Chancen ergreifen
Tina Heinz
Die Sonne schickt ihre Strahlen an diesem sonst kühlen März-Tag durch die Fensterscheiben des Restaurants Hoflieferant am Magdeburger Fürstenwall, malt Muster auf die Servietten und bricht sich in den Weingläsern. Obwohl die Vegetation nur zarte Anzeichen eines Erwachens zeigt, lässt sich erahnen, wie üppig später im Jahr hier im Garten unterhalb des Doms alles grünen und blühen wird. Josephine Clemens (Foto: Peter Gercke) sitzt an einem der Fensterfront nahen Tisch – mit Laptop, Papier und Stift bereit für die Arbeit. Am Montag und Dienstag hat das Restaurant geschlossen und die Inhaberin kann sich in Ruhe Aufgaben widmen, die ein wichtiger Bestandteil ihres Arbeitsalltags geworden sind: sich um die Buchhaltung kümmern, Dienstpläne schreiben, Bestellungen erledigen, Veranstaltungen planen. Wenn nötig, hilft sie auch im Service aus. „Das ist eine schöne Abwechslung und der Kontakt zu unseren Gästen ist mir auch wichtig“, sagt Josephine Clemens.
Dass sie einmal im Bereich der Gastronomie arbeiten würde, war für die 40-Jährige gar nicht so abwegig. „Mein Papa war in Halberstadt, wo ich herkomme, auch als Gastronom tätig. Damit bin ich aufgewachsen und als ich alt genug war, habe ich dort ausgeholfen und mir in den Ferien etwas dazuverdient. Und ich konnte mir durchaus vorstellen, auch mal in diese Richtung zu gehen – irgendwann, viel später“, erzählt sie und lacht. Denn aus „viel später“ wurde ziemlich bald und ziemlich spontan. „Wie so oft in meinem Leben habe ich eine Chance ergriffen, die sich mir geboten hat“, resümiert Josephine Clemens. Bereits zum Ende ihres Studiums der Betriebswirtschaft und des Internationalen Managements in Magdeburg hatte sich eine solche Chance ergeben, als an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität ein wissenschaftlicher Mitarbeiter gesucht wurde. „Ich habe mich in Magdeburg wohlgefühlt, mochte die Uni, mochte das Team am Lehrstuhl und hatte hier einen Freundeskreis aufgebaut. Also bewarb ich mich auf die Stelle, wurde angenommen und arbeitete sechs Jahre im Bereich Forschung und Lehre.“
Eine gute Erfahrung – sagt die Restaurant-Inhaberin heute – aber auf keinen Fall eine Berufung oder ein Job fürs Leben. Doch was Josephine Clemens anfängt, bringt sie zu Ende. Mit dem Auslaufen ihres Vertrags an der Universität hätte sie ihre Forschung zum Thema „Vertragsdesign in Lieferketten mit stochastischer Produktionsausbeute“ mit einer Promotion abschließen wollen. Dann funkte der Hoflieferant, damals noch unter dem Namen Fürstenwall, dazwischen. „Es war fast alles fertig. Ich hätte nur die einzelnen Bausteine zu meiner Dissertation zusammenfügen müssen – das war im März 2015. Zum selben Zeitpunkt habe ich erfahren, dass die Inhaber des Fürstenwalls Nachfolger suchen“, schildert die 40-Jährige. Also wurde die Promotion auf Eis gelegt und nur zwei Monate später das Restaurant unter dem Namen Hoflieferant eröffnet.
Bereut hat sie diese Entscheidung nie. Und mit etwas Verspätung konnte sie im Sommer 2019 – hochschwanger – ihre Doktorarbeit abgeben und verteidigen. „Es war mir sehr wichtig, dass ich dieses Kapitel zu einem vernünftigen Abschluss bringe.“ Auf das Kürzel Dr. vor ihrem Namen legt sie allerdings keinen großen Wert. Viel wichtiger ist ihr, dass sie in ihrem Restaurant – wo saisonale Produkte aus der Region, teils traditionell angehaucht, teils neu interpretiert, im Fokus stehen – ihre Leidenschaft ausleben kann. Zu ihrem Team gehören inzwischen vier Köche, drei Servicekräfte, saisonale Aushilfen und ein Auszubildender. „Seit 2019 sind wir Ausbildungsbetrieb, auch das war für uns ein wichtiger Punkt“, sagt Josephine Clemens. Überhaupt hat 2019 positive Spuren hinterlassen: neben der Doktorwürde erhielt die Wahl-Magdeburgerin eine Auszeichnung zur Unternehmerin des Jahres.
Dann kam der Stillstand. „Die vergangenen drei Jahre waren eine große Herausforderung“, schildert die Restaurant-Inhaberin, ohne resigniert zu klingen. „Aber auch dabei haben sich Chancen ergeben. Wir konnten einiges auf die Beine stellen – von Sonntagsbraten im Lockdown bis hin zum Packen von Picknick-Körben – und haben uns über langfristige Projekte Gedanken gemacht, wie die Umgestaltung des oberen Raumes und unsere Außenwerbung in Vereinbarkeit mit dem Denkmalschutz. Das Beste war jedoch, dass ich viel Zeit für meine Familie hatte.“
Seite 18, Kompakt Zeitung Nr. 228