Eskapismus – die Flucht vor der Wirklichkeit

Gustav Klimt (1862-1918), einer der bedeutendsten Vertreter des Jugendstils und Mitbegründer der Wiener Secession. Stoclet-Fries – Das Warten – Der Lebensbaum – Die Umarmung (1905-1909). Der Lebensbaum von Gustav Klimt entstand während der Goldenen Periode des Künstlers und ist eines seiner bekanntesten Werke aus einer langen und illustren Karriere. Das Gemälde Lebensbaum setzt den symbolischen Ansatz des Künstlers fort, indem es ein Thema aufgreift, das in vielen Teilen der historischen Literatur zu finden ist und meist das Leben und den Fortschritt darstellt.

Zuerst einmal die erfreuliche Nachricht von der vergangenen Leipziger Buchmesse, dort übertraf die Besucherzahl bei Weitem die Erwartung. Aber es gibt auch eine kritische Sicht in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) auf diese. Danach zieht sich der Literaturbetrieb allmählich in sich selbst zurück. Letzteres wird in einem Artikel mit dem Begriff Eskapismus ausgedrückt. Ich muss es gestehen, dass mir dieser bisher nicht geläufig war. Was die Buchmesse allerdings mit Eskapismus zu tun haben soll, darauf komme ich später zurück.

 

Eskapismus habe ich spontan mit den ISMUS-Ideologien assoziiert, von denen eine den Menschen den Himmel auf Erden verspricht. Offen bleibt dann allerdings noch, was es mit dem „Eskap“ auf sich hat. Dieses hat seine Wurzel im englischen Wort „escape“, das in diesem Zusammenhang am besten mit „Flucht“ übersetzt wird. Mit dem Eskapismus ist aber nicht das Flüchten von Verfolgten aus einem diktatorisch-geleiteten oder einem mit Krieg überzogenen Land gemeint. Stattdessen zielt der Begriff auf die Flucht vor einer Realität ab, von der Wirklichkeit oder der realen Welt, um anderswo ein neues Zuhause in einer imaginären, besseren Wirklichkeit zu finden. Damit ist eine eskapistische Weltsicht der Gegensatz zu einer realistisch-ausgerichteten.     

 

Anschaulich wird der Eskapismus am Verhalten von Einzelpersonen, aber auch durch politische Weichenstellungen oder Strömungen in der Kunst und Literatur. Ein Beispiel dafür ist der legendäre bayerische König Ludwig der II., der sogenannte Märchenkönig (1845 bis 1886). Der hatte die ausgeprägte Neigung von anstrengender Regierungsarbeit in die romantische Musik von Richard Wagner zu flüchten. Als politischen Eskapismus kann man auch das Verhalten der französischen und englischen Verhandlungspartner Daladier und Chamberlain beim Münchner Abkommen von 1938 bewerten. Durch deren Realitätsflucht (Appeasement-Politik) angesichts der von Hitler verfolgten Politik nach seiner Ernennung zum Reichskanzler kam es zur Besetzung des zur Tschechoslowakei gehörenden Sudetenlandes durch die Wehrmacht, und danach zum 2. Weltkrieg.

 

Zum Eskapismus kommt es in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, wenn sich noch keine neue Zukunftsperspektive abzeichnet. Das wird besonders in Literatur und Kunst sichtbar, weil dort Traumwelten entwickelt werden können, die es erlauben sich von der nüchternen Alltagsrealität abzusetzen. So geschah es bei der Entstehung der deutschen Romantik, die als Gegenbewegung zu der auf die Vernunft ausgerichteten Philosophie der Aufklärung entstanden ist. Die Romantiker suchten nach der „Blauen Blume“. Es war wohl der wolkenlose blaue Himmel oder der Anblick des blauscheinenden Meeres, der bei diesen Literaten die „Blaue Blume“ als das Symbol für die Sehnsucht nach der Ferne, nach ewiger Liebe, nach Grenzenlosigkeit, der Freude am Wandern, aber auch des Unerreichbaren, erschaffen hat. Nach ihrer Sicht verschmelzen in der „Blauen Blume“ Mensch, Natur, Geist sowie das Streben nach Natur- und Selbst-Erkenntnis miteinander.

 

In Europa gewannen nach den gescheiterten Revolutionen 1848 liberale Aktivitäten immer mehr an Einfluss. Es brachen aber auch zunehmend Nationalitätenkonflikte aus. Mit der Reichgründung 1870/71 entwickelte sich in Deutschland rasant die industrielle Warenproduktion und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. In der Österreichischen-Ungarischen Monoarchie verstärkte sich die Erosion des Vielvölkerstaates am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Wissenschaft gelangte zu einem neuen Verständnis der Natur und der menschlichen Psyche (Freud). Diese Umbrüche löste Gegenreaktionen aus. So wurde in den Rückzugsorten und der abgeschiedenen Atmosphäre der Wiener Kaffeehäuser nach geistiger und kultureller Neuorientierung gesucht. In der Kunst führte das zur Sezession (Abspaltung), der österreichischen Form des Jugendstils. Damit wurden in der Architektur, der Bildhauerei und des Kunstgewerbes bevorzugt Vorbilder aus der Natur zu dekorativen Stilelementen, wie z.B. Pflanzen. Es sind vor allem die Bilder von Gustav Klimt, die das Suchen nach neuer Orientierung, aber auch das Flüchten in imaginäre Welten ausdrücken.

 

Der oben angesprochene Artikel in der NZZ über die Buchmesse war überschrieben mit: „Leipzigs Publikum feiert den Eskapismus“. Gemeint ist damit, dass die neu vorgestellte Literatur im Bereich der Fantasy-, Romanik- und Unterhaltungsliteratur anwächst, im krassen Gegensatz zu den Büchern, die sich mit aktuellen Brandherden und deutscher Geschichte beschäftigten. Vor dem Hintergrund, dass bei der Bundestagswahl der AfD-Wähleranteil 38,5 Prozent in Sachsens betrug, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Heute fördern aber auch die Medien den Eskapismus. Abschließend noch eine psychologische Bewertung zum Eskapismus. Eine kurzeitige Liaison mit diesem muss für einen Einzelnen zu keiner Sackgasse werden, denn von dieser können auch durchaus positive Wirkung ausgehen. So kann ein zeitlich befristetes Aussteigen aus der realen Welt das Kräftesammeln fördern, um danach mit neuer Tatkraft Aufgaben in der der realen Welt anzugehen. Dadurch kann eine kurze Auszeit von der Realität zu einer Hilfe werden, sich selbst wiederzufinden.  

 

Peter Schönfeld

Nr. 278 vom 30. April 2025, Seite 14

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