Von Rudi Bartlitz | Erwartungen hat es im Magdeburger Handball eigentlich zu allen Zeiten gegeben. Egal, ob in den Siebzigern, den Achtzigern oder nach der Jahrtausendwende. Und sie wurden damals meist erfüllt, zuweilen sogar weit übererfüllt. Selbst in jener Phase zwischen 2008 und 2015, als es für die Grün-Roten nicht reichte, in der Beletage mitmachen zu dürfen, schwand die Hoffnung nie vollends. Nun ist sie zurückgekehrt. Mit voller Wucht sozusagen. Dreimal nacheinander Dritter in der Liga, 2021 Gewinn der European League und der inoffiziellen Klubweltmeis-terschaft – da muss, so ist aus den Kreisen der Fans wie auch von Experten wie Bundestrainer Alfred Gislason („Der SCM kann nach den vorangegangenen dritten Plätzen diesmal vielleicht sogar zwei Schritte nach vorn machen.“) zu hören, im Titelkampf um die deutsche Krone doch etwas drin sein.
Nach den Ereignissen der vergangenen Tage sind die Erwartungen nicht gerade kleiner geworden. Im Gegenteil. Der Höhenflug von 14 Siegen in 14 Pflichtpartien hält an. Nach dem 29:27 (16:15) am Sonntag in der Schlacht beim Rekordmeister THW Kiel, die so etwas wie eine Reifeprüfung darstellte, stehen die Wiegert-Schützlinge mit makelloser Weste (16:0 Punkte) da. Ihr Rezept könnte einer alten englischen Fußball-Weisheit entlehnt sein: Run and Gun, also Rennen und Schießen. Und natürlich treffen. Die Ankündigung von Linksaußen Lukas Mertens „Wir haben noch viel im Tank“ dürfte auf die Konkurrenz in diesen Tagen wie ein lässig hingeworfener Fehdehandschuh wirken. Wer in Kiel gewinne, so Ex-Löwen-Trainer Martin Schwalb, „der ist für höchste Aufgaben bereit“. Selbst der bei Erwartungen und Prognosen stets zurückhaltende Bennet Wiegert meinte, in den letzten eineinhalb Monaten habe sein Team die Sache „sehr gut gemacht“. Genau da wurde nämlich der Grundstein für Erfolge wie jetzt im Topspiel gelegt.
Kurzer Blick zurück. In einem begeisternden Finale besiegte der SC Magdeburg Anfang Oktober im saudi-arabischen Jeddah den FC Barcelona 33:28 und wurde zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte Sieger des Super Globe, was de facto einer Klub-Weltmeisterschaft gleichkommt. Mit teils acht Toren führte Wiegerts Team, erlebte gegen den Champions-League-Sieger einen ziemlich entspannten Abend, weil vieles klappte. „Wir wussten auf alles eine Antwort“, sagte Nationalspieler Philipp Weber. Jeder der eingesetzten Spieler hatte eine Antwort, müsste man ergänzen, denn es gab zwölf Magdeburger Torschützen – der Coach nutzte die ganze Breite seines Kaders. Das Rezept für diese Spielzeit scheint aufzugehen.
Normalerweise ist der Super Globe für europäische Teams bis auf ein schwieriges Spiel im Finale ein „Spaziergang“, weil die anderen Kontinentalmeister eigentlich kein Maßstab sind. Diesmal aber war neben Barcelona Aalborg Håndbold als aufstrebendes Team dabei, und so stand der dänische Champions-League-Finalteilnehmer dem SCM im Halbfinale im Weg. Davor hatte der SC Magdeburg schon zwei Spiele zu absolvieren, und die Leistung beim hohen Sieg im Achtelfinale über die Amateure aus Sydney hatte dem Perfektionisten Wiegert überhaupt nicht gefallen. Im Viertelfinale gegen al-Duhail aus Katar sah der Coach dann die geforderte Ernsthaftigkeit.
„Das Geld hat mich nicht interessiert. Ich wollte, dass wir uns einen Namen in der Welt machen. Gegen den FC Barcelona ein Pflichtspiel zu absolvieren, diese Erfahrung haben wir ganz lange nicht machen dürfen. Es war wichtig für uns, uns so zu präsentieren. Die Trophäe ist mir persönlich mehr wert als die 400.000 Dollar. Aber für den Verein ist das nach der Pandemie wichtig”, erklärte Wiegert gegenüber Sky. „Es war ein Titel, das möchten wir alle. Ich möchte diesem Verein und dieser Stadt etwas zurückgeben. Das haben wir damit gemacht”, schloss sich Torjäger Michael Damgaard an.
Ruhig und vergleichsweise besonnen nahm Wiegert den Erfolg hin. Er hatte vor dem Endspiel von einer „Jahrhundertchance“ gesprochen. Die nutzte sein Team und darf sich nun Vereinsweltmeister nennen. Das war zuvor nur dem THW Kiel und gleich zweimal den Füchsen Berlin gelungen. In diesem Rausch darf nicht vergessen werden, dass der SCM schon knapp fünf Monate vorher international mit einem Titel für Furore gesorgt hatte. Da gewann er das Finale der erstmals ausgetragenen European League, der früher als EHF-Cup firmierte, gegen den ewigen Bundesliga-Konkurrenten Füchse Berlin.
Eine weise Entscheidung hatten Wiegert und Geschäftsführer Marc Schmedt schon vor der Saison getroffen. Die Macher erweiterten die Gruppe der Handballprofis auf 17 Spieler; auch eingedenk der Tatsache, dass Linksaußen Matthias Musche (Meniskusschaden und andere schwere Verletzungen) noch geraume Zeit fehlen wird. „Eine Lehre aus der vergangenen Saison ist, dass man einen großen Kader benötigt, um die Beanspruchung in drei Wettbewerben zu überstehen“, sagte Wiegert. Gerade am Kreis und im Rückraum haben sich die Magdeburger verstärkt – dort ist der Verschleiß am größten.
Um in Meisterschaft, DHB-Pokal und in der European League auf der Höhe zu sein, haben Schmedt und Wiegert nun eine ausgeglichene Mannschaft, die auf allen Positionen doppelt und auf manchen gar dreifach besetzt ist. So stehen, wenn alle gesund sind, beispielweise für die beiden originären Rechtshänder-Positionen im Rückraum gleich fünf Mann parat: Marko Bezjak, Philipp Weber, Chris-tian O‘Sullivan, Michael Damgaard und Gisli Kristjansson. Wiegert hat also nicht nur die Qual der Wahl, er kann dosieren und die ihm für den jeweiligen Gegner (und der Spielsituation) am geeignetsten erscheinende Konstellation wählen. Genau das war auch gegen Kiel ein Erfolgsfaktor. Ähnlich sieht es am Kreis aus: Hier stehen für das „Eins-aus-Drei-Spiel“ Magnus Gullerud, Magnus Saugstrup und Moritz Preuss zur Verfügung.
Dieser hochkarätig besetzte Kader ist denn auch so etwas wie ein Schlüssel, will man den Geheimnissen des SCM ein wenig auf die Spur kommen. „Für jeden, der ausgewechselt wird, kommt gleichwertiger Ersatz“, analysiert der Bundestrainer. Ein anderes Stichwort ist, so scheint es, eine neu gewonnene Stabilität. „Der SCM spielt voller Selbstbewusstsein“, meint Flensburg-Coach Maik Machulla. „Sie bestrafen Fehler der Gegner gnadenlos.“ Kapitän Chris-tian O‘Sullivan sieht die Unterschiede zu früher hauptsächlich in den Resultaten: „Wir haben die engen Spiele für uns entschieden, das ist uns im Vorjahr nicht gelungen. Da haben wir entweder hoch gewonnen oder gefühlt mit einem Tor verloren.” Cleverer seien die Magdeburger geworden. Einig sind er und sein Trainer darin, dass die Zuschauer eine wichtige Rolle spielen. „Hier mit oder ohne Fans zu spielen ist ein Riesenunterschied”, sagt O‘Sullivan. Wiegert ist überzeugt, dass „wir letztes Jahr einer unserer größten Stärken beraubt wurden – diese Halle, dieser Heimvorteil. Diese Halle kann uns natürlich tragen.” Dennoch, so der 40-Jährige ob der gegenwärtigen Hochgefühle, sollte das Team weiter demütig bleiben. Wichtig sei jetzt eine „ordentliche Periodisierung“. Zum Ende des Jahres hin will er einen möglichen teilweisen Abbau der Kräfte jedenfalls nicht ausschließen.
Der Gilde der Warner schloss sich Ex-Bundestrainer Heiner Brand an. „Die Leute in Magdeburg erwarten einiges von dieser Mannschaft. Da kann auch schnell eine Enttäuschung kommen”, sagte der Sky-Experte. Einer wie Michael Damgaard lässt sich von derartigen Äußerungen den Optimismus nicht nehmen. Auf die Frage, warum das so sei, antwortet er lakonisch: „Wir haben viel trainiert.“ Sein schelmisches Lächeln dabei ist nicht zu übersehen …