Stadtmensch: Ein Mosaik der Sprachlosigkeit
Lars Johansen
Es sind ein paar Schlaglichter am Anfang dieses Jahres, die mich durchrütteln und mir zeigen, dass wir große gesellschaftliche Probleme haben. Vielleicht hängen all diese Vorgänge miteinander zusammen, aber vielleicht bringe ich auch Ereignisse zusammen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ob ich nun richtig oder falsch liege, darum geht es nicht. Es sollen nur Denkanstöße sein.
Da wird einem deutschen Wirtschaftsminister von einem aufgehetzten Mob aufgelauert, der sichtbar nicht reden, sondern handeln möchte. Das erinnert an eine Lynchmeute in alten amerikanischen Western. Die Fähre mit dem Minister kann nicht anlegen, weil von den Sicherheitskräften seine und die Sicherheit der übrigen Fahrgäste nicht garantiert werden kann. Laut dem Betreiber des Schiffs ist das in 140 Jahren noch nie passiert. Sahra Wagenknecht nennt die Reaktion des Ministers darauf peinlich. Er würde sich als Opfer inszenieren. Die Bilder des Vorgangs sprechen eine andere Sprache. Da wird ganz nebenbei zum Mord aufgerufen. Das erinnert an den Angriff auf das Capitol in den USA am Ende der Regierungszeit von Donald Trump, der zu diesem Sturm aufgerufen hatte und sich danach halbherzig davon distanzierte. Der so genannte Wahlbetrug, welchen er beklagte, hat niemals stattgefunden. Aber darum ging es nie. Er wurde behauptet und in dieser postfaktischen Gesellschaft reicht die Behauptung aus, wenn sie nur laut genug ausgestoßen, oft wiederholt und geteilt wird. Dass es Tote gab, hat Trump nie bedauert. Und es damit legitimiert. Er wird vielleicht der nächste Präsident der USA sein. Und dann möglicherweise der vorläufig letzte, der demokratisch gewählt wird.
Da überfällt die Hamas in Israel friedliche Menschen, die in einer Weise sexuell missbraucht und verstümmelt werden, wie es so furchtbar vermutlich noch nie vorgekommen ist. Sogar Säuglinge sind betroffen, alle Grenzen der Menschlichkeit fallen hier. Trotz der klaren gut recherchierten Faktenlage wird es von Menschen auch in Deutschland geleugnet. Es sei nicht so schlimm. Die Gewalt sei akzeptabel, da sich der israelische Staat unmöglich gegenüber den Palästinensern verhalten habe. Außerdem sei die gute Recherche falsch. Man weiß es vom Hörensagen besser.
Da werden in Deutschland in der Silvesternacht Feuerwehrleute und Sanitäter angegriffen. Sie seien selbst schuld, wenn sie diese Jobs hätten, hieß es in sozialen Medien. Auch diese Gewalt wird legitimiert. In Magdeburg zünden über einhundert Menschen eine Barrikade mitten in Stadtfeld auf der Straße an, welche die Straßenbahnschienen beschädigt. Es herrscht Krieg. Oder ist es ein Dummejungenstreich? Dazu sind die dummen Jungen ein wenig zu alt.
Wenn Traktoren den Verkehr lahmlegen, dann wird das gerne legitimiert, weil das Anliegen der Bauern ein gutes ist. Da kann der sachsen-anhaltische Agrarminister nicht hintanstehen, sondern lobt sie dafür. Dass sein Parteifreund in Nordrhein-Westfalen sich nicht anschließt, sondern warnt, weil er weiß, dass es nicht um Gerechtigkeit geht, verschwindet in der Gemengelage schon mal. Wenn die Letzte Generation vor dem Klimawandel warnt, der auch das aktuelle Hochwasser bedingt, dann taucht der bayerische Ministerpräsident auf. Denn in Bayern gibt es für deren Blockaden bis zu fünf Monate Knast. Das passiert Bauern sicher nicht, denn nach einer Vorstrafe würde es eben schwer mit den Agrarsubventionen werden.
Als ganz normal gelten mittlerweile die Galgen für die Regierungsmitglieder auf Demonstrationen so genannter kritischer Bürger. Die bedrohen gerne mal Menschen, die gegen Corona geimpft wurden. Als in der Coronazeit ein Mann in einer Tankstelle einen Angestellten erschoss, weil er ihn an die Maskenpflicht erinnerte, da wurde er in den sozialen Medien oft dafür gelobt. Der Attentäter von Halle hatte genug Follower, die sich seine Taten zeitgleich im Internet anschauten. Die Videos hatten hohe Klickzahlen.
Immer öfter legen ehrenamtliche Lokalpolitiker ihre Ämter nieder, weil sie nahezu täglich bedroht und beschimpft werden. Auch körperliche Gewalt gehört dort mittlerweile zum Alltag. Es ist normal geworden, nonverbale Kommunikation anzuwenden, vulgo zuzuschlagen. Die Hemmschwellen dafür sind in den letzten Jahren massiv gesunken.
Dazu kommt ein ungeheurer Neid und Hass auf Menschen, die beispielsweise Bürgergeld beziehen. Nun soll eine Arbeitspflicht eingeführt werden, obwohl nur eine kleine Minderheit die Gegebenheiten ausnutzt. Wer ernsthaft annimmt, dass man von den Sozialleistungen besser als von Arbeit leben kann, vergisst, dass Kindergeld irgendwann nicht mehr bezahlt wird. Und spätestens dann rechnet sich das nicht so einfach. Vielleicht liegt diese allgemeine Verrohung auch daran, dass wir zu wenig direkte soziale Kontakte haben. Immer mehr Menschen arbeiten im Home-Office und bestellen nur noch im Internet. Es mangelt an sozialen Interaktionen. Die Zahl der psychisch Kranken steigt alarmierend an, immer mehr Menschen fühlen sich einsam.
Geschäfte schließen, die Innenstädte veröden. Der Einzelhandel befindet sich in seiner letzten Krise, denn die Kunden verhandeln immer weniger von Angesicht zu Angesicht. Die Wochenmärkte leeren sich zusehends. Für das letzte Kaufhaus in Magdeburg gibt es bereits Notfallpläne der Stadt.
Ich kenne eine normale 14-Jährige, die nicht mehr zur Schule gehen, sondern im Homeschooling unterrichtet werden möchte, weil sie mit den meisten ihrer Mitschülerinnen nur bedingt zurechtkommt. Auch hier wird nicht mehr verhandelt und sozial interagiert, um die eigene Position zu finden und zu festigen, sondern ausgewichen. Wir kommunizieren zu wenig miteinander, sondern gegeneinander und übereinander. Wir brauchen dringend weniger Aggression und wieder mehr Achtung voreinander. Wir brauchen, ganz banal, einen inneren Frieden, um zu einem äußeren zu gelangen. Ja, so viel Pathos sei erlaubt, wir brauchen mehr Liebe.
Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 247, 10. Januar 2024