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Die Welt ist nicht genug!

Thomas Wischnewski

Die Menschheit hat mit der Online-Welt eine neue, wirkmächtige Welt geschaffen. Inzwischen erscheint vieles durch die Virtualität verzerrt, unbeherrschbar und es entstehen offenbar dort Differenzen, wo sie eigentlich überwunden werden sollten.

In der jüngsten Digitalstudie der Postbank von Ende Juni heißt es: „Jugendliche zwischen 16 und 18 sind in Deutschland fast 64 Stunden in der Woche im Internet unterwegs. Im Vergleich zum Vorjahr – da waren es noch 67,8 Stunden – ist die Internetnutzung abermals gesunken. Sie liegt jedoch noch immer deutlich über dem Vor-Pandemie-Niveau: 2019 verbrachten die 16- bis 18-Jährigen noch 58 Stunden online und somit fast sechs Stunden weniger als in diesem Jahr. Mädchen verbringen insgesamt mehr Zeit im Internet als Jungen – besonders intensiv mit dem Smartphone. Männliche Jugendliche verwenden im Vergleich häufiger den Desktop-PC. Weibliche Jugendliche surfen 67,2 Stunden pro Woche im Netz. Damit bringen sie es auf mehr Online-Zeit als männliche Gleichaltrige, die 60,3 Stunden pro Woche im Internet sind.“


Eine Woche hat 168 Stunden. Berechnet man für Schlafen, Essenszeiten und die Körperhygiene pro Tag zehn Stunden, verbleiben ergo bei jungen Frauen gut 30 Stunden für reale Interaktionen – Schule, Treffen mit Freunden, Hobbys wie Sport oder Musizieren. Die Ergebnisse solcher statistischen Erhebungen machen betroffen und werfen Fragen auf. Was macht die viele Zeit vor digitalen Inszenierungen aus Menschen und deren Entwicklung? Kann so ausreichend soziale Verantwortung entstehen? Wird das Geschehen in der Welt angemessen interpretiert? Entstehen Defizite bei der realen Interaktion zwischen Menschen?

 

500 Mio. Stunden pro Stunde

 

Was treibt diese Entwicklung an? Dazu ein paar Zahlen: Knapp fünf Milliarden Menschen sind Nutzer sogenannter Social-Media-Plattformen. Allein zwei Milliarden davon tummeln sich pro Monat bei YouTube. Die tägliche Wiedergabedauer der Videoplattform beträgt eine Milliarde Stunden. Pro Stunde werden 500 Millionen Stunden neuer Inhalt bei YouTube hochgeladen. Beim kostenlosen Instant-Massaging-Dienst „Snapchat“ werden täglich fünf Milliarden „Snaps“ verschickt. Bei „Twitter“ sind es 9.000 Tweeds pro Sekunde. „Instagram“, „Pinterest“, „LinkedIn“ und „TikTok“ vereinen zusammen aktive 12,8 Milliarden Nutzer monatlich. über 50 Milliarden Bilder und Videos werden auf diesen Plattformen täglich geteilt. Bei „Instagram“ werden sekündlich 1.074 Bilder gepostet, das sind 92.793.600 pro Tag. Rund eine Stunde täglich verbringen Nutzer bei „Instagram“.


Diese gigantischen Zahlen vermitteln einen Eindruck darüber, welche Bedeutung diese Medien im Leben von Menschen eingenommen haben und sie erklären, warum sie eine gewaltige Gelderzeugungsmaschinerie sind. Alles, wofür Menschen Lebenszeit geben, erzeugt einen Wert. Im Prinzip sind alle Wertschöpfungsketten im übertragenen Sinn Zeitdiebe, nicht nur Online-Angebote, auch klassische Medien oder Zeitungen wie diese. Selbst Reisen, Restaurantbesuche oder alle anderen Freizeitangebote erzeugen ihre wirtschaftliche Bedeutung aufgrund der Nutzungszeit von Menschen. Die anfallenden Entgelte sind letztlich nur ein Tauschäquivalent für Zeit, genauso wie man für seine absolvierte Arbeitszeit einen Lohn erhält. 


Was jedoch seltener ins Bewusstsein rückt, ist die Frage danach, wie viel Wirklichkeit und damit Verstehbarkeit über die Welt bzw. das Leben der Menschheit kann die Flut künstlicher Bilder, Videos und immer häufiger gesprochener Informationen vermitteln. Vor allem bei sogenannten Shitstorms oder ausufernden Debatten über ein bestimmtes Thema kann man beobachten, dass die Diskussionsschwemme meistens mit der realen Bedeutung eines Ereignisses wenig gemein hat. Die überwiegende Mehrheit aller Disputanten war nie wirklich dabei, sondern interpretiert aus moralischen Vorstellungen und vermittelten Informationen, die in der Regel auch nur von Nicht-dabei-Gewesenen erzeugt wurden. Und so weiter. Ein historischer Vergleich: In einem frühen Menschheitsstadium, als unsere Vorfahren bereits das Feuer gebändigt hatten, sollen sie um die Feuerstelle herumgesessen und den Schilderungen gelauscht haben, die jemand exklusiv erlebt hatte bzw. die auch nur vom Hörensagen weitergetragen wurden. Heute lodern also Lagerfeuer milliardenfach und darum sitzen alle und erzählen sich Geschichten über Geschehenes, bei dem niemand selbst dabei war. Dazu mischen sich noch wiederum milliardenfach Privatdokumentationen aus eigenen Lebensmomenten – Posts von Urlaubsreisen, Freizeitbeschäftigungen oder anderen privaten Ereignissen, die eigentlich nichts mit dem Leben derer, unter dessen Augen sie geraten, zu tun haben, außer vielleicht ein paar realer Bekannter oder Verwandter. 


Es muss angenommen werden, dass die tausendfache tägliche Ansicht solcher Bilder und Videos Sichtweisen erzeugt, die sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen. Anders ist die oft als Flächenbrand wahrnehmbare Debatte über ein anzunehmendes Fehlverhalten – wie das beispielsweise gerade beim Rammstein-Sänger Till Lindemann sichtbar wurde – nicht zu erklären. Und solche Moralaufschreichöre lassen parallel stattfindende Schrecken wie das Bomben, Morden und der Terror, wie die wahrscheinlich permanent im Krieg zwischen Ukrainern und Russen passieren, in der angemessenen Bedeutung viel kleiner wirken.

 

Die Entfernung vom Ursprung

 

Sind wir heute wegen einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung mit Informationen aus hunderten und kaum zu überprüfenden Quellen tatsächlich besser informiert? Ein bestimmter Aufschrei mag nach wenigen Tagen oder Wochen verebben, aber oft wird er nur durch eine neue Empörungswelle weggeschwemmt. Mit der Alltagsrealität der Mehrheit haben heutige mediale Entgrenzungen nichts zu tun. Es muss ebenso kritisch festgestellt werden, dass aus diesen künstlichen Hyperbewertungserscheinungen Anschlussdebatten entstehen, die sich weit vom Ursprung eines Ereignisses entfernt haben. Man darf also annehmen, dass über der Lebensrealität längst eine undurchdringliche Nebelsphäre an Vorstellungen und Interpretationen entstanden ist, die sich weit ausufernd über alles Reale erhoben hat. 


Die Handlung des Bond-Filmes „Die Welt ist nicht genug“ hat zwar nichts mit den vorgenannten Beschreibungen zu tun, bezieht sich aber dennoch auf den Anspruch nach Macht und Einfluss. Solchen Ansinnen begegnet man in der Virtualität natürlich auch. Sie zeigen sich in politischen, ideologischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Auseinandersetzungen. Echte Debatten mit einem vielfältigen Argumentenaustausch finden online maximal unter wenigen Interessierten statt. Im Schaum der allgemeinen Diskussionen existieren nur Polarisierung und Grabenkämpfe.

 

Gefangenes Messwesen Mensch

 

Häufig hört man, dass aus den Vernetzungspotenzialen heraus die Chance entstehen sollte, gemeinsame Lösungen für die Probleme der Menschheit zu finden. Es erscheint oft genug das Gegenteil. Die Differenzen und Gegenpositionen überschatten Lösungsansätze. Menschen könnte man auch als Messwesen bezeichnen. Alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, führt automatisch zu Bewertungsprozessen. Ob unsere Umgebung zu kalt oder zu warm ist, ob etwas laut oder leise ist, größer oder kleiner – alles fließt in den Bewertungsapparat Gehirn ein und erzeugt dort Interpretationen zu den bewusstgewordenen Unterschieden und Abständen. Genauso verarbeiten wir natürlich inhaltlich erlebte Differenzen. Da alles in Bewegung ist, nie etwas in gleichbleibender Harmonie bleiben kann, sind Differenzen eines der bestimmenden Bewusstseinstreiber. Hinzu kommt, dass Drogen wie Alkohol oder Nikotin an Rezeptoren im Hirn andocken und möglicherweise Belohnungssimulationen erzeugen. Informationen – unabhängig von ihrem Inhalt – tun dies gleichermaßen. Wir hängen also an der Droge Internet, dass mit seinen Inszenierungen auf den inzwischen mit uns verwachsenen Smartphones das Hirn permanent in einen neuen Hunger für angeblich bedeutsame Neuigkeiten erzeugt. 


Ein negatives Szenario der oben beschriebenen Feststellungen könnte sein, dass sich zumindest Teile der Menschheit – wenn nicht sogar ein Großteil – von einstigen Gewissheiten entfernt. Die real erlebte Welt ist nicht mit der virtuellen identisch. Im Gegenteil, alles, was online mehrere Weitertragungen durchlaufen hat, ist weit vom Ursprung einer Tatsache entfernt. Auch Medien spielen hier oft genug eine destruktive Rolle. In ihrer Gesamtheit tragen sie dazu bei, dass Tausende Berichte über ein Ereignis, das eigentliche Geschehen von seiner Quelle bzw. angemessenen Bewertung entkoppeln. Und ob Nutzer daraus Einsichten entwickeln, die auf die Wirklichkeit passen, kann bezweifelt werden. Jedenfalls zeigt die heutige Online-Welt dafür erste Belege. Die Menschheit hat eine Welt über die Welt geschaffen, und das allein dadurch, dass Milliarden von Menschen einzig mit ihren geistigen Möglichkeiten daran teilnehmen.

Seite 4-5, Kompakt Zeitung Nr. 236

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