen, was zu tun sei. Bevor das angegangen wird, scheint es angeraten, erst einmal eine grundsätzliche Diskussion zu führen zum Thema: Was will der deutsche Leistungssport überhaupt? Runtergebrochen auf die simple Frage: Will er oben mitspielen, oder will er – vielleicht im falsch verstandenen alten olympischen Geist – einfach weiter nur dabei sein. Aus der Beantwortung dieser Frage – die hierzulande seit fast einem Jahrzehnt vor sich hergeschoben wird – würde sich jedoch alles andere ableiten. Sollte es wirklich nur ums Mitmachen gehen, könnte der Artikel an dieser Stelle kurz und schmerzlos enden. Aber das wird keiner öffentlich einräumen. Es steht daher also zu befürchten, es wird ein prinzipielles „sowohl als auch“ oder ein unmissverständliches „jein“ geben. Und dann sind da noch jene, die fordern, dem deutschen Sport doch „realistische Ziele“ zu setzen. So wie es mancher (aus Überzeugung die einen, aus purer Verzweiflung die anderen) in den Nach-Budapester-Tagen schon getan hat. Sport-ethisch formulierte Ziele, in denen das Wort Medaillen am besten gar nicht mehr vorkommt. „Wir sind uns im Sport und mit der Politik einig, dass der deutsche Leistungssport neue, innovative Impulse braucht“, sagt DOSB-Präsident Thomas Weikert: „Wir wollen eine Trendwende bei den internationalen Erfolgen unserer Athletinnen und Athleten schaffen.“ Dazu soll nun eine neue Sportagentur geschaffen werden. Damit sollen Kräfte gebündelt werden, so Weikert, „indem wir Steuerung und Förderung erstmals aus einer Hand ermöglichen. Das Sportfördergesetz schafft dafür die notwendige Planungssicherheit und Kontinuität für die Sportverbände. Damit erreichen wir mehr Flexibilität im System, Bürokratie wird abgebaut und unsere Verbände können sich wieder auf das konzentrieren, was im internationalen Wettbewerb wichtig ist: die langfristige Entwicklung von Spitzenleistungen“. Wie dazu die angedachte Reduzierung der finanziellen Bundesmittel im neuen Haushalt (von rund 300 Millionen Euro auf 273 Millionen) passen soll, bleibt schleierhaft. Jene Auguren, die die Talfahrt des deutschen Spitzensports längst noch nicht erreicht sehen und den Tiefpunkt ausgerechnet im nächsten Jahr erwarten, dem Jahr der Olympischen Spiele von Paris, könnten also recht behalten. Seite 36, Kompakt Zeitung Nr. 240