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Kleine Typologie der Midlife-Crisis

Hanna Diefert

Von Aufbruchs-, Passions- und Akquise-Typen sowie der Generation Z

Aufbruchs-Typen
Sie sprühen nur so voller Tatendrang. Das Voltaren-Gel verschwindet schnell im hintersten Teil des Apothekenschranks und im Internet wird nach neuen Reise- und Aktivitätszielen gesucht. Ja, der Aufbruch in die zweite Lebenshälfte kann auch wörtlich genommen werden. Auf einmal ist der Gedanke, eine Kreuzfahrt zu machen oder im Gebirge der Rocky Mountains zu wandern, verführerischer, als im wohlverdienten Urlaub der „Couch-Potato“ zu sein. Als wahrer Aufbrecher befragt man natürlich erstmal Google. Die Suchmaschine spuckt bei der Recherche nach Fernwehzielen folgendes aus: „Karriere ist gemacht, Geld im Kasten, die Ehe im Eimer, Kinder aus dem Haus – jetzt ist die Zeit für einen neuen Kick gekommen. Hier ein paar Orte, an denen sich die Midlife-Crisis austoben kann.“ Von Route 66 bis hin zum „Bling-Bling-Trip“ nach Dubai ist alles dabei. Aber mal ehrlich. Spätestens wenn die Aufbrecher auf ihrem Selbstfindungstrip das erste Mal die heimatliche Nähe vermissen, ist der Pfad der Findung bereits verloren. Beim Übertreten der heimischen Türschwelle wird ihnen dann wieder bewusst, dass zu Hause der einzige Sehnsuchtsort bleibt. Übrigens: Für das Verreisen muss man nicht unbedingt den nächsten Flug buchen. Ein gutes Buch tut es auch. So spart man Geld und Streit in der Partnerschaft.

Passions-Typen
Passions-Typen würden sich wahrscheinlich wahnsinnig gut mit den Aufbruchs-Typen verstehen. Auch sie verspüren den Drang, etwas Neues auszuprobieren, allerdings zieht es sie dafür nicht in fremde Länder (es sei denn, sie sind eine Mischung aus Aufbruchs- und Passions-Typen). Wie der Name es schon verrät, streben sie nach der Passion. Aber Passion wofür? Nun, das ist eigentlich ziemlich einfach. Ihnen reicht es nicht mehr, „nur“ joggen zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Es braucht ein neues Hobby, eine neue Leidenschaft. Am besten etwas, bei dem die Gleichaltrigen nicht mithalten können und mit dem gezeigt werden kann: Ich kann es noch! Oder vielmehr: Meine Knochen können es (noch)! Meist führt das jedoch weniger zu großem Staunen, sondern vermehrt zu Arztbesuchen und es wird klar, dass Einrad-Fahren und Stepptanz wahrscheinlich doch nicht die besten Ideen waren. Vielleicht wird es doch besser Briefmarken-Sammeln oder Tarot-Karten-legen? Mit den Tarot-Karten können Sie sich wenigstens selbst eine vielversprechende zweite Lebenshälfte legen.

 

Akquise-Typen
Akquise-Typen wollen weder Neues erleben, noch zeigen, dass sie ihren Altersgenossen körperlich überlegen sind. Sie verstehen es bestens, die Wirtschaft voranzutreiben. Ein altes Vorurteil besagt wahrscheinlich, dass damit nur die weiblichen    Exemplare gemeint sind, doch weit gefehlt. Während sich die Frauen mittleren Alters gern einem Umstyling unterziehen, was neben Haaren und Make-up auch die komplette Neuausstattung des Kleiderschranks beinhaltet, ziehen Männer wohl gern einen Besuch beim Tätowierer oder Motorradladen vor. Vielleicht wird es auch der neue Sportwagen? Immerhin, die Kinder sind aus dem Haus, also steht einem Zweisitzer nun nichts mehr im Wege. Ob das Ganze finanziell so gut hinhaut, sei mal hintenangestellt. Falls Sie also irgendwann mal von einer unbekannten Rothaarigen mit doch vertrauter Stimme angesprochen werden, dürfen Sie sich nicht wundern. Und vor allem wissen Sie, wenn der beste Kumpel mit einem nagelneuen Schlitten zur Probefahrt vorbeikommt: Es ist nicht der Wohlstand ausgebrochen, sondern die Midlife-Crisis!

 

Midlife-Crisis und Generation Z
Generation Z befasst sich mit allem. Klimaklebern, TikTok-Trends und mit dem Zähmen der stetig fortschreitenden künstlichen Intelligenz. Nur die eigene, persönliche Zukunft – Gott bewahre, ich bin doch erst Mitte zwanzig – wird gern mal unter den Tisch gefegt.Sie wollen ständig die Welt retten, kämpfen für eine bessere Zukunft und wollen nachfolgenden Generationen ein gesundes Leben ermöglichen. Aber wenn es um das eigene Leben geht, bleiben sie häufig still. Ja, Generation Z ist für vieles bekannt und wird doch des Öfteren belächelt. Midlife-Crisis, davon wollen sie eigentlich nichts hören. Und doch: Die „Ältesten“ von ihnen stehen kurz vor der 30, auch wenn sie das gern mal nicht wahrhaben wollen. Bleibt also nicht mehr viel Zeit bis zum „Aufbruch in die zweite Lebenshälfte“. Gedanken macht sich trotzdem keiner drum, warum auch? „Go with the flow“ oder so …

 

Pragmatiker würden wahrscheinlich sagen: „Die wollen sich gar keine Gedanken um ihre Zukunft machen, denn sie leben ja in Zeiten von sozialen Ungleichheiten, Klimawandel (nicht Krise), politischen Konflikten und wirtschaftlichen Unsicherheiten.“ Guter Versuch, aber knapp daneben.

 

Wenn man wissen möchte, warum sie die Sache mit der Zukunft anders sehen, dann muss man wirklich etwas tiefer graben. Sie wollen eben keine „Digital Natives“ sein. Sie könnten ja gleich ChatGPT fragen, wie es um die Zukunft bestellt sei. Was viele belächeln, stellt jedoch ein ernstes Problem dar. Sie sind zwar mit den digitalen Medien groß geworden, aber eine Hilfe ist das nicht immer. Durch den ständigen Zugang zu Informationen und Nachrichten über soziale Medien sind sie einer wahren Reiz- und Informationsflutung ausgesetzt. Das kann es einem wirklich schwer machen, das Wichtige vom Unwichtigem zu trennen.

 

Was langfristige Entscheidungen betrifft, sind sie sowieso etwas „anders“ als die Generationen vor ihnen. Jedenfalls reden sie sich das gern ein. Sie sind schlicht und einfach sprunghaft. Vielleicht hat jemand heute Lust, eine Familie zu gründen. Aber zwei Tage später, wenn man das Bahnabteil mit einem schreienden Baby teilen muss, kann sich die Meinung schon wieder geändert haben. Wozu also den Kopf zerbrechen?

 

Um den Gedanken auf einer tieferen Ebene fortzuführen: Vielleicht ist das auch ein Grund, wieso die Generation Z niemals in eine Midlife-Crisis kommen kann. Wir machen uns Sorgen um die Zukunft aller, nicht jedoch um die eigene. Wie sollten sie in die eigene Persönlichkeitskrise hineinrutschen, wenn sie sowieso in jeden Tag neu hineinleben? Die Geschichte zeigt, dass dies Generationen zuvor auch schon taten. Die Null-Bock-Vertreter der 1970er und 1980er Jahre z. B.


Die Zettler denken, dass sie für Vielfalt stünden, für facettenreiche Interessen und mehr Offenheit. Das Motto „YOLO“ (engl. Phrase: you only live once – du lebst nur einmal) mag heute vielleicht veraltet und „voll nach 2016“ klingen, aber es ist trotzdem einer ihrer Grundgedanken, obwohl das vor ihnen die älteren auch schon wussten. Wahrscheinlich haben sie zum Aufbruch in die zweite Lebenshälfte bereits so viel ausprobiert, dass ihnen die Vielfalt schon zu viel erscheint. Vielleicht werden sie sich dann nicht fragen „Was wäre, wenn ich …“, denn sie haben in der ersten Lebenshälfte bereits getan, wonach ihnen die Nase war. Eine persönliche Sinnkrise verhindert der Gedanke nicht.

 

Selbst wenn ein Ehe zerbrechen würde und die Arbeit keinen Spaß machte, Vertreter der Generation Z glauben, dass sie nicht aus der Bahn geworfen werden könnten. Sie meinen, sich dann einfach etwas Neues zu suchen. Einfach weil sie es könnten. Jedenfalls glauben sie das. Sie müssen in der zweiten Lebenshälfte niemandem zeigen, wie gut sie es draufhätten. In der Generation Z werden private Krisengedanken verdrängt. Es ist eine Illusion, dass keine Probleme entstünden. Und es wäre genauso illusorisch zu glauben, man könnte von midlife-crisis-ähnlichen Phänomen verschont bleiben.

Seite 18, Kompakt Zeitung Nr. 237

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